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Der Soziologe, Politikwissenschaftler und Zukunftsforscher Roland Benedikter hat vom 27.-28. November am Zukunftsforum 2023 in Dubai teilgenommen. Es war das größte Treffen von Zukunftswissenschaftler:innen weltweit. Die fundamentalen Umbrüche, die der Menschheit in Technik und Gesellschaft bevorstehen, werden auch für Südtirol ein Thema sein, berichtet er. Vor allem brauche es eine bessere Zukunftsbildung, damit die Menschen die Zukunft – auch die ganz eigene persönliche – aktiv mitgestalten können. So erzählt Benedikter im Interview, worüber die wichtigsten Köpfe der Zukunftsforschung diskutiert haben. Und verrät, welche die größten Veränderungen sind, die in den nächsten zehn Jahren auf uns zukommen.
BARFUSS: Was war das große Thema auf der Konferenz?
Roland Benedikter:Was die Zukunft bringen wird. Genauer: Welche verschiedenen Zukünfte uns – gleichzeitig – erwarten. Man kann den Charakter der Gegenwart mit dem Akronym TUNA zusammenfassen. Es steht für Turbulenz, Ungewissheit, den immer stärkeren Vorrang des Neuen und für Ambivalenz, also Mehrdeutigkeit. Der Ansatz TUNA kommt ursprünglich aus dem Leadership Programm der Universität Oxford und will Entscheidungsträger:innen, vor allem auch jungen „Millennials“, helfen, unsere Zeit schneller und besser zu erfassen und zu gestalten. Auch UNO, UNESCO und OECD arbeiten damit – ebenso wie die Dubai Future Foundation, die die Konferenz organisiert hat.
Was bedeutet diese Zeitdiagnose?
In Dubai waren wir uns einig: Das wichtigste an TUNA ist der immer stärkere Einfluss des Neuen. Das gilt es besser zu begreifen – um es in eine Wissenschaft der Zukunft und eine Bildung für die Zukunft zu fassen. Das Neue entsteht aus Krisen wie der Pandemie und Kriegen, nun auch in Europa. Solche Brüche stülpen vieles gleichzeitig um. Drittens geht die geopolitische Entwicklung von einer Globalisierung für alle zu zwei miteinander konkurrierenden Globalisierungen von zwei neuen Blöcken über. Es ist jetzt eine Globalisierung der Autokratien (Russland, China, Iran, die Welt geschlossener Gesellschaften) gegen die Demokratien (Europa, USA, die Welt offener Gesellschaften). Das schafft zwei verschiedene Systeme, die miteinander konkurrieren, und eine Zukunftslage, in der wir uns positionieren müssen.
Worin besteht die besondere Bedeutung des Neuen noch?
Im tiefen Umbruch der digitalen Revolution, die die gesamte Arbeits- und Lebenswelt neu regeln wird. Das wird uns in den kommenden Jahren zwingen, das ganze System von Produktion, Profit und gesellschaftlicher Verteilung neu zu konzipieren – sicher auch in Südtirol, auch wenn wir zum Glück bisher meist von „sanfter Evolution“ statt „schneller Revolution“ profitiert haben. In Dubai wurden aber auch, noch konkreter, neue Essensmodelle vorgestellt: Eier, Milch und Schokolade, die vollständig im Labor erzeugt wurden. Das soll dazu beitragen, das Tierleid zu mindern und die Umwelt zu schonen. Wie der Konferenz-Sprecher Jamie Metzle meinte: „Die Welt sollte mehr Laboratoriums-Lebensmittel essen.“ Die Frage ist, wie das mit der hohen Qualität der Südtiroler Lebensmittel vereinbar ist. Diese Frage muss offen und gesellschaftlich ausgehandelt werden, wenn dieser Trend weltweit kommen sollte.
Die Erweiterung der Menschheit in den Weltraum kann sowohl die Bevölkerungs- und Ressourcenfrage verändern, wie uns spirituell in eine neue Situation stellen, weil für mehr Menschen neue, erweiterte Erfahrungen möglich werden.
Roland BenedikterEin anderes Thema war die wohl anstehende Besiedelung des Weltraums.
