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Sarah Meraner
Veröffentlicht
am 30.12.2024
LebenFrauen in italienischen Gefängnissen

„Von der Gesellschaft abgeschrieben“ 

Veröffentlicht
am 30.12.2024
Überfüllte Gefängnisse, strukturelle Benachteiligung und fehlende Unterstützung von Gesellschaft und Politik: Lisa Wierer hat sich in ihrer Diplomarbeit die marginalisierte Realität weiblicher Häftlinge in Italien beschäftigt.
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Lisa Wierer wollte sich in ihrer Diplomarbeit mit Frauenrechten beschäftigen. Als ihre Professorin das Thema Frauen in Gefängnissen vorschlug, begann die heute 25-Jährige zu recherchieren. „Es ist erschreckend“, erzählt sie rückblickend, „es gibt sehr wenig Informationen über Frauenkriminalität – dementsprechend wenig über Frauengefängnisse. Und es wird öffentlich kaum darüber gesprochen.“ Außerdem müssen Frauen im Gefängnis eine Realität leben, die von Männern für Männer geschaffen sei, so die Bruneckerin.

BARFUSS: Das heißt konkret, Gefängnisse sind eigentlich nur für Männer gebaut, weil die Kriminalität von Männern viel höher ist? Gibt es dazu Zahlen?
Lisa Wierer: Nur 4,2 Prozent der Inhaftierten in Italien sind Frauen, die restlichen fast 96 Prozent sind Männer. Auch in anderen europäischen Ländern liegt die Zahl der weiblichen Inhaftierten lediglich zwischen vier und sieben Prozent. Stand Januar 2024 saßen in Italien 599 Frauen in Frauengefängnissen ein, 1.793 in Männergefängnissen.

Wie kommt es zu dieser Verteilung?
Es gibt in ganz Italien nur vier Frauengefängnisse. Das bedeutet, dass der Großteil der verurteilten Frauen in Männergefängnissen unterkommen muss. Dort sind sie in abgeschotteten Sektoren untergebracht, weil es in Italien eine strikte Geschlechtertrennung gibt. Das bringt eine große Diskriminierung mit sich.

Inwiefern?
Das zeigt sich zum Beispiel beim Recht auf Bildung, was auch für Häftlinge im Sinne der Wiedererziehung ein Grundrecht ist – das Gefängnis sollte ja nicht nur Strafe sein. Es ist so, dass 13,9 Prozent der Frauen die Pflichtschule absolvieren, aber in den höheren Schulstufen ist die Prozentzahl viel geringer. Das liegt daran, dass die höheren Schulstufen nur in den Männertrakten untergebracht sind. Es bräuchte Gefängnispersonal, das die Frauen von ihrer Sektion dorthin bringt – das ist meistens nicht der Fall, denn es mangelt an Organisation und Personal. Im Jahr 2022 konnten nur 20 Frauen in ganz Italien die Universität besuchen, bei den Männern waren es 588.
Ein weiterer Nachteil für weibliche Inhaftierte besteht darin, dass sie viel weniger Besuch von ihren Familien bekommen können, weil sie aufgrund der wenigen Gefängnisse – insgesamt 190 in ganz Italien – meistens weit weg von ihrer Heimat sind. Wenn Südtiroler Frauen inhaftiert werden, kommen sie entweder nach Trient oder dorthin, wo noch halbwegs Platz ist.

Man setzt sich viel zu wenig mit den Themen Gefängnis und Wiedereingliederung auseinander.

Es ist allgemein bekannt, dass die Gefängnisse überfüllt und die Zustände darin menschenunwürdig sind. Die Selbstverletzungs- und Suizidzahl ist bei den italienischen Inhaftierten sehr hoch …
Richtig, die Gefängnisse in Italien sind zu 140 Prozent ausgelastet. Die Suizidrate bei Frauen liegt bei 3,7 Prozent auf 100 Personen, bei Männern bei 1,6 Prozent auf 100 Personen.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte sagt schon längst, dass die Zustände nicht mehr human seien – Italien wurde sogar bereits verurteilt, weil die Menschen nicht einmal drei Quadratmeter für sich haben. In einer Zelle, die für zwei Häftlinge bestimmt ist, sitzen hierzulande meistens vier oder mehr Personen ein. Auch Frankreichs Gefängnisse sind überfüllt, aber dort sind zumindest die Zellen fast doppelt so groß wie in Italien. 

