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„Erstickt das Land am Tourismus?“ Diese Frage warf die „Süddeutsche Zeitung“ – eines der auflagenstärksten deutschen Medien – vor einigen Monaten auf. Seither überschlagen sich auch in Südtirol selbst die Antworten. Ja, die nördlichste Provinz Italiens befindet sich in einem touristischen Ausnahmezustand. So die einen. „Ausnahmezustand? Genau dieses Schwarz-Weiß-Denken stört mich. Manchmal scheint es so, dass der Tourismus an allem im Land schuld sein soll“, so Daniel Schölzhorn, Obmann der Hoteliers- und Gastwirte Jugend (HGJ). Verhärtete Fronten, offene Fragen und vor allem: viel Gesprächsbedarf. Entlang der Zahlen einer vor Kurzem veröffentlichten Studie der Universität Bozen sowie verschiedener Stimmen zum Tourismus im Land begab sich BARFUSS auf die Suche nach Antworten auf diese brennende Frage.
Fest steht: Der Tourismus gehört zu Südtirol ebenso wie der Pragser Wildsee in die Instagram-Galerie eines jeden Influencers, der etwas auf sich hält. Allein die Zahlen sprechen für sich: In der beschaulichen Alpenprovinz leben 530.000 Menschen. Dazu kommen über 230.000 Gästebetten. Unglaublich viel. Es könnten aber noch mehr sein, glaubt man den regionalen Tourismusverbänden. Tatsächlich steigt die Buchungs-Nachfrage von Jahr zu Jahr. 2022 knackte Südtirol mit über 34 Millionen Nächtigungen die historische Höchstmarke. Dabei wird immer deutlicher: Der Tourismus bringt nicht nur jährlich mehr Millionen, sondern auch immer mehr Konflikte in die kleine und beliebte Alpenregion. Hohe Mieten, volle Straßen und dichtes Gedränge in den Altstädten. Der Historiker und ehemalige Landtagsabgeordnete der Grünen Hans Heiss glaubt deshalb an einen nahen Show-Down. Zwischen Bevölkerung und Tourismusindustrie sowie zwischen Mensch und Natur. Zeit, um innezuhalten und im Gespräch mit ihm und anderen Stimmen aus Tourismus und Gesellschaft der Frage nachzugehen, auf die das Land in den nächsten Jahren eine Antwort finden muss: Wie kann Südtirol nicht nur vom, sondern mit dem Tourismus leben lernen?
„Südtirol hat es in den vergangenen 60 Jahren geschafft, von einem der ärmsten Gebiete Europas zu einer Provinz mit einer unglaublich hohen Lebensqualität zu werden“, schwärmt IDM-Marketing-Direktor Wolfgang Töchterle.
IDM-Marketing-Direktor Wolfgang TöchterleGestern arme Bergbauernprovinz heute Urlaubsparadies
„Piefke!“ Auch in Südtirol hört man immer wieder diesen wenig schmeichelhaften Ausdruck für die zahllosen deutschen Urlaubsgäste im Land. Weniger bekannt ist aber, dass es in Bayern einen ähnlich abwertenden Begriff für die südlichen Nachbar:innen in Tirol gibt: Grattler. Damit bezeichnete man im 19. Jahrhundert alle Tiroler, die mit Familie und einem kleinen Karren voll Obst und dem Nötigsten nach Bayern zogen. Bis ins 20. Jahrhundert hinein schickten zahlreiche Tiroler Bergbauernfamilien sogar ihre Kinder im Frühling allein zu Fuß über die Alpen. Zuhause konnten sie diese nicht ernähren. Als sogenannte Schwabenkinder wurden sie dann auf Kindermärkten als Saison-Arbeitskräfte „verkauft“. Unvorstellbar, wenn man ins heutige Nord- und Südtirol blickt. „Südtirol hat es in den vergangenen 60 Jahren geschafft, von einem der ärmsten Gebiete Europas zu einer Provinz mit einer unglaublich hohen Lebensqualität zu werden“, schwärmt IDM-Marketing-Direktor Wolfgang Töchterle. Würde man auf Südtirols Straßen beliebig Passanten befragen, wem dieser Aufstieg zu verdanken sei, käme die Antwort prompt: dem Tourismus.
