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Teseo La Marca
Veröffentlicht
am 26.08.2024
LebenIsraelisches Friedensdorf

„Wir haben den Crash-Test bestanden“

Veröffentlicht
am 26.08.2024
Im Friedensdorf Neve Shalom/Wahat as-Salam leben jüdische und palästinensische Israelis eng zusammen. Was die israelische Gesellschaft von ihnen lernen kann.
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Es gibt ein Hotel, ein Schwimmbad, von Bäumen gesäumte Gassen. Auf den ersten Blick unterscheidet Neve Shalom-Wahat as-Salam nichts von den umliegenden Dörfern, hier in den Hügeln westlich von Jerusalem. Und doch ist es in Israel das einzige seiner Art: eine Gemeinschaft, in der rund 350 Juden und Palästinenser, alle mit israelischer Staatsbürgerschaft, Seite an Seite leben. Das Friedensdorf wurde im Jahr 1969 durch den jüdischen, zum katholischen Christentum konvertierten Priester Bruno Hussar gegründet.

Mit dem 7. Oktober ist das Experiment unter Druck geraten. Mehr denn je fühlt sich das Leben in Neve Shalom/Wahat as-Salam – was übersetzt „Oase des Friedens“ bedeutet – so an, als würde es zu einer Parallelwelt gehören, die mit dem Rest des Landes wenig zu tun hat. Außerhalb des Dorfes sehen viele die Friedensaktivist:innen als Verräter:innen, wenn nicht sogar als Feinde. Und doch macht das Projekt Hoffnung. Nir Sharon, der Direktor der Bildungseinrichtungen des Dorfes, erzählt im Interview, wie die Bewohner:innen im Dorf mit Terror und Krieg umgehen und was es braucht, damit jüdische Israelis und Palästinenser:innen einander näher kommen. 

Von Neve Shalom/Wahat as-Salam bis zur Grenze zu Gaza sind es nur etwa 60 Kilometer. Sieht und hört man dort etwas vom Krieg?
Wir hören manchmal das Getöse der Kampfjets und das ferne Rumoren der Luftschläge. In den ersten Tagen des Krieges hörte man es täglich, jetzt nur noch ab und zu. 

Im Dorf Frieden, draußen Krieg. Was macht das mit euch?
Der Krieg ist nicht nur akustisch nahe. In unserer Gemeinschaft gibt es Menschen, deren Angehörige als Geiseln in Gaza festgehalten werden. Andere haben ihre Angehörigen bei israelischen Luftanschlägen verloren. Unsere Gemeinschaft basiert auf Dialog, Gerechtigkeit, Gleichberechtigung, Bildung. Es ist sehr leicht, in einer solchen Zeit die Hoffnung zu verlieren, aber wir tun unser Bestes, an diesen Werten festzuhalten. 

Nir Sharon, Direktor der Bildungseinrichtungen des Friedensdorfes.

Was bedeuten diese Werte konkret?
Das Fundament der Gemeinschaft sind unsere Bildungseinrichtungen, eine Grundschule, ein Kindergarten und die Friedensschule, die auch außerhalb des Dorfes Kurse und Workshops zum Israel-Palästina-Konflikt gibt. Wir haben da Leute, die Experten in der Gruppenmoderation sind. Sie gehen in Firmen und Organisationen, zum Beispiel Hochschulen oder Krankenhäuser, wo Israelis und Palästinenser zusammen arbeiten. In den letzten Monaten ist die Nachfrage nach diesen Kursen explodiert.

Warum?
Um eine Umgebung zu schaffen, in denen sich die Menschen wieder sicher fühlen. Das Bedürfnis haben wir auch selbst gespürt. In der Woche nach dem 7. Oktober gab es intensive Dialog-Sessions für die ganze Gemeinschaft. Wer wollte, konnte teilnehmen. Es ging darum, Ängste und Gefühle zu teilen, aber auch zu kommunizieren, was wir voneinander erwarten, wie wir einander helfen können. 

