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Wer schon mal im Süden Italiens unterwegs war, dem ist vielleicht etwas aufgefallen, was im Norden des Landes eher unüblich ist: Alte Herren, die am Wegrand Jugendliche kollegial mit Handschlag begrüßen und mit ihnen sprechen wie mit Gleichaltrigen. Oder alte Damen, die draußen vor Cafés im Schatten der Bäume mit jungen Leuten diskutieren. Der Dialog zwischen Generationen, vor allem zwischen den ältesten und jüngsten, ist ein wichtiger Bestandteil jeder Gesellschaft. Trotzdem wird er in Südtirol – außerhalb des familiären Raums, wo Oma und Opa auf die Enkelkinder aufpassen – immer seltener gepflegt. Dabei wäre diese Form von Austausch gerade bei schwierigen Fragen vielversprechend, bei denen sich selbst Philosophinnen und Wissenschaftler die Haare raufen. Das Rätsel rund um die Zeit ist wohl eine dieser Fragen. In diesem Text besuchen ein Junge und ein Mädchen zwei fremde 80-Jährige: einen Mann und eine Frau, die jeweils ihr zukünftiges Ich sein könnten. In den beiden Gesprächen – umringt von Gemälden, Uhren und Erinnerungsstücken – befragen sich Kinder und Erwachsene gegenseitig und fühlen dabei der Zeit auf den Zahn. Jene Fragen, die in einem Gespräch an die ältere Person gehen, werden im anderen vom jungen Gegenüber beantwortet, und umgekehrt. Ein philosophisches Ping Pong zwischen zwei weit entfernten Generationen.
Otto [87] & Felix [10]
Felix: Was ist eigentlich Zeit?
Otto: Das ist schwierig zu beantworten, gell? Wir nennen es Zeit, wenn eine Sekunde vergeht, oder eine Minute oder ein Tag. Da haben wir verschiedene Maße. Wenn du mich fragst „Hast du Zeit?“, dann muss ich nur erahnen, was du damit meinst. Wenn du mich aber fragst „Hast du zehn Minuten?“, dann gibst du mir genau vor, von welcher Zeit wir sprechen. Wir haben Tage und Nächte und die Uhr gibt uns den Takt vor. Als ich am Äquator unterwegs war, ging der Übergang von Tag auf Nacht viel schneller als bei uns. Hier geht die Sonne am Abend unter und es wird schattig im Tal, doch der Rosengarten leuchtet noch hell. Das ist ein Geschenk!
Otto: Du erfindest eine Zeitmaschine und reist damit in die Zukunft. Dort triffst du dein 87-jähriges Ich. Was sagst du ihm?
Felix: Ich würde fragen: Wie war mein Leben zwischen zehn und 87? Was habe ich Interessantes erlebt? Ich würde auch fragen, ob ich Schlimmes erlebt habe und ob er – ich meine: ich – mir alles erzählen kann, das ganze Leben. Ich werde fragen, wo ich hingereist bin, welche Freunde ich gefunden habe und ob ich eine Familie habe.
Felix: Was ist das Schlimmste und das Schönste am Altsein?
Otto: Das Schlimmste? Eigentlich, dass ich immer mehr Menschen nicht mehr treffen kann, weil sie nicht mehr leben. Und was für mich ungut war, war der zweite Weltkrieg. Ich habe mit sechs Jahren die Bombardierungen in Bozen erlebt. Manchmal mussten wir in den Bunker. Diesen Geruch – nasser Sandstein – vergesse ich nie. Eigenartig. Ganz eigenartig und immer mit einem unguten Gefühl. Da war es so, dass die Zeit im Bunker … endlos lang war! Das sind ungute Erinnerungen. Das Schöne am Altwerden ist, dass ich viel Glück gehabt habe: eine wunderbare Familie, Frieden, Geschwister. Wir haben uns gut vertragen, gespielt, gesungen und gebastelt. Später habe ich großes Glück in Peru gehabt. Dort habe ich meine Frau kennengelernt und einen Sohn bekommen. *zeigt auf die Fotos seiner Familie* Meine Frau ist leider viel zu früh gestorben. Aber mir bleiben viele gute Erinnerungen. Sie hat mir im Geschäft geholfen, wir haben Farbkarten für Webereien hergestellt, Garne entwickelt und Zwirnversuche im Urlaub am Strand gemacht, wo es genug Platz gab, um die langen Fänden ineinander zu verdrehen.
Otto: Macht es dir Angst, dass die Zeit vergeht?