Ja. Das haben in Dubai die Astro- und Kosmonauten der Internationalen Raumstation erklärt – und darauf hingewiesen, dass das der Menschheit hoffentlich einen neuen Teamgeist einhauchen wird, der Konflikte abschwächt oder beendet, weil vom Weltraum aus der ganze Planet sichtbar wird. Die Erweiterung der Menschheit in den Weltraum kann sowohl die Bevölkerungs- und Ressourcenfrage verändern, wie uns spirituell in eine neue Situation stellen, weil für mehr Menschen neue, erweiterte Erfahrungen möglich werden. Auch diese Fortschritte werden von Aushandlungsprozessen begleitet sein. Es ist also nichts unumstritten – wie das in Zukunftsprozessen praktisch immer der Fall ist.
Wie kann man die wichtigsten Ergebnisse der Zukunftskonferenz zusammenfassen?
Die Technologierevolution – etwa im Bereich von KI – wird in den nächsten zehn Jahren praktisch alles verändern, was wir bisher im Technologiebereich kannten. Wenn wir durch neue Technologien immer mehr agieren und gestalten können, werden wir auch immer aktiver. Das wird, gemeinsam mit höher entwickelten Technologieformen und der globalen Bevölkerungszunahme bis etwa Mitte des Jahrtausends immer mehr Energie nötig machen. Darauf sind wir bislang schlecht vorbereitet. Niemand weiß, wofür all der Strom allein für die Elektrifizierung von 3 Milliarden Automobilen herkommen soll. Elon Musk warnt immer wieder davor, dass „schon bald das Licht ausgehen“ könnte. Heute haben 3 Milliarden Menschen keinen Zugang zu leistbarer Energie, 1 Milliarde gar keinen. Hier gilt es neue Formen zu finden, unter anderem durch erneuerbare Energien und den Weltraum.
Auch die Medizin wird sich stark verändern.
Sie wird laut Zukunftskonferenz sogar zu einem der wichtigsten Technologie-Innovationsbereiche werden. Medizinisch implantierte Chips könnten Untersuchungen 10fach verkürzen, zum Beispiel einen Infarkt vorhersagen oder in 10 Minuten statt in bisher 10 Stunden feststellen. Künstliche Intelligenz hat das Potenzial, die Kosten von Medikamenten um 1 Milliarde und von technischen Geräten um hunderte Millionen Dollar zu reduzieren. Manche Expert:innen meinen, technologische Implantate in unseren Körpern werden Medikamente teilweise ersetzen, so zum Beispiel Miniroboter, die in unseren Blutkreisläufen agieren und ständig „die Venen säubern“. Weil das unbemerkt von uns geschieht, sind damit umfassende ethische Fragen verbunden. Weitere globale Epidemien sollten laut Zukunftskongress auf jeden Fall vermieden werden, denn sie kosten die Welt-Gesundheitssysteme mindestens 1 Billion Dollar.
Die „vollständig kontrollierte Landwirtschaft“ könnte umfassend Wasser und Ressourcen sparen und nach Schätzungen von spezialisierten Zukunftsexpert:innen in den kommenden Jahren Werte im Umfang von bis zu 20 Billionen Dollar erzeugen.
Roland BenedikterWie sieht die Zukunft der Landwirtschaft aus?
Die „vollständig kontrollierte Landwirtschaft“ (Total Controlled Environment Agriculture) besteht darin, dass das Wachstum jedes Grashalms und jeder einzelnen Knospe rund um die Uhr in Echtzeit von KI kontrolliert und gesteuert wird. Das könnte kein Mensch leisten. Das könnte umfassend Wasser und Ressourcen sparen und nach Schätzungen von spezialisierten Zukunftsexpert:innen in den kommenden Jahren Werte im Umfang von bis zu 20 Billionen Dollar erzeugen.
All das erfordert auch einen Mentalitätswandel. Früher sprach man von VUCA – also von der Gleichzeitigkeit von Volatilität, Ungewissheit, Komplexität und Mehrdeutigkeit.
Ja. Wir befinden uns in vielen Bereichen in Umbrüchen, wie sie hauptsächlich durch neue Technologien möglich werden und so bisher nicht existierten. Das zwingt uns, auch manche unsere Einstellungen zu ändern. Wegen der vielen Krisen der jüngsten Jahre wurde von VUCA zu TUNA übergegangen. Dabei wurden aber letztlich nur zwei Leitbegriffe ausgetauscht, und das sagt im Grunde schon alles. Turbulenz trat an die Stelle von Volatilität, also schneller Veränderbarkeit. Neuigkeit trat an die Stelle von Komplexität. Spannend ist vor allem der Austausch von Komplexität durch Neuigkeit. In Dubai waren sich die Teilnehmer:innen einig: Die kommenden Jahre werden vor allem durch einen starken Neuigkeitsdrang gekennzeichnet sein. Komplexität kann statisch sein, Neuigkeit ist dynamisch. Die Zukunft wird Komplexität mit Neuigkeit verbinden. Das ist für alle Beteiligten in der Gesellschaft – Entscheidungsträger:innen, Wissenschaft, Bürger:innen – eine neue Ausgangslage.