Finden diese Dialogrunden spontan statt oder sind sie geplant?
Natürlich sprechen wir auch privat miteinander über den Krieg und die Politik. Aber die Dialogrunden werden durch professionelle Gruppenmediatoren geleitet. In der ersten Woche nach dem Krieg kamen diese Mediatoren, jeweils ein palästinensischer und ein jüdischer, von außen. Es war eine besonders sensible Zeit und besonders wichtig, möglichst offen miteinander zu sprechen. Deshalb wollten wir nicht, dass die Mediatoren persönlich involviert sind. 

Gab es diese Dialogrunden auch vor dem 7. Oktober?
Ja, aber weniger oft und mit anderer Zielsetzung. Während es vorher mehr um gesellschaftliche Fragen und unsere Mission ging, drehten sich die Gespräche nach dem 7. Oktober vor allem um unsere eigenen Gefühle und Ängste. Der Schock hat uns gezwungen, uns eine Zeit lang auf uns zu konzentrieren.

Gewalt wird diesen Konflikt nicht lösen, sondern nur verschärfen.

Und jetzt?
Es geht wieder verstärkt um die Rolle, die wir vor dem Hintergrund des Kriegs in der Gesellschaft haben. Wir können es uns nicht leisten, uns permanent nur auf uns zu konzentrieren. Wir leben nicht nur miteinander, weil es schön ist, sondern weil wir einen Auftrag haben. Die Brutalität des Gaza-Kriegs ist schwer auszuhalten, die Gewalt auf beiden Seiten immens. Wir glauben trotzdem, dass Dialog der einzige Weg ist, damit wir alle in dieser Region leben können. 

Treffen bei euren Dialogrunden auch unterschiedliche Meinungen aufeinander?
Ja, klar. Der 7. Oktober war ein Schock, da kam viel aus den Menschen heraus. Jeder hat seine eigene Kultur, seine eigene Religion, seine eigenen Erfahrungen. Da treffen auch unterschiedliche Sichtweisen aufeinander. 

Welche zum Beispiel?
Ein großer Streitpunkt ist zum Beispiel: Wie kann der Krieg in Gaza enden und welchen Beitrag können wir leisten? Manche sagen, wir sollten zu Demos gehen, andere meinen, wir sollten keine Steuern mehr zahlen. 

Das klingt nicht nach tiefen Gräben.
Die Meinungen im Dorf gehen weniger stark auseinander als im Rest des Landes. Während die jüdisch-israelische Gesellschaft den Krieg in Gaza weitgehend unterstützt, herrscht im Dorf der Konsens, dass Gewalt keine neue Gewalt rechtfertigt. Hamas ist eine Terrororganisation, und es gibt auch in Neve Shalom/Wahat as-Salam Menschen, die sagen, Israel habe das Recht auf Selbstverteidigung und Hamas könne nicht Teil einer künftigen Lösung sein. Wir sind uns aber alle einig, dass dies nicht auf Kosten unschuldiger Frauen, Kinder und Männer geschehen kann. Es muss andere Wege geben, mit Hamas fertig zu werden. Gewalt wird diesen Konflikt nicht lösen, sondern nur verschärfen.

In Dialogrunden sprechen die Bewohner:innen über ihre Gefühle und handeln ein gemeinsames, verbindendes Narrativ des Konflikts aus.

Mit dieser Position standet ihr schon vor dem Krieg im Abseits. 
Der Druck auf Friedensaktivisten hat sich seit dem 7. Oktober noch deutlich erhöht. Die israelisch-jüdische Gesellschaft begreift sich im Krieg, gegen die Hamas, gegen weltweiten Antisemitismus. Es gibt viele Feinde und manche zählen auch uns dazu. 

Wie hast du persönlich diesen Druck erlebt?
Als Friedensaktivist habe ich mich noch nie so am Rand der Gesellschaft gefühlt wie jetzt. Sogar in Gesprächen mit Freunden und Familie merke ich, dass meine Positionen zum Krieg als persönlicher Angriff wahrgenommen werden. Der Tod und die Brutalität werden als notwendiges Übel angesehen, um diesen Krieg zu gewinnen. Man rechtfertigt die Gewalt, um sie besser aushalten zu können. Wenn dann jemand kommt und sagt: Nein, diese Gewalt ist nicht gerechtfertigt, dann ist das für viele ein Affront. 