Felix: Das kommt darauf an. Wenn man an den Tod denkt oder daran, was nach dem Tod kommt, wenn die Zeit vorbeigeht, dann ist es traurig und es macht mir ein bisschen Angst. Aber wenn du daran denkst, dass du ein schönes Leben gehabt hast, dann freust du dich vielleicht auch etwas. Als Angst würde ich es nicht bezeichnen, weil du immer, wenn du etwas Schönes erlebst, daran denken kannst, wenn du dann älter wirst. Und wie es kommt, kommt es eben.
Felix: Glaubst du, dass Kinder und Erwachsene die Zeit gleich wahrnehmen?
Otto: Ganz bestimmt nicht. Wenn du älter wirst, dann lernst du, einen Rhythmus zu verinnerlichen. Wenn du jung bist und keine Verpflichtungen hast, oder kein Tagesprogramm, dann nimmst du die Zeit eben noch anders wahr.
Otto: Ist die Zeit für dich schon mal stillgestanden?
Felix: Ja. In den Stunden vor der Pause denke ich mir immer: Hoffentlich kommt die Pause bald, dann kann ich mich endlich wieder bewegen. Es ist schlimm, wenn du zweieinhalb Stunden nur sitzt und zuhörst und stillhältst. Dann wird dir langweilig, irgendwie spürst du nichts mehr und die Zeit bleibt auch stillstehen.
Felix: Kannst du mir erklären, wie eine Uhr funktioniert?
Otto: Also, von allein funktioniert sie nicht. Es braucht eine bestimmte Kraft, die die Uhr in Bewegung setzt. Um einen Takt zu erzielen, gibt es die sogenannte Unruh im Inneren der Uhr. Und damit diese funktioniert, gibt es wiederum eine Feder, die man aufziehen muss. Und dann geht es in den Zahnrädern der Uhr Tik Tak Tik Tak hin und her. Bei den Uhren ohne Unruh, zum Beispiel beim Handy, funktioniert es anders. Da kann ich dir aber keine Auskunft geben.
Felix: Was war das beste Jahr in deinem Leben?
Otto: Das beste Jahr?! Wow! (lacht) Das war wirklich das Erlebnis in Lima mit meiner Frau und die Geburt meines Sohnes. 1970: Das war das schönste Jahr.
Otto: Glaubst du, dass die Zeit unendlich ist?
Felix: Eher nicht. Denn wenn die Zeit nicht aufhören würde – also die Lebenszeit, weil das ist ja auch Zeit – dann wäre das viel zu viel: Dir geht es irgendwann nicht mehr gut, du bist zu alt. Du möchtest vielleicht sogar, dass die Zeit irgendwann aufhört. Wenn sie unendlich wäre, dann würdest du auch erleben, wie deine Kinder sterben. Dann die Kinder deiner Kinder, und so weiter. Und dann wärst du traurig. Aber weil die Zeit ja eben nicht unendlich ist, werde ich da zumindest nicht mehr leben und es miterleben müssen.
Felix: Findest du das Leben ist zu kurz oder zu lang?
Otto: Ganz egoistisch gesprochen: Es wäre interessant, wenn ich jetzt nochmal 35 Jahre alt wäre. Denn dann könnte ich mit dem, was ich jetzt weiß, vieles erreichen und vieles noch umsetzen. Ich habe damals einiges noch nicht gewusst und erst später dazugelernt. Du jedenfalls bist noch zu jung, um daran zu denken, dass das Leben zu kurz ist. Du hast so viel vor dir … Also nutze die Zeit. Du wirst Großartiges erleben!
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Ida [85] & Olivia [9]
Ida: Was ist eigentlich Zeit?
Olivia: Freizeit!
Olivia: Du erfindest eine Zeitmaschine und reist zurück in die Vergangenheit. Dort triffst du dein 9-jähriges Ich. Was sagst du ihr?
Ida: Das ist nicht ganz leicht, weil ich sehr viele Jahre auf dem Buggl habe. Damals war es wichtig, dass man gutes Essen hat – weil es allgemein wenig zu essen gab – und eine nette Spielgesellschaft und die Eltern. Sonst wäre man allein gewesen. Viele Kinder waren ohne Eltern, weil es davor Krieg gab. Meinem 9-jährigen Ich würde ich danke dafür sagen, dass ich noch Eltern haben durfte und zu essen hatte und spielen konnte. Wir hatten viel Angst während dem Krieg und deshalb hat man das alles sehr schätzen gelernt. Wenn du irgendwann so alt bist wie ich, in 76 Jahren, dann denkst du vielleicht sogar an dieses Gespräch zurück.
Ida: Was ist das Schlimmste und das Schönste am Kindsein?
