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Irina Angerer
Veröffentlicht
am 18.01.2024
LebenFaszination Reality TV

Wer schaut sich „den Scheiß“ überhaupt an?

Veröffentlicht
am 18.01.2024
Die große Liebe finden, Kakerlaken essen, Sex, Party und Alkohol: Für die einen ist es ein Guilty Pleasure, für andere einfach nur abstoßend. Das sagen eine Expertin, eine Teilnehmerin und ein Fan zum Phänomen Reality TV.
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Jetzt mal ehrlich: „Den Scheiß“ schauen sich ganz schön viele Menschen an. Den Staffelauftakt von „Temptation Island VIP“ haben Ende Oktober beispielsweise 1,59 Millionen Zuschauer:innen verfolgt. Für alle, die nicht zu jenen gehörten: Das ist ein Format, bei dem die Beziehung von Paaren getestet wird, indem sie sich jeweils in eine Villa mit normschönen jungen Männern oder Frauen begeben und dort jeden Tag trinken, feiern, daten. Die Herausforderung: Sie müssen zwei Wochen (!) lang treu sein. Was für die meisten lächerlich einfach klingt, ist es scheinbar nicht: Es gab bisher noch keine Staffel von Temptation Island, in der nicht mindestens eine Person fremdgegangen ist. Meistens – welch eine Überraschung – der Mann. Bei einem letzten Treffen am Lagerfeuer entscheidet sich dann, ob das Paar die Beziehung weiterführen will, oder beide als frische Singles die Insel verlassen.

Diese Vielfalt und die Möglichkeit, Menschen unterschiedlicher sozialer Hintergründe zu präsentieren, finde ich durchaus positiv.

Professorin Evangelia Kindinger

Wem das alles zu einfältig ist: Wie wäre es mit „Big Brother“? Einem Format, in dem Menschen anderen Menschen dabei zusehen, wie sie in Containern zusammengepfercht leben und mit wenig Essen und Luxus die Situation aushalten müssen. Oder dem „Dschungelcamp“, wo mehr oder weniger bekannte Promis in einem Urwald in Australien Kakerlaken und Stierhoden essen müssen? Aber auch Castingshows, wie „Germanys Next Topmodel“, Verkupplungsshows, wie „Der Bachelor“ und „Bauer sucht Frau“ oder Sendungen, in denen Familien in ihrem Alltag begleitet werden, wie „Die Geissens“ oder „Goodbye Deutschland“ gehören zum Genre Reality TV.

Eine klare Definition für Reality TV existiert nicht. In der Regel sind es Sendungen, die wöchentlich erscheinen und mit einfachen Strukturen und überspitzten Darstellungen die Zuschauer:innen unterhalten. Und die – wie der Name schon sagt – vermeintliche Realität zeigen sollen. Obwohl „Trash-TV“, wie es oft synonym verwendet wird, eine große Fangemeinde hat, wird es auch stark kritisiert. Kritiker:innen behaupten, dass diese Shows oft unrealistische Lebensbilder vermitteln und negative Verhaltensweisen fördern. Für die Fans ist es ein moralisches Dilemma zu entscheiden, was für sie noch vertretbar ist und was nicht. Stimmt das, oder ist Reality TV vielleicht doch besser als sein Ruf? Was bewegt junge Menschen, bei einer Datingshow mitzumachen? Worin besteht der Reiz, schönen Menschen beim Flirten zuzuschauen und was macht es mit unserem Körperbild? Eine Expertin, eine Teilnehmerin und ein Fan geben Antworten.

Das sagt die Expertin
Evangelia Kindinger ist Professorin für nordamerikanische Literatur und Kultur an der Humboldt-Universität zu Berlin und beschäftigt sich dort unter anderem mit RealityTV. Obwohl es das Genre in Deutschland schon länger gibt, wurde im angloamerikanischen Raum bisher mehr dazu geforscht. Die Wissenschaftlerin lehnt die Bezeichnung „Trash TV“ entschieden ab: „Ich finde das zu abwertend. Die Formate ermöglichen Einblicke in das Leben verschiedener Menschen, darunter auch solche, die normalerweise nicht im Fernsehen zu sehen wären.“ Und weiter: „Diese Vielfalt und die Möglichkeit, Menschen unterschiedlicher sozialer Hintergründe zu präsentieren, finde ich durchaus positiv. Man kann sogar sagen, dass Reality TV eine demokratische Dimension hat.“

Evangelia Kindinger ist Professorin für nordamerikanische Literatur und Kultur an der Humboldt-Universität zu Berlin und beschäftigt sich dort unter anderem mit RealityTV. Obwohl es Genre in Deutschland schon länger gibt, wurde im angloamerikanischen Raum bisher mehr dazu geforscht.