So mutmaßt der Tourismus-Experte Hans Heiss. Und vermutlich hat er recht. Und die Befragten ebenso. Seit einigen Jahrzehnten schon rollen nämlich in umgekehrter Richtung abertausende „Grattlervillen“ (bayerisch, abwertend für Campingwagen) und Millionen Autos mit Urlaubsgästen nach Südtirol. Und diese Gäste aus dem In- und Ausland kehren mit dem Kofferraum voller Produkten „made in Südtirol“ wie Speck, Wein oder Loacker-Waffeln wieder zurück. Überspitzt formuliert, mag man meinen. Aber so ähnlich ist es. Vor allem seit mit der IDM ein landeseigener Dienstleister eigens die Marke und Destination Südtirol im In- und Ausland bewirbt und sie noch bekannter macht. Mit einem Budget von über 40 Millionen und fast zweihundert Mitarbeiter:innen. Und die gestiegenen Gäste- und Verkaufszahlen scheinen ihrer Marketing-Strategie recht zu geben. Das allgemeine Glaubensbekenntnis lautet hierzulande also vielfach: Der Tourismus hat uns reich gemacht und tut dies auch weiterhin. Hans Heiss formuliert es wie folgt: „Das geltende Narrativ ist und bleibt: Ohne den Tourismus geht nichts in Südtirol.“
„Ich glaube, dass viel mehr Personen in Südtirol dem Tourismus positiv gegenüberstehen, als es den Anschein hat und uns ständig weisgemacht wird. Die jüngsten Studien haben das bewiesen.“
Daniel Schölzhorn, Obmann der Hoteliers- und Gastwirte JugendEr fügt aber hinzu: „Dabei ist das eine radikale Fehleinschätzung.“ Der Tourismus ist zwar ein wichtiger Sektor. Aber dennoch werden insgesamt nur 11,4 Prozent der Wertschöpfung hierzulande direkt durch den Fremdenverkehr erzielt. Das Gastgewerbe liegt damit deutlich hinter der Industrie auf Rang zwei. Der Junghotelier Schölzhorn betont aber die indirekte Wertschöpfung. Also die positiven Auswirkungen des Tourismus auf Handwerk, Arbeitsplätze und damit Einkommen und Wohlstand im Land insgesamt. Er vermutet: „Ich glaube, dass viel mehr Personen in Südtirol dem Tourismus positiv gegenüberstehen, als es den Anschein hat und uns ständig weisgemacht wird. Die jüngsten Studien haben das bewiesen.“ Tatsächlich: In einer repräsentativen Befragung des Eurac Center for Advanced Studies in Bozen gaben im Jahr 2020 rund 77 Prozent der Befragten an, dass die Vorteile des Tourismus für Südtirol überwiegen. Sie haben wohl recht, denn die Vorteile sind groß. „Wer möchte auch nicht dort leben, wo die Lebensqualität derart hoch ist“, so fasst es Wolfgang Töchterle von der IDM zusammen. Kurzum: Südtirol lebt seit Jahrzehnten gut vom Tourismus. Die IDM will aber noch höher hinaus.
Das hoch gegriffene Ziel der Marketing-Strateg:innen lautet: Südtirol zum „begehrtesten nachhaltigen Lebensraum Europas“ zu machen. Ein Schlaraffenland der Nachhaltigkeit. Auf dem Weg dorthin betreibe die IDM „Tourismusmanagement und Besucherstromlenkung“, wie Wolfgang Töchterle sagt. Man wolle die Nebensaison stärken, damit ganzjährig Tourist:innen ins Land kommen und sich nicht nur in der Hochsaison um die Hot-Spots drängen. Südtirol, ein nachhaltiger begehrter Lebensraum für Einheimische und Gäste? Dabei ist der Lebensraum auch dank IDM inzwischen so begehrt, dass man ihn sich als Normalverdienende:r nicht mehr leisten kann. Der Immobilienriese Engel&Völkers veröffentlichte auf seiner Website vor kurzem einen Beitrag unter dem Titel: „Wohnen in Südtirol: Nachfrage aus dem Ausland sorgt für steigende Preise.“ Allein im Jahr 2022 haben die Preise um 3,2 Prozent zugelegt. Die Landeshauptstadt muss sich mit einem Quadratmeterpreis von 5.000 Euro im Ranking der teuersten Immobilien italienweit nur Mailand geschlagen geben. Die Immobilien-Makler zeigen sich zufrieden mit dieser Entwicklung. Aber zufrieden kann hier nur sein, wer schon ein Eigen-, Zweit- oder im besten Fall gar Drittheim besitzt. Für einen großen Teil der Bevölkerung bedeuten diese Zahlen vorerst nicht ein Plus auf dem Bankkonto, sondern schlicht, dass sie sich in Bozen nie eine Eigentumswohnung werden leisten können. Und genau so schlecht schätzen die Befragten in der jüngst veröffentlichten Studie der Universität Bozen die Lage am Südtiroler-Immobilienmarkt ein.