Kannst du dich außerhalb des Dorfes sicher fühlen?
Als Jude fühle ich mich im israelischen Kernland sicher. Anders ist es, wenn ich in israelische Siedlungen im Westjordanland reisen würde. Das sind militante Leute, sie sehen jeden, der mit Palästinensern solidarisch ist oder an Frieden glaubt, als Feind. Auch die Teilnahme an regierungskritischen Demonstrationen kann gefährlich werden. 

Und deine palästinensischen Kolleginnen und Kollegen?
Ihnen geht es viel schlimmer. Sie stehen grundsätzlich unter Generalverdacht. Jeder Post, der auf das humanitäre Leid in Gaza aufmerksam macht, wird schon als Unterstützung für die Hamas ausgelegt. Menschen wurden schon festgenommen und verhört, weil sie „Rettet die Kinder“ und Ähnliches gepostet haben, ihnen wurde Unterstützung einer Terrororganisation vorgeworfen. Es ist keine leichte Zeit für Friedensaktivisten in Israel, wir spüren, dass man uns mundtot machen will.

Wenn wir nicht weiterhin tun würden, was wir als Gemeinschaft schon seit 45 Jahren tun, hätte der 7. Oktober uns zerschmettert.

Ihr hattet nach dem 7. Oktober für einige Wochen Nachtwächter rund ums Dorf eingesetzt. Warum?
In den Tagen nach dem 7. Oktober hatten viele Dörfer diese Wachen. Die Angst war groß, dass sich noch Hamas-Kämpfer auf israelischem Boden aufhalten würden. Bei uns kam die Angst vor rechten Extremisten aus Israel hinzu, die gegen palästinensisch bewohnte Dörfer Racheaktionen planten. 

Es klingt, als hätte sich eure Gemeinschaft gegenüber dem Krieg als resilient erwiesen.
Wenn wir nicht weiterhin tun würden, was wir als Gemeinschaft schon seit 45 Jahren tun, hätte der 7. Oktober uns zerschmettert. Ohne die Dialogrunden und das Aushandeln eines inklusiven Narrativs, ohne einander zu kennen und zu verstehen, hätten der Terror und der Krieg unser Experiment beendet. Der 7. Oktober war sozusagen ein Crash-Test. Jetzt können wir sagen: Wir haben ihn bestanden.

Gibt es bestimmte Lehren, die die israelische Gesellschaft von euch übernehmen könnte?
Ich sage nicht, dass die israelische Gesellschaft nach dem Modell von Neve Shalom/Wahat as-Salam funktionieren soll. In unserem Dorf zu leben, das bedeutet, jeden Tag Kompromisse einzugehen – in der Erinnerungskultur, in der Religion, im Geschichtsbewusstsein. Dadurch zeigen wir: Es ist möglich, mit dem Anderen zusammenzuleben, ohne die eigene Identität aufzugeben. Was wir machen, erfordert sehr viel Energie und Einsatz, man kann das nicht von allen erwarten. Es ist viel einfacher, ständig unter seinesgleichen zu leben.

Aber?
Es ist gar nicht notwendig, dass jeder jüdische Israeli mit Palästinensern zusammenlebt. Aber man sollte wenigstens die Sprache, die Kultur, die Geschichte der Anderen kennen. Deshalb ist Bildung so wichtig. Das Problem in Israel ist nicht, dass man nicht miteinander lebt. Das Problem ist, dass du als Jude keinen Palästinenser triffst, bis du zur Armee gehst. Dass du als Palästinenser keinen Juden triffst, bis du zur Universität gehst. Es gibt fast keine Kontaktmöglichkeiten.