Warum die Shows so hohe Quoten erreichen, hat mehrere Gründe. Einer davon ist der Aufbau der Show, welcher von der ersten Folge bis zum Finale Spannung bringt. „Niemand weiß, was in der nächsten Folge passiert oder wie die Staffel ausgeht“, erklärt Kindinger. Außerdem spiele die Grunddynamik der Show, also das Zusammenspiel zwischen Moderation, Challenges und zwischenmenschlichen Beziehungen eine große Rolle. Auf die Frage, warum wir so gerne Fremden im Fernsehen dabei zuschauen, wie sie sich streiten oder lieben, antwortet Kindinger: „Die Faszination liegt darin, echte Menschen zu sehen, die sich selbst darstellen, anstatt fiktive Figuren. Natürlich ist vieles vorgegeben und es gibt oft ein Skript der Produktion. Die Teilnehmer:innen treten jedoch als sie selbst auf, und Zuschauer:innen können sich mit ihnen identifizieren.“ Kindinger erklärt das Phänomen anhand des Beispiels von Datingshows: „In romantischen Formaten liegt der Reiz darin, echte Menschen bei der Suche nach Liebe zu beobachten. Und mitzuverfolgen, wie sich die Singles verhalten und ob echte Verbindungen entstehen. Wir finden es faszinierend, etwas zu sehen, das uns ähnlich ist, aber doch anders. Intime Momente und Einblicke in das Leben der Teilnehmer:innen wecken Interesse.“

Im Vordergrund steht eher die Aufklärung, respektvoller Umgang untereinander und die Vielfalt in der

Lucy, Teilnehmerin bei Princess Charming

Kindinger weiß auch, dass Reality-TV etwas mit unserem Körperbild macht: „Die gezeigten Personen entsprechen oft bestimmten Schönheitsnormen. Das ist ein Problem. Es gab jedoch einige minimale Veränderungen, wie etwa diverse Teilnehmer:innen bei ,Der Bachelor‘ oder ,Die Bachelorette‘.“ Damit meint Kindinger zum Beispiel Bachelorette Sharon Battiste (2022), die nach einigen Folgen mit Glatze auftritt und öffentlich verkündet, dass sie seit mehreren Jahren mit „kreisrundem Haarausfall“ lebt. Erst in diesem Jahr wurde mit Bachelorette Jennifer Saro erstmals eine alleinerziehende Mutter gecastet. Zudem lassen einige Reality-Formate grenzüberscheitendes Verhalten und Mobbing oft unkommentiert stehen: „Das ist ein ernstes Thema, es sind schließlich echte Menschen betroffen und es wird eine vermeintliche Realität gezeigt.“ Auch außerhalb der Show werden Situationen aus den Folgen thematisiert. So bieten Kandidat:innen oftmals nach der Ausstrahlung einer Folge eine „Fragerunde“ auf Instagram an – Shows werden meist vorproduziert – um offene Fragen zu klären und mit den Zuschauer:innen zu interagieren. Nicht selten kommt es zum Zeitpunkt der Ausstrahlung zu Auseinandersetzungen, die über die Sozialen Netzwerke ausgetragen werden.

Das sagt die Teilnehmerin
Lucy ist 26 Jahre alt, lebt in Innsbruck und arbeitet als Barkeeperin. Seit kurzem ist sie auch Teil des Reality-Kosmos. Trash TV habe sie nie richtig abgeholt, erklärt sie. „Bei vielen Formaten lag der Fokus darin, sich über die Teilnehmer:innen lustig zu machen.“ Diese Haltung habe sich aber mit der Ausstrahlung von Princess Charming geändert. In der Sendung sucht eine lesbische Frau unter zahlreichen queerenSingles die Liebe. „Das Format schaue ich gerne an. Im Vordergrund steht eher die Aufklärung, respektvoller Umgang untereinander und die Vielfalt in der queerenCommunity.“ Besonders gut findet Lucy: „Es gibt nicht eine ,Klischee-Lesbe‘, sondern wir sind so verschieden und trotzdem normal. Davon wollte ich gerne Teil sein. Als Kind hätte ich mir so gerne eine solche Sendung gewünscht.“

Lucy, Teilnehmerin bei Princess Charming

Nach ihrer Bewerbung vergingen ein paar Monate, bis sie für den Dreh nach Thailand flog. Bedenken hatte Lucy in dieser Zeit wenige. „Außer, dass ich kaum Kleidung hatte, da ich mir nie neue Sachen kaufe. Ich habe zum Glück Freundinnen, die einen coolen Stil haben und mir ihre Sachen geliehen haben.“ Auf die Frage, wie sie sich die Faszination für Reality-TV erklärt, antwortet sie: „Die Teilnahme an einer Reality Show ist eine Extremsituation. Du stehst 24/7 unter Beobachtung und hast kaum Privatsphäre. Ich glaube, dass die Faszination auch in dieser Intimität steckt. Die meisten Teilnehmenden werden dadurch sensibler und emotionaler, was auch einen Unterhaltungsfaktor bietet.“ Lucy war mit der Ausstrahlung zufrieden: „Für mein Empfinden kamen wir mehr als erwartet so rüber, wie wir wirklich sind. Das Daten vor der Kamera war anders. Während man in der Villa die Kameras und Mikros schnell ignorieren konnte, fiel mir das auf den Gruppendates schwerer.“