Inwieweit der Tourismus diese hohen Preise hervorruft, bleibt aber fraglich. Belastbare Studien, geschweige denn eindeutige Zahlen liegen hier nicht vor. Während die Nächtigungsrekorde monatlich vom Landesstatistikinstitut Astat beziffert und publiziert werden, kann man hierzu nichts Genaueres sagen. Aber einerlei: Eine gefühlte Wahrheit wiegt häufig ohnehin schwerer als hundertseitige Statistiken. Bei einer Umfrage der Eurac sahen jüngst nämlich fast 80 Prozent der Befragten im Tourismus einen Treiber für höhere Wohnungs- und Lebensmittelpreise. 23 Prozent gaben an, sie würden sich für die Zukunft weniger Tourismus in Südtirol wünschen. Nur 11 Prozent sprachen sich für mehr aus. In einer wiederum vor wenigen Wochen veröffentlichten repräsentativen Erhebung der Uni Bozen schätzen rund 13,1 Prozent der Befragten den Einfluss des Tourismus auf die Lebensqualität in Südtirol „überwiegend negativ“ ein und ganze 43 Prozent sprachen sich in dieser neuen Umfrage für weniger Tourismus aus. Doppelt so viele wie in der Studie von vor zwei Jahren. Kippt also gerade die Stimmung im Land? Und was wäre die Alternative? Weniger Tourismus und dadurch niedrigere Preise?
Glaubt man Töchterle, sind die steigenden Immobilienpreise ohnehin unvermeidbar: „Um den Trend umzukehren, müsste die Lebensqualität in Südtirol verringert werden. Aber ganz ehrlich: Das will man doch auch nicht.“ Andere naheliegende Lösungen klammert der Marketing-Experte hier gekonnt aus oder sieht die Politik in der Verantwortung. Südtirol könne wie andere Regionen Europas gesetzliche Rahmenbedingungen schaffen, um die Immobilienpreise zu senken. „Für die Umsetzung sind allerdings andere Akteure und nicht die IDM gefragt”, so Töchterle. Die Politik zeige aber wenig Veränderungswille, glaubt Hans Heiss. Seit Jahren gäbe es beispielsweise mehr Tourismus-Neubauprojekte als Zonen für den sozialen Wohnbau. Steingewordene Ungerechtigkeit? Auf eine Zahl gebracht: 70 Millionen wurden in den letzten vier Jahren hierzulande für die WOBI und sozialen Wohnbau ausgegeben. Nicht einmal halb so viel Geld wie für die IDM. Die Expansion und Bewerbung des Tourismus läuft also trotz Preissteigerung munter weiter. Der Tourismus will oder muss schließlich hoch hinaus. Die Frage bleibt aber: Kann und soll es immer weiter nach oben gehen?
„Wir haben das Limit erreicht. Das Limit der Ressourcen, das Limit des Verkehrs und das Limit des Wohnungsmangels. Zu einigen Zeiten war es unerträglich.“
Arnold SchulerNein: „Wir haben das Limit erreicht. Das Limit der Ressourcen, das Limit des Verkehrs und das Limit des Wohnungsmangels. Zu einigen Zeiten war es unerträglich.“ Das sind nicht die Worte eines Umweltschützers, sondern des Landesrates für Tourismus Arnold Schuler. Südtirol ist demnach am Limit. Hunderttausende Amerikaner:innen konnten diese alarmierende Einschätzung Schulers Mitte April auf „CNN online“ lesen. Damit begründete der SVP-Politiker das sogenannte Bettenstopp-Gesetz.: „Auf diese Weise wird es den Touristen besser gehen, sie werden ein qualitativ hochwertiges Angebot haben, und auch den Einwohnern wird es besser gehen“, sagte Schuler. Allen wird es jetzt also besser gehen. Ein sanfterer Tourismus, der die negativen Wirkungen des Reisens aus ökologischer und soziokultureller Perspektive gering und die Einnahmen hochhalten möchte. Problem gelöst?