Warum braucht es diesen Kontakt?
Wenn du den Anderen nicht kennst, ist es einfach zu sagen: Die Palästinenser sympathisieren alle mit der Hamas. Oder: Die jüdischen Israelis sind alle wie die Siedler. Es braucht die Interaktion, die Intimität eines gemeinsamen Umfelds, sei es die Schule oder der Arbeitsplatz, um diese Mauer aus Ignoranz zu durchbrechen. Ignoranz gegenüber den Anderen ist der Ursprung von Feindseligkeit.

Wo sehen Sie die Verantwortung, diesen Kontakt herzustellen: beim Einzelnen oder bei der Regierung?
Diese Regierung hat nicht das geringste Interesse, Gelegenheiten des Kontakts und des Austausches zu schaffen. Sie glaubt an die jüdische Vorherrschaft und anhaltenden Krieg. Dadurch liegt die Verantwortung im Moment auf der Seite der Bürgerinnen und Bürger.

Welche Verantwortung tragen westliche Staaten – Israels Verbündete – in diesem Konflikt? 
Israels westliche Verbündete hätten die Möglichkeit, durch diplomatischen Druck diese Regierung erheblich zu beeinflussen. Ich glaube aber, dass es am politischen Willen mangelt, diesen Druck auszuüben. Westliche Staaten haben ihre eigenen Interessen. 

Wir vergessen leicht, wie schnell sich die Geschichte ändert.

Man darf nicht vergessen, dass Netanyahu und sein Kabinett demokratisch gewählt wurden. 
Das stimmt: Wenn diese Regierung den Willen einer Mehrheit der israelischen Gesellschaft verkörpert, dann sind die Möglichkeiten, einen echten Friedensprozess einzuleiten, begrenzt. Was Norwegen, Irland und Spanien gemacht haben, die Anerkennung eines palästinensischen Staates, ist ein klares Signal – aber es bleibt reine Symbolik. 

Man kann auch sagen: Gerade jetzt lassen diese Staaten Israel im Stich.
Ich weiß, dass Deutschland wegen seiner Geschichte eine noch stärkere Verpflichtung als andere Staaten spürt, mit Israel solidarisch zu sein. Bis zu einem gewissen Punkt ist diese Solidarität auch geboten. Es gibt wohl keinen Staat auf der Welt, der auf einen Angriff wie den vom 7. Oktober nicht militärisch reagiert hätte. Die Frage ist: Wie proportional fällt die Reaktion aus? Wie viele unschuldige Menschenleben kostet sie? Und was bezweckt sie überhaupt? 

Was glauben Sie?
Wenn das offensichtliche Ziel darin besteht, Netanyahu im Amt zu halten, dann könnte eine deutsche Regierung auch sagen: Wir unterstützen Israel dabei, sich zu verteidigen, aber wir unterstützen nicht eine israelische Regierung, sich zu jedem erdenklichen Preis selbst zu erhalten. Wer diese Regierung bedingungslos unterstützt, unterstützt Netanyahu, Ben-Gvir und Smotrich, aber nicht Israel – im Gegenteil.

Der 7. Oktober hat eurer Gemeinschaft nichts anhaben können. Man kann das als Grund zur Hoffnung sehen. Man kann aber auch sagen: Trotz aller Bemühungen, trotz Projekte wie Neve Shalom/Wahat as-Salam scheint der Frieden so fern wie nie. Gab es Momente, in denen Sie am Projekt gezweifelt haben?
Es wäre kurzsichtig, die Hoffnung aufzugeben. Schauen Sie sich die menschliche Geschichte an: Sie ist voll mit Konflikten, die beseitigt wurden. Wenn Sie 1945 einem Europäer erzählt hätten, dass es in 50 Jahren in Europa keine Grenzen und einen gemeinsamen Wirtschaftsraum geben würde, hätte er Sie für verrückt gehalten. Wir vergessen leicht, wie schnell sich die Geschichte ändert. Also tun wir weiter, was wir am besten können. Wenn dann eine Zeit kommt, um in Frieden miteinander zu leben, sind wir da und können unseren Mitbürger:innen zeigen, wie man diesen Frieden pflegt und nährt.

Hinweis der Redaktion: Dieses Interview ist erstmals bei Perspective Daily erschienen.

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