„Natürlich ist es in den Sendungen immer alles sehr überspitzt dargestellt, aber ich glaube, es bringt einem selbst auch ein bisschen etwas, sich mit Problemen und Herausforderungen anderer auseinanderzusetzen.“

Phillipp, Fan

Ihr Umfeld habe sehr gut auf ihre Teilnahme an der Show reagiert. Da Innsbruck nicht allzu groß ist und die queere Szene überschaubar, habe sich schnell herumgesprochen, dass Lucy bei Princess Charming teilgenommen hat. Sie wurde auch schon auf der Straße erkannt und angesprochen: „Das finde ich aber super schön. Ich freu mich, wenn so viele Menschen dieses tolle Format anschauen.“ Neben der Erfahrung sich selbst im TV zu sehen, hat Lucy auch neue Freundschaften geschlossen. Wann immer sie in Deutschland ist, versuche sie sich mit den anderen zu treffen. Ob sie den noch einmal bei einem Reality-Format mitmachen würde? „Auf jeden Fall. Da ich jetzt aber in einer glücklichen Beziehung mit meiner Partnerin bin, sollte es kein Dating-Format sein“, sagt Lucy.

Das sagt der Fan
Phillipp ist 27 Jahre alt, lebt in Wien und ist ein Trash-TV-Fan. „Aber eher ein heimlicher“, wie er mehrmals im Gespräch betont. Damit meint Phillipp, dass er es als sein Guilty Pleasure sieht. Also als etwas, wofür er sich schämt, weil es allgemeinhin nicht angesehen ist. Am liebsten schaut Phillipp „Temptation Island“ und „7 versus Wild“. Auf die Frage, was ihm an den Formaten so gut gefällt, antwortet er: „Bei Temptation Island ist die Spannung einfach immer hoch. Und es steht so viel auf dem Spiel. Nämlich die ganze Beziehung der Teilnehmenden oder ab und an sogar die Ehe.“ Nach einigen Sendungen ist Phillipp „immer weiter in das Genre hineingekippt und schließlich ein Fan geworden“, wie er mit einem Grinser erklärt. Sogar etwas Gesellschaftskritik kann er in Reality TV finden: „Das Format thematisiert Beziehungen zwischen Menschen und Problemen, die entstehen können, wenn diese zusammenleben. Und wenn man das so betrachtet, ist es gar nicht mehr so seicht, wie der Ruf vom Reality-TV ist.“ Phillipp ergänzt: „Natürlich ist es in den Sendungen immer alles sehr überspitzt dargestellt, aber ich glaube, es bringt einem selbst auch ein bisschen etwas, sich mit Problemen und Herausforderungen anderer auseinanderzusetzen.“

Auf die Frage, wie er als Zuschauer, das moralische Dilemma rund um Mobbing oder stereotype Darstellung löst, antwortet er: „Ich glaube, das alles kann und sollte man nicht ausblenden. Ich finde es wichtig, zu hinterfragen, wie viele ,künstliche Körper‘ man dort sieht im Vergleich zur Realität.“ Was für einen Einfluss das hat, bemerkt er auch an sich selbst: „Ich muss schon sagen, es fällt mir immer mehr auf, wenn ein Körper operiert ist. Und gleichzeitig finde ich sichtbare Schönheitseingriffe auch normaler.“ Phillipp sagt, dass ihm einige der Teilnehmer:innen auch leid tun: „Man sieht halt, wie die sich von Staffel zu Staffel oder von Sendung zu Sendung verändern und sich weiter versuchen zu optimieren, ihre Zähne immer weißer und ihre Körper immer extremer werden. Da kommt man schon zum Nachdenken.“

Auch wenn Phillipp bewusst ist, dass in vielen Formaten Sexismus reproduziert wird, beispielsweise, wenn Teilnehmer:innen untereinander interagieren, findet er: „Ich glaube, dass ist in den vergangenen Jahren etwas besser geworden. Kommentator:innen oder Moderator:innen  sprechen Fehlverhalten häufiger an und es gibt auch auf Social Media Kritik an Personen, die sich sexistisch verhalten.“ Man dürfe außerdem auch nicht vergessen, dass es Unterhaltungsformate sind. „Die Menschen werden so dargestellt und so geschnitten, dass sie in ein bestimmtes Muster reinpassen. Das heißt, dass bestimmte Personen nicht die Komplexität bekommen, die sie in echt hätten.“ Phillipp weiß auch, dass viele der sogenannten „Reality Stars“ von ihren Sendungen und dem einhergehenden Erfolg gut leben können: „Das heißt, die müssen unterhalten, die wissen, dass sie Sendezeit bekommen müssen. Und das heißt, die spielen natürlich auch eine Rolle.“ All das dürfe man als Zuschauer:in nicht vergessen, findet er. „Ich glaube, wenn man es so sieht und nicht alles auf die Waagschale legt und ernst nimmt, dann kann man sich davon unterhalten lassen und auch ohne große moralische Bedenken ein ,Fan‘ sein“, sagt Phillipp abschließend.

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