Nachhaltigkeit – ein schreckliches Wort und guter Weg
So etwas wie Slow-Tourism, sanften Tourismus gäbe es nicht, hält Hans Heiss dagegen: „Tourismus ist ein Wegbereiter der Modernisierung und hat deshalb alle Licht- und Schattenseiten unserer kapitalistischen Wirtschaftsform. Und solange diese weiter auf Wachstum, auf ein mehr und mehr pocht, wird es schwierig. Der Markt verzeiht Stillstand nicht. Man muss schließlich gegenüber den Mitbewerber:innen konkurrenzfähig bleiben.“ Daran wird auch die Tourismusbranche weiterhin festhalten, so Heiss. Hotelier Daniel Schölzhorn prangert schon jetzt den durch den Bettenstopp verordneten Stillstand an: „Für mich ist es sehr schwierig, junge Kolleginnen und Kollegen noch für den elterlichen Betrieb zu begeistern und positiv zu stimmen. Junge Menschen haben Träume, wollen etwas erreichen und bewirken und diese Träume auch umsetzen. In allen anderen Sektoren dürfen sie dies, in unserem nicht mehr.“
Ein Mehr und Mehr wird es auf absehbare Zeit jedenfalls nicht geben. Wie Träume aber auch anders verwirklicht werden können, zeigt indes der Junghotelier Stefan Mahlknecht. Seit einigen Jahren führt dieser zusammen mit seiner Mutter und seiner Lebensgefährtin das familieneigene 4*s-Hotel in Völlan und sagt: „Dass man als Vier-Sterne-Hotel alle paar Jahre einige Millionen investieren muss, das kanns nicht sein.“ Sie haben deshalb nicht lange darüber nachgedacht und einen neuen Weg eingeschlagen: „Wir glauben, wichtiger als allen neuen Branchen-Trends nachzurennen, eine neue Saunalandschaft hier, ein neues Hallenbad da, sind die eigentlichen Mega-Trends, also Klimawandel, Ressourcenknappheit und Urbanisierung“, so Mahlknecht, der nach kurzer Pause hinzufügt: „Diese werden nämlich kommen, ob wir wollen oder nicht.“ Die einzige Lösung sei deshalb ein nachhaltigeres Wirtschaften beziehungsweise ein holistisches Nachhaltigkeitskonzept, wie Mahlknecht sagt. Um dann selbst hinzuzufügen: Nachhaltigkeit ist ein schreckliches Wort. Und holistisch? Klingt geradezu esoterisch.
„Wir glauben, wichtiger als allen neuen Branchen-Trends nachzurennen, eine neue Saunalandschaft hier, ein neues Hallenbad da, sind die eigentlichen Mega-Trends, also Klimawandel, Ressourcenknappheit und Urbanisierung“
Stefan MahlknechtDabei sei nachhaltiges Wirtschaften aber ganz im Gegenteil ein Weg, der mit konkreten, kleinen Schritten beginnen müsse. Plastik reduzieren, Recycle-Papier einsetzen. Oder einfach mit einem Bauern in der Nähe sprechen, das kostet nichts. Und dann Produkte direkt von seinem Hof beziehen. Nur so werde Nachhaltigkeit von einer leeren Phrase zum funktionierenden Konzept. Inzwischen gäbe es in seinem eigenen Hotel beispielsweise einen Tag, an dem man nur Produkte aus der nahen Umgebung verwende. Andere Lebensmittel wiederum werden gar nicht angeboten, falls sie nicht gerade Saison haben. Doch kann dieser freiwillige Verzicht funktionieren? Ja, glaubt Mahlknecht. Jede:r Urlauber:in kann verstehen, dass er oder sie nicht König:in ist, sondern Gast. Zu Gast in einer wunderschönen Region mit enormem Potential. Eben das suchen und schätzen unsere Gäste und das gilt es zu bewahren. Mahlknecht formuliert zum Schluss den interessanten Satz: „Nicht Tourist, wer will denn heute schon Tourist sein? Man hat sofort das Bild der Selfie-knipsenden Horden am Pragser Wildsee vor Augen.“ In seinem Betrieb möchte Mahlknecht vom Touristen und von der Touristin wieder zurück zum Gast. Hin zu einem anderen Tourismus also.