Gesprochen wird über diese Problematiken kaum, geschweige denn wird etwas dagegen unternommen. Warum ist das deiner Meinung nach so?
In Italien spricht man gerne von „Vendetta“ – es herrscht in der Gesellschaft eine gewisse Rache-Mentalität: „Du hast das verbrochen, jetzt musst du dafür büßen.“ Ich habe in meiner Diplomarbeit einen Vergleich mit Norwegen gezogen, dort ist dieses Rachegefühl gar nicht verbreitet. Beim Amoklauf von 2011 tötete Anders Breivik über 70 Menschen. Es wurden sehr viele Angehörige befragt, die sagen, sie fänden es wichtig, dass Breivik die höchstmögliche Strafe absitzt – aber sobald er das getan hat, ist es gerecht, wenn er wieder frei kommt. An diesem Beispiel sieht man, wie die Denkweise dort ist.
In Italien ist das komplett anders. Man setzt sich viel zu wenig mit den Themen Gefängnis und Wiedereingliederung auseinander. Es ist für ehemalige Häftlinge wahnsinnig schwierig, den Weg zurück in die Gesellschaft zu finden. Das Konzept der „Camicia bianca“ erschwert das extrem: Kaum jemand gibt Vorbestraften eine Chance, zum Beispiel bei der Arbeits- oder Wohnungssuche. Das schafft die Grundlage, erneut eine Straftat zu begehen.

Der Eingang des Frauengefängnisses Giudecca in Venedig

Was siehst du sonst noch problematisch?
Der tägliche Konsum von Psychopharmaka ist in Gefängnissen sehr hoch. 2022 waren es rund 63,8 Prozent der inhaftierten Frauen, die auf Psychopharmaka angewiesen sind, der Konsum ist also enorm.
Wenn Frauen in Männergefängnissen untergebracht werden, ist das eine doppelte Strafe, denn dort haben sie nochmal weniger die Möglichkeit, zum Beispiel Hof oder Bibliotheken zu nutzen, da diese Orte die meiste Zeit von den männlichen Insassen genutzt werden. Und auch hier fehlt es wieder an Personal, um die Frauen innerhalb der Trakte hin- und herzubringen. 
Man versucht zwar, Hygienestandards einzuhalten, ich denke an Dusche oder Bidet, aber ich habe in meinen Recherchen oft gelesen, dass es wenig sanitäre Einrichtungen gibt, kaum Klopapier usw. In Rom müssen sich 180 Frauen drei Duschen teilen.

Wie alt sind die Frauen durchschnittlich, die ins Gefängnis gehen? Für wie lange und wegen welcher Delikte kommen Frauen ins Gefängnis?
Die Altersspanne der straffälligen Frauen liegt großteils zwischen 40 und 59 Jahren. Sie verbüßen meist Haftstrafen bis zu zehn Jahren, aber auch mehr. Die meisten Delikte sind Diebstahl und Betrug. Der dritthäufigste Grund, warum Frauen im Gefängnis landen, sind Drogen. Wegen Gewaltverbrechen sitzen nur die wenigsten ein. Deshalb – und wegen der Kinder – bekommen Frauen öfter Hausarrest als Männer, anstatt ins Gefängnis zu kommen.