Ist unsere Gesellschaft für den steigenden Einfluss des Neuen bereit?
Bislang in vielen Bereichen noch zu wenig. Einer der interessantesten Punkte für die kommenden Jahre wird sein, wie die Gesetzgebung mit den neuen Möglichkeiten schneller und stärkerer Zukünfte umgeht. Bislang sind die meisten Gesetzgebungssysteme, seien sie nun demokratisch oder autoritär, wenig darauf vorbereitet, die neuen Bedingungen von Zukünfte-Gesellschaften zu meistern. Die Anpassung der Gesetzgebungen – in Geschwindigkeit, Komplexitätsfähigkeit, Reaktions-, Differenzierungs- und Anpassungsbereitschaft – wird eine der ganz großen Herausforderungen der kommenden Jahre. Weltweit, und so auch bei uns in Südtirol.
„Entweder passt sich der Rechtsrahmen an, um flexibler zu werden und den Wandel zu fördern, oder er bleibt, wie er ist, und wird zu einem Hindernis für Entwicklung.“
Ohood Al RoumiGibt es dafür Ansätze?
Manche meinen, Künstliche Intelligenz könnte dabei helfen. Andere lehnen das ab und meinen, Gesetze auch für eine schnellere, flüssigere und flexiblere, aber auch kompliziertere und verletzlichere Welt müssten rein menschlich bleiben. Die Diskussion darüber wird spannend! In Dubai fasste das die zuständige Ministerin so zusammen: „Entweder passt sich der Rechtsrahmen an, um flexibler zu werden und den Wandel zu fördern, oder er bleibt, wie er ist, und wird zu einem Hindernis für Entwicklung… Die Regierungen sollten sich darauf konzentrieren, die digitale Mentalität ihrer Mitarbeiter zu entwickeln und gleichzeitig deren Zukunfts-Fähigkeiten aufzubauen, um sicherzustellen, dass sie für die Veränderungen in der digitalen Welt gerüstet sind.“ Obwohl das von einer autoritären Regierung kam, ist dem zuzustimmen. Wir sollten auch in unseren offenen Gesellschaften Instrumente dafür schaffen – aber demokratisch.
Welche Instrumente wären das zum Beispiel?
In Dubai ist das zum Beispiel die systematische Ausbildung von Spitzenbeamt:innen und Firmenleiter:innen in Zukunftsfähigkeit mittels eines international zertifizierten Systems, das man braucht, um bestimmte Positionen einzunehmen. Die Ausbildung dauert 6 Monate und erfolgt berufsbegleitend und mit starkem Bezug zur Praxis. Ein zweites Instrument ist die Messung der Zukunftsfähigkeit der Bevölkerung mittels eines Index, der aus 68 Parametern besteht und der auf alle Menschen des Territoriums freiwillig angewandt werden kann. Darauf aufbauend kann man gezielte Bildungsmaßnahmen in Schulen, Weiterbildungseinrichtungen und Firmen aufbauen. Und drittens gibt es einen breiten Zukunftsdialog, der die Eliten ebenso einbezieht wie die Bevölkerung und die Institutionen. Von diesen drei Instrumenten könnten wir uns in Südtirol einiges abschauen.
Was bedeutet das alles für die Bildung? Ist das, was man heute lernt, schon morgen nicht mehr aktuell?
Die ganz zentrale Botschaft in Dubai war: Wenn Technologie in den kommenden Jahren alles verändert, dann tritt Bildung ins Zentrum aller Dinge. Bildung wird noch viel, viel wichtiger als bisher! Wir benötigen Bildung und Wissen, gerade um die Zukunft, um unseren Wohlstand zu sichern und unser Land weiterzuentwickeln. Weiterentwickeln tut sich sowieso alles, ob wir es wollen oder nicht, aber wir sollten es selbst in der Hand haben. Dazu müssen wir wissen, worauf die Welt zusteuert. Viele haben zu Recht den Eindruck, die Gegenwart wird kürzer. Die neuen Technologien nehmen den Menschen Anstrengungen und Arbeiten ab. Damit kann auch ein Fähigkeitenverlust verbunden sein, der durch bessere Bildung ausgeglichen werden muss. Bildung ist deshalb zunehmend mit Zukunft, ja mit Ausbildung für mögliche, wahrscheinliche und wünschenswerte Zukünfte verbunden.