Diese Transformation wird schwierig, glaubt Hans Heiss. Wie jede wirkliche Veränderung innerhalb der Tourismuslandschaft hierzulande. Inmitten der starken Player im Land, der Tourismus-Verbände, HGV, HdS, IDM und so weiter. Sie spinnen immer weiter am Narrativ: Ohne Tourist:innen sei Südtirol am Ende. So Hans Heiss, der im nächsten Satz ironisch lächelnd feststellt: „Keine Woche, in der das Bild von HGV-Präsident Pinzger nicht das Tagblatt ‚Dolomiten‘ ziert.“ Oder in einem anderen Athesia-Medium. Wie auch nach Veröffentlichung der jüngsten Studie zu Lebensqualität und Tourismus in Südtirol, die den durchaus differenzierten Blick der Bevölkerung auf den Tourismus zeigt und Ausgangspunkt einer Diskussion über seine Neuausrichtung hätte sein können. Tatsächlich: Pünktlich einen Tag nach Publikation der Befragung erhält der „oberste Touristiker des Landes“, wie es heißt, auf dem Athesia-Portal stol.it das Wort: „Das habe ich alles schon vor zehn Jahren gesagt.“ So der vielsagende Titel des Pinzger-Interviews.
Die „Dolomiten“ und restlichen Athesia-Medien als Sprachrohr der Tourismus-Befürworter:innen im Land? Fest steht: Die Athesia-Gruppe hält über 80 Prozent des lokalen Medien- und Anzeigenmarktes in der Hand, und ballt sie für die Tourismusindustrie immer wieder zur Faust. Und damit auch für sich selbst: Das Hotel Therme Meran, die Schnalstaler Gletscherbahnen und dazu noch eine Hand voll Hotels finden sich im Portfolio der Medienmacher. Und es sollen noch mehr werden. Die Athesia-Gruppe plant am Fuße des Skigebiets im Schnalstal ein Almdorf mit 350 Gästebetten. Während Stefan Mahlknecht mit seinem Hotel einen neuen Weg einschlagen will, scheint die allgemeine Marschrichtung auch weiterhin: nach oben. Höher, schneller, weiter. Laut vorangetrieben von lokalen Medien und Verbänden. Wie kann man als tourismuskritische Stimme hier überhaupt zu Wort kommen?
„Wir müssen nämlich vor allem zu verstehen geben: Verzicht heißt nicht, dass wir auf Komfort verzichten. Bei einem ideal ausgebauten Zugnetz heißt nicht Auto zu fahren nicht zu verzichten, sondern ist sogar ein Mehrwert: eine gemütlichere und zuverlässigere Mobilität mit weniger Emissionen.“
FFF-Aktivist Moritz HolzingerTourismus neu denken: Stimmen zwischen geschlossenen Türen und Straßen
Auch Moritz Holzinger, ein 24-jähriger Aktivist bei Fridays for Future (FFF) Südtirol, stellt sich diese Frage. Und stimmt Heiss zu. Ja, man muss in Südtirol gegen einen Tourismus-Grundtenor ansprechen, inmitten der lauten Interessenverbände. Und er nennt ein konkretes Beispiel. „Erst vor ein paar Wochen hat das Land den Entwurf des zweiten Teils des Klimaplans vorgestellt. Vertreter aus den verschiedenen Vereinen wie HGV, HdS und Bauernbund waren vor Ort.“ Ernüchtert stellt Holzinger fest: „Traurig, dass wir nicht eingeladen waren. Es geht um den Klimaplan und wir als FFF sind nicht dabei.“ Die einzige Möglichkeit scheint deshalb, sich radikaler zu Wort zu melden: „Deshalb haben wir eine spontane Kundgebung abgehalten.“ Zugleich ist sich Holzinger aber bewusst, dass man die Menschen – gerade in Südtirol – nicht verschrecken darf. Auch wenn er persönlich Aktionen wie die der sogenannten Klima-Kleber:innen begrüßt, wird FFF keine ähnlichen Protestformen wählen.
