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Mara Mantinger
Veröffentlicht
am 22.10.2014
LebenEine Enkelin fragt nach der Option

Unerwartet nahe

Veröffentlicht
am 22.10.2014
Die eigenen Großeltern nach der Option zu fragen, bringt nicht nur alte Fotos ans Tageslicht. Eine Familiengeschichte über Dableiber, Spitzel und Kanonikus Gamper.
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Links meine Urgroßeltern mit meiner Oma, rechts meine Ururgroßeltern vor ihrem Hof am Ritten.

Meine Oma und mein Opa sind moderne Großeltern. Sie besitzen ein Handy, schreiben mir E-Mails, wenn ich fürs Studium im Ausland oder auf Reisen bin, und sie lesen BARFUSS. Kurz: Sie leben im Hier und Jetzt. Und dennoch haben sie eine Zeit erlebt, die für mich eine Zeit aus dem Geschichtsbuch, aus der Ferne ist: die Optionszeit.
Sie waren zwar beide noch Kinder, damals im Jahr 1939, doch die Option war nach diesem einen Jahr nicht zu Ende. Sie prägte auch das Leben der 50er-Jahre und lebt in den Köpfen ihrer Generation bis heute weiter. Man braucht nur zu fragen und sie kommt wieder zum Vorschein. An einem Herbstnachmittag ist genau das mein Plan. Denn mir ist klar geworden: Ich kenne alle Fakten, die Prozente, die Jahreszahlen. Doch ich weiß nicht, wie meine eigene Familie damals abgestimmt hat. Vielleicht, weil es unangenehm sein kann, nachzuforschen.

„Wir haben jeden Tag Scherenschnitte aus alten Zeitungen oder Schafelen aus Fensterkitt gebastelt. Wir haben ja die Lehrer nicht verstanden, und sie uns nicht.“

Meine Großeltern sitzen mit mir im Esszimmer. Auf dem Tisch liegen alte Fotos aus ihrer Jugend und ein Fotoalbum, in dem meine Uroma Postkarten gesammelt hat. Die frühsten stammen aus dem Jahr 1908, manche sind in Fraktur-Schrift geschrieben. Auf anderen wiederum stehen die Glückwünsche zum Namenstag neben dem Motiv nicht auf Deutsch, sondern auf Italienisch – Postkarten aus der Zeit des Faschismus. Mein Opa kann sich gut daran erinnern, denn seine ersten drei Schuljahre absolvierte er auf Italienisch: „Wir haben jeden Tag Scherenschnitte aus alten Zeitungen oder Schafelen aus Fensterkitt gebastelt. Wir haben ja die Lehrer nicht verstanden, und sie uns nicht. Lesen habe ich erst in der vierten Grundschule gelernt, als die Wehrmacht Südtirol besetzte und wir wieder deutsche Lehrer hatten.“

Er selbst ist in Latsch aufgewachsen und seine Eltern hatten für „ausi“ optiert – doch gefahren sind sie nie. Trotz vieler Verheißungen: „Man hat die überzeugtesten Nazis nach Österreich und Deutschland gefahren und ihnen wunderschöne Höfe gezeigt. Es hieß, jeder würde so einen bekommen. Nach der Stallarbeit sind die Väter alle zusammengekommen und haben diskutiert. Es waren alle ziemlich niedergeschlagen. Das war eine Zeit, ganz schrecklich.“

„Walscher Fock“

Das betont auch meine Oma immer wieder. Ihre Familie war eine der wenigen in ihrem Dorf am Ritten, die fürs Dableiben optiert hatte. Nicht, weil sie nicht „deutsch eingestellt“ gewesen wären, wie meine Oma unterstreicht. Sondern, weil es für meinen Uropa unvorstellbar gewesen wäre, den schön gelegenen Hof mit Blick auf Rosengarten und Schlern zu verlassen. Das hatte weitreichende Folgen: Häufig hingen morgens an der Haustüre Zettel mit Beschimpfungen, „Walscher Fock“ war noch das Freundlichste. In der Kirche weigerten sich Freunde und Verwandten, sich neben die „Vaterlandsverräter“ zu setzen.

Auch ihres Lebens war sich die Familie nicht mehr sicher: Beinahe wäre meine Uroma im Durchgangslager in Bozen gelandet, von wo aus, wie ich heute weiß, ja sogar Transporte in Konzentrationslager stattfanden. „Meine Eltern haben zwar für hier optiert, aber sie hatten Angst, da uns gesagt worden ist, dass wir unseren Hof aufgeben müssten und nach Süditalien versetzt würden. Deshalb wurde ein Treffen mit Kanonikus Gamper vereinbart. Es sollte auf unserem Hof stattfinden, da er direkt am Wald liegt. Kanonikus Gamper durfte bei uns ja nicht gesehen werden, überall waren Spitzel. Es herrschte Versammlungsverbot. Der Kanonikus ist dann zu uns nach Hause gekommen, und es waren noch ein paar andere Nachbarn da, die auch überlegten, ob sie für hier wählen sollten“, erzählt meine Oma.

„Während dieser Versammlung ist dann plötzlich einer dieser Nazi-Spitzel in unsere Stube hereingekommen.“

Kanonikus Gamper versuchte 1939 nicht nur, im „Tiroler“ die Südtiroler zum Dableiben zu bewegen. Bei Treffen kämpfte er gegen die Ängste der Dableiber, dass ihnen ihr Hof genommen würde und sie in Süditalien „zu Italienern gemacht“ werden würden. „Während dieser Versammlung ist dann plötzlich einer dieser Nazi-Spitzel in unsere Stube hereingekommen. Der hat uns eh schon andauernd bespitzelt, weil wir einen Radio besessen haben – eine Besonderheit damals. Als er gefragt hat, was das hier wäre, ist meine Mutter aufgestanden und hat resolut gesagt ‚Ausi do, do sein lai Gamper‘. Das war nicht einmal gelogen, denn unsere Familie hieß mit Nachnamen tatsächlich Gamper – bloß war sie mit dem Kanonikus nicht verwandt.“
Damit war die Sache aber nicht erledigt: Der Spitzel wollte sie als Bestrafung ins Durchgangslager bringen, doch da mein Uropa nicht da war und meine Uroma schwanger und mit drei Kindern gerade alleine einen Hof zu versorgen hatte, gab er ihr noch Zeit, alles zu organisieren. Durch die Fürsprache des Pfarrers wurde die Anklage gegen sie dann fallen gelassen.

Gelernt zu schweigen

Während meine Großeltern mir ihre Erlebnisse erzählen, wird mir bewusst, wie nahe diese Zeit noch ist. Sie haben sie erlebt, sie lebt in ihnen weiter. Sie wissen, wer überzeugter Nationalsozialist war, wer optiert und wiedergekommen ist. Sie können sich erinnern, wie aus den „Heimatverrätern“ plötzlich die „Retter der Heimat“ wurden, die ihre Höfe nicht verlassen – und Südtirol somit vor der „vollständigen Italianisierung“ geschützt hatten. Und sie erinnern sich daran, wie man dieses Thema tabuisierte, da sich viele in irgendeiner Form selbst schuldig gemacht hatten. Sie haben auch gelernt, darüber zu schweigen. Und deshalb ist es die Aufgabe von uns Enkeln, nachzufragen. Erst dann wird die Geschichte für uns Realität werden – und nur so können wir verstehen, wie diese Konflikte auch noch Jahrzehnte später schweigend mitgetragen werden konnten.

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