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Mindestens eine Straßenzeitung kennt ihr ja schon, nämlich jene, die gerade in euren Händen liegt. Weltweit gibt es aber noch viel mehr: knapp 100 Straßenzeitungen, die dasselbe Ziel verfolgen und doch einzigartig sind. Die erste Straßenzeitung entstand – wie so vieles in unserer Gesellschaft – aus einer Notwendigkeit heraus. Bereits im späten 19. Jahrhundert und zu Beginn des 20. Jahrhunderts verkauften in den USA und Europa Armutsbetroffene und Obdachlose selbst verfasste Zeitungen auf der Straße, um Aufmerksamkeit für ihre Situation zu erregen und etwas Geld zu verdienen. Mit der neoliberalen Wende im vergangenen Jahrhundert nahm die Armut in vielen Teilen der westlichen, industrialisierten Welt zu. Dies führte dazu, dass im Laufe der 1990er-Jahre immer mehr Menschen obdachlos wurden. Betroffene waren mehrheitlich Männer mittleren Alters, oftmals mit Suchterkrankungen.
Eine Kombination aus persönlichen Krisen und mangelhaft geknüpften sozialen Netzwerken führte dazu, dass diese auf der Straße landeten und es aus eigener Kraft nicht mehr schafften, ihre Situation zu verbessern – gefangen in einer sogenannten Armutsspirale. Mit dem Ziel, unmittelbare Hilfe zu leisten, entstanden erst 1989 in New York und dann 1991 in London die ersten modernen Straßenzeitungen. „The Big Issue“, die Londoner Straßenzeitung, gibt es auch heute noch, sie wird oft als Mutter aller Straßenzeitungen bezeichnet. Unabhängige Ableger davon gibt es mittlerweile sogar in Japan, Südafrika oder Australien. Auch im deutschsprachigen Raum entstanden ungefähr zur gleichen Zeit viele Straßenzeitungen. Anders als bei anderen Medien steht bei Straßenzeitungen nicht die Konkurrenz, sondern die Zusammenarbeit im Fokus: Vertreter:innen treffen sich jährlich, Inhalte werden ausgetauscht und Wissen geteilt.
Menschen eine Chance geben
Die Grundphilosophie der Straßenzeitungen ist eine sehr ähnliche: Es geht darum, auf niederschwellige Art Menschen in prekären Lebenssituationen die Möglichkeit zu geben, selbstbestimmt und in einem geschützten Rahmen ein Einkommen zu generieren und damit den Weg aus der Armut zu erleichtern. Jede Zeitung ist anders, passt sich an lokale Bedürfnisse an und definiert dementsprechend die Voraussetzungen dafür, wer beim Projekt mitmachen kann. Bei manchen Straßenzeitungen sind es immer noch eher einheimische Obdachlose, die Unterstützung suchen, bei anderen hat sich die Gruppe derer, die in den Verkauf einsteigen wollen, auch auf Migrant:innen und Geflüchtete ausgedehnt. Das System ist aber immer dasselbe: Verkäufer:innen können die aktuelle Ausgabe für einen festgelegten Preis kaufen und sie dann für etwas mehr Geld – mindestens das Doppelte – auf der Straße weiterverkaufen.
Es geht nicht um Konkurrenz, sondern um Zusammenarbeit.
Mit diesem Ansatz möchte man den Verkäufer:innen eine Tagesstruktur und die Möglichkeit geben, wieder mit ihrem eigenen Geld haushalten zu lernen und selbst Verantwortung zu übernehmen. Für manche ist der Verkauf von Straßenzeitungen eine Übergangslösung, andere finden darin eine langfristige Existenzgrundlage. Sozialarbeiter:innen helfen dabei und unterstützen sie auch in anderen Bereichen des Lebens, zum Beispiel bei der Arbeits- und Wohnungssuche. Außerdem gibt es eine Reihe von Sozialprojekten, die von Straßenzeitungen mitgetragen werden: von obdach- und wohnungslosen Menschen organisierte Stadtführungen, Straßenchöre und Kunstauktionen sowie Straßenfußball-Teams zur Teilnahme am jährlichen „Homeless World Cup“. Dabei ist es vielen Organisationen wichtig, dass die Projekte nicht hierarchisch organisiert sind. Der Fokus liegt vielmehr darauf, die Betroffenen zu empowern und ihnen möglichst viel Mitsprache und Mitarbeit in den Projekten zu ermöglichen. Manchmal wirken sie auch bei der Planung und Gestaltung der Zeitung mit oder schreiben selbst über ihnen wichtige Themen. Bei „Megaphone“ in Vancouver gründete eine Gruppe von Verkäufer:innen sogar eine eigenständige Redaktion, die vor kurzem das gewaltsame Vorgehen der Polizei gegen obdachlose Menschen dokumentierte.