Weil Zukunft immer schneller, umfassender und tiefer einbricht, brauchen wir eine neue, deutlich umfassendere Spezialisierung auf Zukünfte in unserem Bildungssystem.
Roland BenedikterZum Beispiel?
Wir sollten zum Beispiel jedes Jahr die 10 wichtigsten Megatrends neu erkennen können, und darauf aufbauend auch die 50 wichtigsten Möglichkeiten- und Chancenräume für uns identifizieren können. Hier müssen wir globale Trends mit lokalen Anforderungen und Möglichkeiten abstimmen und sie einander anpassen. Das kann nicht „nebenbei“ geschehen, sondern ist aktive Zukunftsarbeit, die Orte haben muss, sich vernetzt und auch etwas kostet. Zweitens benötigen wir mehr Räume, wo wir „unwahrscheinliche Partner“ miteinander über Zukünfte ins Gespräch bringen – Partner, die normalerweise nicht darüber sprechen. Das kann zum Beispiel in neuartigen Spielansätzen erfolgen, die der Zukunft ein bisschen die Verkrampfung nimmt und sie auch zum gemeinsamen Lernen durch Spiel und Unterhaltung machen. Auch dazu gibt es neue Ansätze – etwa eine ganze Reihe von „ernsten Spielen“ auch für Politik und Zivilgesellschaft, die wir hier an der Eurac in Bozen sammeln.
Zusammenfassend bedeutet das?
Weil Zukunft immer schneller, umfassender und tiefer einbricht, brauchen wir eine neue, deutlich umfassendere Spezialisierung auf Zukünfte in unserem Bildungssystem. Man spricht in diesem Zusammenhang heute quer durch alle Bereiche und immer breiter von Zukunftskompetenz – sowohl auf das Ganze wie auf seine Teile bezogen. Es geht insgesamt um die Einsicht in multiple Zukünfte und um die ernst-heitere Auseinandersetzung damit. Das sollte nicht (nur) im Elfenbeinturm erfolgen, sondern ein gesellschaftlicher Prozess sein.
Das heißt?
In den kommenden Jahren wird für jeden einzelnen von uns wichtig sein, dass wir wahrscheinliche, wünschenswerte und mögliche Zukünfte kennen und voneinander unterscheiden lernen. Das heißt, auch zu berücksichtigen, dass neue Technologien uns, salopp gesagt, auch dümmer machen können, etwa der Dauernutzen von ChatGTP und anderen Chatbots und KI. Und es heißt zu berücksichtigen, dass der Einsatz solcher neuer Technologien im Bildungsbereich sehr genau durchdacht sein muss. Sie einfach pauschal anzuwenden oder verfrüht in den Schulen einzuführen ist keine gute Idee, weil noch nicht einmal die Macher:innen wissen, wohin die Reise genau geht. Das hat auch der jüngste, im November vorgestellte UNESCO-Weltbildungsbericht hervorgehoben.
Auffallend ist: Sie verwenden Zukunft meist nicht in der Einzahl, sondern im Plural.
Und zwar ganz bewusst, weil uns die heutige Zukunftswissenschaft zeigt, dass es – mehr denn je – nicht nur eine, sondern viele Zukünfte gibt. Es gibt verschiedene Zukünfte für verschiedene Menschen, aber zunehmend auch für nicht-menschliche Akteure wie die Natur: einschließlich Steine, Pflanzen und Tiere. Es geht der heutigen Zukunftswissenschaft aber auch darum zu verstehen, wie unsere Vorstellungen von Zukunft entstehen, durch welche ideologischen Überzeugungen sie möglicherweise beeinflusst sind. Und wie man sie zum Vorteil aller gemeinsam miteinander aushandeln und weiterentwickeln kann.
Haben wir auf die Zukunft, die uns erwartet, gar nicht so viel Einfluss, wie wir meinen?