Auch nicht gegen den Massentourismus, der immer mehr zur Gefahr für Mensch und Natur zu werden droht. „Wir müssen nämlich vor allem zu verstehen geben: Verzicht heißt nicht, dass wir auf Komfort verzichten. Bei einem ideal ausgebauten Zugnetz heißt nicht Auto zu fahren nicht zu verzichten, sondern ist sogar ein Mehrwert: eine gemütlichere und zuverlässigere Mobilität mit weniger Emissionen.“ Nachhaltigkeit nicht als Verbot, sondern als Vorteil. Und Tourismus nicht als reiner Sündenbock, sondern als Möglichkeit. Immer wieder betont Holzinger überraschenderweise nämlich auch die Bedeutung des Tourismus für unser Land. Er vergisst dabei aber nicht aufzuzeigen, was derzeit falsch läuft. Und Lösungsvorschläge zu formulieren. Zentral sei dabei immer, die Bevölkerung und Natur unseres Landes im Blick zu haben und zu bewahren. Erst dann komme der Tourismus. Denn – hebt Holzinger hervor – nur deswegen kommen die Menschen überhaupt erst in unser Land.
Im Gespräch mit dem Aktivisten klingt an vielen Stellen geradezu das Echo des Gastronomen Mahlknecht an. Dieser hatte zu denken gegeben: „Heute hört man noch von vielen Betrieben: Nachhaltigkeit können wir uns nicht leisten. Dabei wird es spätestens in ein paar Jahren so sein, dass wir uns nicht leisten können, nicht nachhaltig zu sein.“ Rein wirtschaftlich gesehen. Ganz pragmatisch fügt Mahlknecht hinzu: „Man denke nur einmal daran, wenn die Generation der FFF-Aktivist:innen in ein paar Jahren zur wichtigsten Besuchergruppe wird.“ Mahlknecht und Holzinger an einem Tisch, das ist vorstellbar. Gastwirt und Aktivist sind sich nämlich einig: Es gilt neue Wege zu gehen. Auch um wirtschaftlich zu überleben. Stillstand bedeutet nicht gleich Stillstand.
Und Fortschritt im Umkehrschluss auch nicht immer neue Hotelbetten: „Mein Wunsch wäre, dass junge engagierte Menschen auch weiterhin die Möglichkeit haben, ihre elterlichen familiengeführten Betriebe weiterzuentwickeln und die Chance erhalten, ihre Visionen auch umzusetzen. Dazu ist aber eine positive Grundstimmung zum Sektor notwendig.“ So hatte es Daniel Schölzhorn formuliert. Und dem kann man wohl zustimmen, unter der Prämisse, dass auch der Sektor bereit ist sich zu ändern. Sich anders weiterzuentwickeln. Nur so wird man auch weiterhin attraktiv sein. Und nicht zur endgültig letzten Generation, die gut vom Tourismus lebt, sondern zu einer Generation, die auch weiter gut mit dem Tourismus leben kann. Wie soll dieses Zusammenleben aber konkret aussehen?
Hier wird es schwierig. Ebenso schwierig wie bei Wolf und Bär. „Denn der Tourismus ist eine Art Bär, der schon lange auf unserem Territorium lebt, und dessen Gefährlichkeit nicht weniger stark wiegt als beim realen Bären.“ So süffisant formuliert es zumindest Hans Heiss. Tierschützer und Landwirtschaft sind sich hier ebenso uneins wie Tourismustreibende und Kritiker:innen. Es ist aber eine Frage, auf die wir schnell Antworten finden müssen. Über die wir immer und immer wieder sprechen müssen. „Damit unser Land nicht vom Tourismus gefressen wird“, so Hans Heiss.