Olivia: Das Schönste am Kindsein ist das Spielen und zur Schule gehen, das Malen und Turnen und Klettern. Es sind viele schöne Sachen. Schlimm ist zum Beispiel der Zahnarzt. Da gehen die alten Leute ja auch hin, aber als Kind kannst du das nicht selbst entscheiden. Die Eltern entscheiden für dich und du musst hingehen, auch wenn du nicht willst. Ich habe meiner Mama schon gesagt, dass ich ausziehen werde, wenn ich nicht selbst mehr entscheiden darf. Auch, dass ich kein Haustier bekomme, finde ich schlecht. Ich möchte eine Katze haben, oder einen Hamster oder einen Goldfisch. Mit einem Fisch wäre ich eh schon zufrieden.
Olivia: Macht es dir Angst, dass die Zeit vergeht?
Ida: Nein, das macht mir keine Angst. Ich bin generell ein Mensch, der überhaupt keine Angst hat. Manchmal denkt man sich, die Zeit vergeht zu schnell, aber Angst macht mir das nicht. Ich bin glücklich, wenn ich gesund bleibe. Das ist mir wichtig beim Vergehen der Zeit. Weil dann kann ich selbständig leben und alles allein machen. Wenn man im Alter krank wird, ist man hingegen hilflos. So lange möchte ich nicht leben – aber man kann es sich nicht aussuchen und man kann es nicht ändern, dass die Zeit vergeht. Wie es kommt, kommt es.
Ida: Glaubst du, dass Kinder und Erwachsene die Zeit gleich wahrnehmen?
Olivia: Nein. Es ist ganz anders. Aber ich weiß auch nicht genau, was der Unterschied ist oder wie ich es erklären soll. Es kommt mir einfach so vor. Ich glaube, dass die Zeit für mich langsamer vergeht und für alte Menschen viel schneller. Für sie vergeht die Zeit schneller, weil sie halt einfach älter sind und weil wir Kinder mehr Sachen erleben als sie.
Olivia: Ist die Zeit für dich schon mal stillgestanden?
Ida: Ja, manchmal steht sie still. Hauptsächlich wenn man krank ist, wenn es einem nicht gut geht. Oder wenn man einen besonderen Schock erlebt. Da meint man manchmal, es geht nichts mehr weiter. Sonst geht die Zeit aber immer ganz normal voran.
Ida: Kannst du mir erklären, wie eine Uhr funktioniert?
Olivia: (schaut auf Wanduhr) Also der Zeiger geht linksherum? Der Tag hat jedenfalls 24 Stunden und die Uhr geht immer weiter. Aber ich mag die Uhr nicht und ich mag es auch nicht, sie zu lesen. Es interessiert mich auch nicht so. Die Uhr auf dem Handy ist besser, die ist mir lieber. Weil bei der Uhr an der Wand muss ich immer überlegen, was die Zahlen bedeuten. Ist es jetzt zwanzig nach oder halb und kommt das beim Stundenzeiger oder beim Minutenzeiger?
Ida: Würdest du gerne immer neun Jahre alt bleiben, oder wärst du gerne jetzt schon älter?
Olivia: Das ist einfach: Ich möchte neun bleiben. Ich möchte für immer ein Kind bleiben. Ich bin zufrieden damit, was ich bin und was ich habe. Als Kind ist es lustiger und man kann mehr spielen, als wenn man dann erwachsen ist.
Olivia: Wie lange dauert ein Moment?
Ida: Das ist eine schwierige Frage. Ein Moment dauert manchmal sehr lange und manchmal ist es eben nur ein Moment. Es ist verschieden, je nachdem in welcher Situation man gerade ist und was man gerade erlebt. Manchmal sind es schlimme Momente, manchmal sind es schöne Momente. Schlimme Momente dauern länger und davon erlebt man leider viele im Leben. Aber ich muss sagen, dass ich glücklich bin, auch viele schöne Momente zu erleben. Ein schöner Moment muss nichts Großes sein: Ein Gruß auf der Straße reicht. Ein junger Mensch, der vorbeigeht und grüßt. Wenn man alt und allein ist, ist jeder Gruß und jedes Lächeln eine Wichtigkeit.
Ida: Findest du das Leben ist zu kurz oder zu lang?
Olivia: Das Leben ist sicher nicht zu lang, wenn dann eher zu kurz. Ich möchte gerne gesund und jung sein. Aber ich möchte auch, dass ich meine Mama länger habe, deshalb ist es besser, wenn das Leben lange dauert und sie viel älter wird.
Text und Interview: Matthias Fleischmann
Dieser Text erschien erstmals in der Straßenzeitung zebra. (02.12.2024 – 03.02.2025 | 102)
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