Ja und nein. Es geht nicht darum, ob, sondern wie wir Einfluss auf die „vielen neuen Zukünfte“ nehmen wollen. Oder wie es auf der Konferenz in Dubai zusammengefasst wurde: Es geht nicht mehr darum, „die“ Zukunft zu beherrschen. Denn das wird immer weniger möglich sein. Die Zukunft besteht aus zu vielen Zukünften zugleich. Wir können nicht mehr alle aufeinander abstimmen oder gar hierarchisch in eine einzige Logik integrieren. Stattdessen sollten wir die Ungewissheit akzeptieren, sie umarmen, um mit ihr zu leben. Damit ist im Idealfall ein Mentalitätswandel verbunden.
Also eine neue Zukunftsmentalität?
In Maßen ja. Wir sollten nicht uns nicht darauf beschränken, kurzfristig vorauszuplanen – also „now-ists“ sein, wie das auf dem Kongress die Futuristin Amy Webb nannte –, und auch nicht darauf, nur mögliche Zukunftsszenarien zu entwerfen. Sondern wir sollten, als drittes, schon im Hier und Jetzt auf sich abzeichnende Zukunftsprozesse vor-reagieren und mit ihnen in unserer jetzigen Lebenssituation arbeiten. Wir Zukunftswissenschaftler:innen nennen das die Ergänzung von Planen und Vorausschauen um Vorwegnehmen. Was heute global entsteht, ob das gewollt ist oder nicht, ist eine Gesellschaft des Vorwegnehmens: eine Gesellschaft der „Antizipation“. Antizipation tritt immer stärker an die Stelle von Kontrolle. Damit kann gesellschaftlicher Fortschritt in eine liberalere Gesellschaft verbunden sein, wenn Regierungen das zulassen.
Das klingt nach einer grundsätzlich positiven Vision.
Ja, und zwar ganz bewusst. Wie beim Museum der Zukunft in Dubai sollte es auch bei uns um die Schaffung eines „Zuhauses der optimistischen Imagination“ gehen – ungeachtet aller Unterschiede, die uns von Dubai in demokratischer Hinsicht hoffentlich auch weiterhin unterscheiden. Wie auf der Konferenz deutlich wurde, herrschen heute zwei Haltungen im Zukunftsbereich vor: Katastrophismus und übertriebene Erwartungen. Wir müssen über beide hinaus in die Mitte: im Umweltbereich, im Technologiebereich, im Gemeinschaftsbereich. Die Rednerin Angela Wilkinson fasste das so zusammen: Wir brauchen eine „neue Mittebewegung“, die auf das schaut, was sowohl wünschenswert als auch realistisch ist. Wir brauchen einen „realistischen Optimismus“. Er ist Europa in den vergangenen Jahren ein wenig abhanden gekommen. Wir sollten ihn zurückholen, besser: neu fassen. Dazu muss die Jugend unbedingt einbezogen werden.
Wo zeichnen sich im Ausblick die größten Umbrüche ab?
Laut vielen Experten vor allem in den Bereichen Künstliche Intelligenz und Quantencomputing. Sie werden in ihrer Verbindung die Art und Weise revolutionieren, wie wir die Welt überhaupt erleben und verstehen. Wir werden übergehen von einer Welt der Linearität, Nachzeitigkeit und Abfolge des Verschiedenen zur geleeartigen Gleichzeitigkeit des Vielen. Reale und virtuelle Welten werden verschmelzen. Und das Nicht-Menschliche wird schon bald ähnlich intelligent wie der Mensch werden. Gemeinsam erzeugt das eine neue Welt, in der wir Menschen unsere Stellung neu definieren werden müssen. Das wurde in Dubai in praktisch allen Beiträgen deutlich.
Diese neue Welt: das klingt verlockend und bedrohlich zugleich.
Es werden sich viele Fragen stellen. Zum Beispiel: Wird Demokratie durch KI und Quantencomputing eher gestärkt oder geschwächt? Und: Kann es für die anstehenden Veränderungen überhaupt eine angemessene Wissenschaft von der Zukunft geben – wenn die Zukunft, im Gegensatz zu allen anderen wissenschaftlichen Gegenständen, eben dadurch gekennzeichnet ist, dass sie gar nicht existiert? Ein Beispiel für die positive Auseinandersetzung mit diesen Fragen sind zwei große Ansätze, die gerade global entstehen: das Konzept der Zukünftebildung der UNESCO (Futures Literacy) und der Ansatz des Vorwegnehmenden Innovations-Regierens der OECD (Anticipatory Innovation Governance). Die beiden ergänzen einander gut und arbeiten in der Realität auch zusammen. Im Kern geht es darum, dass nicht nur ein paar helle Köpfe in Zukunftsfragen mitreden und diese gestalten können, sondern dass die Bürger:innen, darunter vor allem die Jugend, durch Bildung und Partizipation dazu befähigt werden. Technologie mit Demokratie und Bildung zu verbinden, wird zur zentralen Herausforderung.