Raum für Begegnungen schaffen
Während manche Zeitungen, wie zum Beispiel das „Surprise“ aus der deutschsprachigen Schweiz, in ihren Artikeln bewusst den Fokus auf Obdachlosigkeit, Armut und soziale Ausgrenzung legen, wählen andere Straßenzeitungen den Weg des Boulevard-Journalismus und berichten über Berühmtheiten in ihrem Land. Einerseits, weil in manchen Kulturen das Thema Armut schwerer in der Öffentlichkeit thematisiert werden kann, andererseits weil man sich durch leichter verdauliche Inhalte höhere Verkaufszahlen erhofft. Andernorts, zum Beispiel in Südamerika, fokussieren Straßenzeitungen auf Kulturthemen und berichten über Film, Literatur und Kunst. Der thematische Fokus hängt natürlich auch davon ab, wie häufig eine Zeitung erscheint: „The Big Issue“ ist zum Beispiel wöchentlich auf den Straßen erhältlich, andere erscheinen alle zwei Wochen, einmal im Monat oder sogar nur zweimal im Jahr.
In jedem Fall ist es oft ein Balanceakt zwischen Ressourcen, Arbeitsaufwand und journalistischer Qualität. Die Redaktionen setzen sich meist aus einer Mischung aus Berufsjournalist:innen und Freiwilligen zusammen, welche die Zeitung mit ihren Texten füllen und unterstützen. In manchen Fällen werden auch andere Gruppen mit einbezogen: Bei „Hempels“ in Schleswig-Holstein werden zum Beispiel Schreibwerkstätten in Gefängnissen organisiert und die Texte der Gefangenen veröffentlicht. Mit dem Kauf einer Zeitung schlagen die Leser:innen zwei Fliegen mit einer Klappe. Einerseits unterstützen sie damit die Verkäufer:innen direkt und andererseits kaufen sie Inhalte, in denen viel Passion und Arbeit steckt. Außerdem schafft die Straßenzeitung, anders als andere Sozialprojekte, etwas Besonderes: einen direkten Kontakt zwischen Armutsbetroffenen und der Mehrheitsbevölkerung. Dies schafft Raum für kurze persönliche Begegnungen, in denen Menschen mit unterschiedlichen Hintergründen zusammenkommen. Oft entwickeln sich dabei enge Beziehungen und Freundschaften. Viele Verkäufer:innen haben Stammkund:innen, die auch über das Kaufen der Straßenzeitung hinaus für sie da sind.
Besser gesehen werden
Begegnungen im öffentlichen Raum, die vielerorts in Europa gar nicht so häufig sind, helfen nicht nur gegen Einsamkeit, sondern tragen dazu bei, Armut und soziale Ausgrenzung in der Gesellschaft sichtbar zu machen. Strukturelle Armutsverwaltung ist zudem oft an strikte Bedingungen gebunden. Straßenzeitungen sind eine Alternative dazu, da sie auf den Prinzipien der Niederschwelligkeit und Solidarität aufgebaut sind. Es geht weniger darum, andere von oben herab zu behandeln und Charity-Arbeit zu leisten, sondern vielmehr sollen Hierarchien aufgebrochen werden, um mit Respekt und flexiblen Ansätzen unterstützend tätig zu sein. Eines steht fest: Straßenzeitungen sind so unterschiedlich wie ihre Autor:innen, Verkäufer:innen, Leser:innen und ihr jeweiliger lokaler Kontext. Und wir als zebra. sind stolz darauf, Teil eines solch bunten, engagierten Netzwerkes zu sein und unseren kleinen Teil zu einer gerechteren Gesellschaft beitragen zu können.
Text: Anna Palmann
Dieser Text erschien erstmals in der Straßenzeitung zebra. (Ottobre 2024 | 100).
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