Und wenn Mütter trotzdem ins Gefängnis müssen?
Einige Frauen verlieren das Sorgerecht. Falls nicht, versucht die Justiz meist schwangeren Frauen und Frauen mit Kleinkindern die Möglichkeit des Hausarrests zu geben. Wenn das nicht möglich ist, kommen die Kinder mit ins Gefängnis.
Dort gibt es das sogenannte ICAM (istituto a custodia attenuata per detenute madri). Das ist ein separater Trakt neben dem Gefängnis, der aber noch zum Gefängnis gehört. Dabei handelt es sich um eine Art Wohnungen ohne Gitter, bei der die Zellen viel größer und bunter und offener gestaltet sind. Es gibt einen Fernseher, ein getrenntes Bad sowie einen eigenen Besucherraum und einen Spielplatz, der nur für die Kinder zugänglich ist. In Italien gibt es fünf solcher Einrichtungen, in Venedig, Mailand, Senorbi, Lauro und Turin.
Außerdem gibt es auch die Asili Nido, separate Sektionen, in denen Kindern mehr Möglichkeiten geboten werden sollen, das ist aber nicht immer so. Und es gibt noch zwei Case famiglia protetta, in Rom und Mailand, die ähnlich aufgebaut sind wie Frauenhäuser – hier leben mehrere Frauen mit ihren Kindern zusammen und es gibt Betreuer:innen, Erziehungsberater:innen und dergleichen. Bis zu sechs Jahren können die Kinder im Gefängnis bleiben. Oft ist es so, dass die Mütter dann mit den Kindern in den Hausarrest entlassen werden. 

Kinder, die mit ihren Eltern im Gefängnis sind, entwickeln zu 80 Prozent psychische Krankheiten.

Wie viele Mütter mit Kindern leben momentan in italienischen Gefängnissen und wie kann man sich das vorstellen?
Aktuell leben 20 Mütter mit insgesamt 21 Kindern in italienischen Gefängnissen (Stand Januar 2024, Anm. d. Red.). Als ich im Gefängnis in Venedig war, hatte ich auch die Möglichkeit, das dortige ICAM anzuschauen. Damals waren drei Kinder dort. Zwei von ihnen besuchten den Kindergarten. Eine freiwillige Person holte die Kinder jeden Tag ab und begleitete sie hin und zurück. Diese Freiwilligen können die Kinder auch auf Ausflüge mitnehmen. Das sorgt aber natürlich auch für Spannungen zwischen den Freiwilligen, Erzieherinnen und den Mamas, die den Kindern das alles nicht bieten können. Die Kinder verstehen nicht, warum ihre Mama nicht mit ihnen rausgehen darf. Mit der Mama sind sie im Grunde eingesperrt. Das dritte Kind dort war damals sechs Monate alt, das löst heute noch Gänsehaut in mir aus. 

Was bedeutet das für die Kinder?
Es gibt eine Studie aus Deutschland („Coping – Kinder von Strafgefangenen: Maßnahmen zur Stärkung der psychischen Gesundheit und Minderung der Risiken“), die zeigt, dass Kinder, die mit ihren Eltern im Gefängnis sind, zu 80 Prozent psychische Krankheiten entwickeln und dass die Gefahr groß ist, dass sie selbst mal im Gefängnis landen.
Der Schutz des Kindes steht für den italienischen Gesetzgeber eigentlich schon im Vordergrund. Dieser Schutz wird aber vor allem im Kontext der Mutter-Kind-Beziehung gesehen – was zeigt, wie traditionell Italien noch eingestellt ist. Auch deshalb, weil umgekehrt diese Regelungen für Männer nicht gelten. Kinder kommen nur dann mit den Vätern ins Gefängnis, wenn die Mutter tot ist oder sie absolut nicht fähig ist, sich um das Kind zu kümmern.
Momentan haben übrigens 100.000 Kinder einen oder beide Elternteile im Gefängnis – gerade bei Drogendelikten sind häufig beide Elternteile eingesperrt. Das diritto di visita erlaubt ihnen, zwei Mal die Woche für jeweils eine Stunde ihre Eltern zu sehen und mit ihnen zu sprechen. Aber das mit den Besuchen ist halt schwierig, weil die meisten so weit weg sind.

Kriminalität von Frauen wird nicht gerne gesehen. Verurteilte Straftäterinnen werden noch mehr stigmatisiert als Männer.