Ähnlich wie das Zukunftsforum fand kurz danach auch die Klimakonferenz COP 28 in Dubai statt. Präsident der Konferenz war der Leiter des staatlichen Ölkonzerns der Arabischen Emirate. Gleich in den ersten Tagen wurde bekannt, dass die Regierung die Klimakonferenz nutzen will, um neue Öldeals zu schließen. Das zeigt doch den Konflikt zwischen erklärten Zukunftszielen und politischen Partikularinteressen? War der auch auf dem Zukunftsforum zu spüren?
So deutlich nicht, das Forum fand wenige Tage vorher statt. Das war wohl kein Zufall. Zweifellos ist auch im Bereich der Zukunftsdebatte manches Propaganda, vieles Wunschdenken, anderes bloße Test-Projektion. Nicht wenig ist bewusst oder unbewusst überzogen. Ein Teil der Veränderungs-Rhetorik dient auch dazu, ein bestehendes, hierarchisches System zu stabilisieren oder von seinem fehlenden Modernisierungswillen abzulenken. Letztlich kommt es darauf an, was geschieht: ob die guten Vorsätze Realität werden, oder ob sie dazu da sind, das Gegenteil zu verdecken.
Es ist nur natürlich: Wenn Zukunft wichtiger wird, werden auch Konflikte über Zukunft an Raum und Einfluss gewinnen.
Roland BenedikterWas bringt die Zukunft an Konflikten?
Sie bringt vor allem Konflikte über Zukünfte – weit mehr als bisher. Es ist nur natürlich: Wenn Zukunft wichtiger wird, werden auch Konflikte über Zukunft an Raum und Einfluss gewinnen. Darunter werden verstärkt auch Konflikte über das Einschlagen der richtigen Richtung sein. Wir brauchen deshalb mehr „Zukunftsdiplomatie“ – ein Feld, das sich der heute aufblühenden „Wissenschaftsdiplomatie“ und „Wirtschaftsdiplomatie“ an die Seite stellt. Ich kann die jungen Leser:innen ermutigen, sich damit zu beschäftigen – ein lohnender Job für die Zukunft!
Auch die Vereinten Nationen haben das erkannt: dass wir mehr Zukunftsdiplomatie brauchen.
Ja, und das ist sehr wichtig für den Globus. Denn so erreicht Zukunftsdenken in den kommenden Jahren die ganze Welt. UNO-Generalsekretär António Guterres hat für September 2024 den „Weltzukunftsgipfel“ ausgerufen – den „Summit of the Future“. Er hat wie viele andere erkannt, dass es in der heutigen globalen Spaltung zwischen den Blöcken der Demokratien und der Nicht-Demokratien kein echtes Gespräch mehr gibt, nicht einmal mehr „small talk“. Das einzige, was alle haben und worüber also alle – auch in Zeiten von Kriegen – weiterhin reden können und müssen, ist die Zukunft.
Bildungsmaterialien Zukunft:
Damit man Zukunftsthemen auch spielerisch entdecken kann, hat UNESCO das Spiel „Das Ding aus der Zukunft“ entwickelt, das man auch gut zuhause mit Freunden rein zum Spaß spielen kann. Ein anderes ist das Spiel „BioEcoJust Game“, das sich um Naturgerechtigkeit dreht und derzeit vom Europäischen Zukunftsnetzwerk (Foresight Europe Network) entwickelt wird.
Wer mehr über die entscheidenden Zukunftstechnologien erfahren will, dem empfiehlt Roland Benedikter das Buch „100 antizipierte radikale Technologien für die Gesellschaftstransformation 2018-2037“ des Komitees für die Zukunft des Finnischen Parlaments.
Das UNICEF Youth Foresight Playbook soll Kindern und Jugendlichen außerdem die Möglichkeit geben, an Zukünften und ihrer Entstehung teilzuhaben, und beinhaltet auch ein Fellowship Programm.
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