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BARFUSS:Mit den eigenen Gefühlen umzugehen, fällt selbst Erwachsenen schwer. Was bedeutet es für Kinder, wenn Wut, Scham oder Angst aufkommt?
Heike Torggler: Emotionen sind wie Wellen. Für kleinere Kinder sind es Naturgewalten. Mit welcher Wucht diese Emotionen über die Kinder kommen, sehen wir zum Beispiel, wenn sich ein Kind auf den Boden wirft, weil es etwas nicht bekommt, schreit und strampelt. Jüngere Kinder brauchen die Begleitung von uns Erwachsenen, Hilfe beim Surfen dieser starken Gefühlswellen. Halt, Schutz, Trost, manchmal auch Grenzen. Wenn Kinder dann älter werden, lernen sie, Gefühle selbst zu regulieren und schauen sich das von uns Großen ab. Sie lernen aber auch, welche Emotionen in der Familie erwünscht sind, welche hingegen weniger, und wie sie diese unterdrücken bzw. verstecken, um negative Reaktionen zu vermeiden.
Gefühle unterdrücken – das klingt nicht gesund.
Das kann natürlich so weit gehen, dass Menschen negative Emotionen wie Angst, Wut, Eifersucht oder Scham überhaupt nicht mehr zum Ausdruck bringen und eine Maske aufsetzen. Bereits Kinder überspielen beispielsweise Scham oder Verunsicherung mit einem Lächeln. Erwachsene kommen dann sogar in die Beratung, um wieder mehr in Kontakt mit ihren Gefühlen zu sein und diese auch zu kommunizieren.
Was können Eltern tun, um zu vermeiden, dass ihre Kinder die eigenen Gefühle wegsperren und später darunter leiden?
Je öfter Kinder und Jugendliche Raum für ihre Emotionen bekommen, umso leichter lernen sie, diese zu regulieren. Wenn wir versuchen, sie wegzuschieben, oder die Kinder nur schnell ablenken, dann gelingt das nicht. Wenn ein Kind zum Beispiel auf der Straße hinfällt, dann beobachte ich oft, wie Eltern ihre Kinder aufheben und sagen: es ist ja nichts passiert. Aber für das Kind ist in dem Moment etwas passiert. Deswegen kann es helfen, wenn man es einfach nur in den Arm nimmt, weinen lässt. Es einfach unsere Präsenz spürt und erlebt, dass es mit seinem Gefühl angenommen wird. Dann signalisiert man dem Kind: deine Emotion darf sein. Viel hängt auch damit zusammen, wie die Eltern selbst mit ihren Emotionen umgehen, was sie in der Hinsicht also vorleben.
Müssen Schüler:innen heute mit anderen Emotionen oder Stresssituationen umgehen als früher?
Es zeigt sich in Studien, dass das Stresserleben gestiegen ist. Das gilt nicht nur für Kinder und Jugendliche, sondern auch für Erwachsene. Was ich in meiner Arbeit oft erlebe: Stress und Leistungsdruck machen einem Großteil der Schüler:innen zu schaffen. Dazu gehört auch Mobbing, das vor allem in der Mittelschule steigt, weil im Jugendalter die Empathie nicht sehr ausgeprägt ist. Gerade zu dieser Zeit wäre es deshalb wichtig, das Einfühlungsvermögen zu stärken und den offenen Austausch über eigene Gefühle zu fördern.
Sie brauchen nur immer wieder diesen Raum, wo sie merken, sie werden gesehen, sie werden gehört, sie werden verstanden.
Im Dokumentarfilm „Il cerchio“ von Sophie Chiarello, der beim Bolzano Film Festival Bozen im April 2023 in Zusammenarbeit mit dem Netzwerk GewaltpräventionSüdtirolund der Fachstelle Gewalt des Forum Prävention gezeigt wurde, macht eine Lehrerin mit ihrer Grundschulklasse genau das: Sie bildet jeden Morgen einen Sitzkreis, in dem die Kinder sagen können, was sie bewegt. Sie gibt ihnen also Raum für ihre eigenen Gefühle, und bringt ihnen gleichzeitig bei, die anderen besser zu verstehen.