Wie sieht das Leben dieser Frauen und Mädchen dort aus?
Ich habe mich in meiner Arbeit vor allem mit volljährigen Frauen beschäftigt. Ab 14 Jahren gilt man als strafmündig, für jugendliche Mädchen gibt es eigene Institute.
In den reinen Frauengefängnissen ist die Möglichkeit zur Arbeit besser und zugänglicher, jedoch sehr stereotypisch – Kochen, Putzen, Herrichten für neue Häftlinge usw. In Giudecca hat sich das Gefängnis mit den Hotels Venedigs zusammengeschlossen und stellt für diese Seifen her oder wäscht die Hotelwäsche. Dort gibt es auch einen großen Garten, der von den Insassinnen bewirtschaftet wird und dessen Produkte verkauft werden. 
In den Männergefängnissen ist Arbeit wiederum schwierig, da die Frauen dort vor allem in der eigenen Sektion bleiben müssen.

Welche Unterschiede gibt es sonst noch zwischen Frauen- und Männergefängnissen?
Interessant ist, dass die Aggressionsrate von Frauen mit 7,7 Prozent auf 100 Personen etwas höher liegt als in Männergefängnissen. Dort sind es 5,5 Prozent auf 100 Personen.
Jedes Gefängnis hat eigene Regelungen. In den Frauengefängnissen dürfen Insassinnen Dinge wie Nagellack und Schminkzeug, sogar Nähkits besitzen. Auch hier zeigt sich die geschlechterspezifische Einstellung des Gesetzgebers.

Straffällige Personen haben auch Rechte.

Welche Maßnahmen müssten in Gefängnissen für eine Verbesserung der Lebensumstände getroffen werden?
Es braucht bessere Lebensbedingungen in Gefängnissen. In Norwegen wird sehr viel Geld in die Gefängnisse investiert. Dort haben Häftlinge auch die Möglichkeit, das zu tun, was ihnen auch Spaß macht – nicht nur Teller- oder Wäschewaschen.
Vor allem glaube ich, dass eine Entstigmatisierung von Gefängnissen ein erster Schritt ist. Straffällige Personen haben auch Rechte. Und dass sie irgendwann wieder in die Gesellschaft zurückkommen, wird gerne vergessen. Aber das ist die Realität. Es wird einem Menschen im Gefängnis viel Autonomie genommen. Danach sich wieder in ein Leben einzugliedern, das gewisse Strukturen vorgibt, ist schwierig – unsere Gesellschaft ist nicht fähig, diese Menschen nach der Zeit im Gefängnis wieder aufzunehmen, es gibt für sie keine Unterstützung in Italien. Dabei brauchen sie eine zweite Chance.

Melonis Sicherheitsdekret wird die Zahlen der Gefängnisinsass:innen weiter steigen lassen …
Mit Sicherheit. Vergangenes Jahr wurde in Mailand ein Dekret erlassen, mit dem der obligatorische Schutz von Schwangeren und Frauen mit kleinen Kindern abgeschafft wurde. Die Zahl der Kinder in Gefängnissen wird damit steigen. Auch durch die Tatsache, dass Wiederholungstäter:innen stärker bestraft werden, ist die Zahl schon gestiegen. Wir haben auch bei den Männern jetzt schon eine Wiederholungsquote von 40–60 Prozent das wird vermutlich nicht weniger werden. Man reduziert diese Quote sicher nicht, wenn man die Menschen noch länger und noch härter bestraft – vor allem dann nicht, wenn die Lebensumstände in den Gefängnissen so inhuman sind.

Die Diplomarbeit jetzt irgendwo verstauben zu lassen, wäre sehr schade. Hast du Konkretes geplant?
Ich muss mich jetzt erstmal umschauen. Mir würde es gefallen, in einem Gefängnis zu arbeiten und dort direkt etwas zu bewirken. Die Frauen dort fühlen sich von der Gesellschaft abgeschrieben. „Uns vergessen eh alle“, sagen sehr viele. Die Möglichkeit, diesen Frauen Sichtbarkeit zu schenken, freut mich. Denn die meisten von ihnen sind keine Gewaltverbrecherinnen, sondern handeln aufgrund sozialer Umstände.

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