„Denn der Tourismus ist eine Art Bär, der schon lange auf unserem Territorium lebt, und dessen Gefährlichkeit nicht weniger stark wiegt als beim realen Bären.“
Hans HeissTourismus – Der Bär im Raum
Aber nur wenige Tage nach dem Interview mit Hans Heiss scheint die Sorge beim Landesrat für Tourismus Arnold Schuler eine ganz andere. Nachdem die Nachricht über den Tod von Andrea Papi durch einen Bärenangriff im Nonstal nach Deutschland gedrungen war, meldeten sich besorgte deutsche Gäste beim Außenamt: Ist Südtirol ein sicheres Reiseziel oder so etwas wie ein Bären-Risikogebiet? Es galt deshalb schnellstmöglich klarzustellen und zu beschwichtigen: Die Bären sind nur im Trentino, nicht in Südtirol. Hierzulande ist alles sicher und alles gut. Ein schnelles Telefonat. Einige Zeitungsartikel. Damit die Autokolonnen weiterhin über den Brenner rollen. Und das tun sie bisher ungestört. In die immer selbe Richtung. Eine Kehrtwende der Politik hin zum nachhaltigen Wirtschaften halten sowohl Holzinger als auch Mahlknecht ohnehin für unwahrscheinlich. Deshalb hat der Hotelier Mahlknecht auf eigene Faust einen anderen Weg eingeschlagen. Und deshalb engagiert sich Holzinger auch jenseits der politischen Institutionen. Junghotelier und Aktivist versuchen mit vielen Menschen in Verbindung zu treten, die auch anders denken, etwas verändern wollen. Um dadurch etwas in Bewegung zu setzen.
Nachhaltigkeit fange nämlich mit kleinen Schritten an und werde dann irgendwann ein Selbstläufer. Nicht über politische Interessenverbände und Nachhaltigkeitsfestivals. Nicht von heute auf morgen. Vor einigen Jahren war die Fridays for Future-Bewegung dabei, mit kleinen Schritten eine kritische Masse zu bilden, eine Revolution in Gang zu setzen. Damals füllten sich die Straßen der Südtiroler Landeshauptstadt mit Jugendlichen. Momentan füllen sie sich wieder mit Autokolonnen. Die brennende Frage bleibt deshalb, ob diese kritische Masse an Wirtschaftstreibenden wie Mahlknecht, die bereit sind, etwas zu verändern, schneller erreicht ist als die kritische Masse an Tourist:innen im Land und an kritischen Südtiroler:innen wie Holzinger, die ihre Stimme gegen dieses „Immer mehr“ der letzten Jahre erheben.
Mahlknecht ist zuversichtlich. In fünf bis sieben Jahren sei es soweit. Ob so viel Zeit bleibt, bevor die Stimmung im Land kippt? Glaubt man HGV-Chef Pinzger, ist die Stimmung im Land gut, nicht trotz, sondern dank des Tourismus. In seinem „Dolomiten”-Interview liest man: „Wenn rund 60 Prozent der Befragten angeben, dass sie mit ihrem Leben ‘zufrieden’ oder ‘voll und ganz zufrieden’ sind und optimistisch in die Zukunft blicken, dann dürfen dazu auch der Tourismus und die Gastronomie mit ihren Dienstleistungen auch für die ein heimische Bevölkerung beigetragen haben.” Die wichtigere Frage sollte aber sein: Was ist mit den 20 Prozent, die nicht zufrieden sind?
Hans Heiss ist deshalb skeptischer. Südtirol erwarte bereits in drei bis vier Jahren einen Showdown zwischen der Tourismusbranche und ihren Kritiker:innen. Zwischen den Junghoteliers, die mit ihren Hotels auch weiterhin ihre Träume verwirklichen wollen und Geld in die Landeskassen sprudeln lassen. Und den Menschen im Land, die vom Tourismus nicht direkt profitieren und für die ein Eigenheim immer ein Traum bleiben wird. Aber Zukunftsprognosen hin oder her, sicher ist: Ein erster Showdown für die Rolle des Tourismus in Südtirol steht unmittelbar bevor. Die Landtagswahl im Herbst. Wichtigster Akteur sind dieses Mal nicht Verbände und Gastronom:innen. Alle Bürger:innen sind dazu aufgerufen ihre Stimmen abzugeben. Das Ringen um die Rolle des Tourismus in Südtirol geht damit in die nächste Runde. Noch viele weitere werden folgen. Aber es liegt an der nächsten Regierung schnellstmöglich Antworten auf viele offene Fragen zur Zukunft des Tourismus zu finden. Denn feststeht: Die Zeit spielt in diesem Showdown gegen uns.
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