Genau. Der Film zeigt, dass es nicht viel braucht, damit Kinder ihre Gefühle ausdrücken und sich besser in andere hineinversetzen können. Sie brauchen nur immer wieder diesen Raum, wo sie merken, sie werden gesehen, sie werden gehört, sie werden verstanden. Sobald sie ihre Emotionen ausdrücken dürfen, entsteht auch eine tiefere Verbundenheit miteinander, weil Emotionen universell sind.
Geben Südtirols Schulen den Kindern und Jugendlichen diesen Raum?
Es gibt sehr engagierte Lehrer:innen, die sich die Zeit nehmen, die Kinder und Jugendlichen jeden Tag auf der emotionalen Ebene zu begleiten. Es gibt auch sehr viele tolle Projekte in einem Großteil der Schulen zu Achtsamkeit, Stressmanagement, Teamgeist oder Initiativen, in denen die Persönlichkeitsentwicklung und Kooperation besonderen Raum bekommt. Auch reformpädagogische Konzepte, wie Montessori, Waldorf und so weiter, legen besonderen Wert auf ein gutes Miteinander und begleiten die Kinder im selbstorganisierten Lernen, was meist mit mehr Lernfreude einhergeht. Trotzdem kommt diese Ebene aus meiner Sicht insgesamt noch viel zu kurz.
Was sollten Schulen in dieser Hinsicht besser machen?
Ein erster Schritt wäre sicherlich, solche Sitzkreise, wie wir es im Film gesehen haben, einzuführen oder eine Stunde in der Woche für mentale Gesundheit. Mein größter Wunsch wäre es, dass Schule sich in einen Ort verwandelt, in dem sich Kinder und Jugendliche wohlfühlen. Im Moment ist Schule ein angst- und stressbesetzter Ort für viele Kinder und Jugendliche.
Die meisten Jugendlichen beschreiben, dass sie nicht gern in die Schule gehen, vor allem, weil sie dort Angst und Stress erleben.
Wirklich?
Ich halte seit über 15 Jahren Workshops an Südtirols Mittel- und Oberschulen und erlaube mir diese Aussage, auch wenn in manchen Studien die Schule besser abschneidet. Aber die meisten Jugendlichen beschreiben, dass sie nicht gern in die Schule gehen, vor allem, weil sie dort Angst und Stress erleben.
Wie kann Schule zu einem Ort werden, in dem die jungen Menschen sich wohler fühlen?
Naja, man könnte zum Beispiel den Leistungsdruck minimieren, wenn es möglich wäre, negativ bewertete Arbeiten zu überarbeiten und zu verbessern. Was ich auch als ein großes Problem ansehe, ist das Lernen. Die meisten Kinder und Jugendlichen lernen nur für die Schularbeiten und Prüfungen. Hängen bleibt vom Stoff aber wenig. Ich würde mir in den Sitzkreisen deshalb auch den Raum dafür wünschen, reflektieren zu dürfen: Was habe ich heute gelernt und wozu ist das im Leben gut oder wieso macht es Sinn? Was auch wesentlich wäre: Mehr Raum für Bewegung und Kreativität. Jeden Tag. Denn diese Tätigkeiten bauen Stress ab und ermöglichen es, Emotionen auf andere Art zu zeigen; Also nicht nur sprachlich, sondern mit dem ganzen Körper. Was mir auch immer wieder auffällt: in den Schulen ist schon der Klassenraum oft eiskalt eingerichtet. Das ist kein Ort, wo man sich wohlfühlen kann. Die Klassen sollten den Raum so gestalten dürfen, wie sie es sich wünschen. Das würde die Schule ein bisschen mehr in einen Wohlfühlort verwandeln, wo die Kinder und Jugendlichen gerne lernen.
Was ich mir wünsche, sind zwei Dinge: Mehr Spiel und mehr Interesse für den Menschen.
Ein Thema, das im Alltag vieler Schulen immer präsenter wird, ist die Diversität. Auch Südtirols Klassenräume werden kulturell bunter. Wie gehen Kinder damit um?
Meine persönliche Erfahrung ist es, dass Kinder, die in der Stadt aufwachsen, viel früher mit Kindern unterschiedlicher Kulturen in Kontakt kommen. Für sie ist es daher was ganz Natürliches. Im Spiel finden die Kinder zueinander, vor allem dann, wenn sie sprachlich nicht viel miteinander kommunizieren können. Jugendliche, die hingegen später aus Tälern oder vom Berg in die Stadt kommen, sind weniger auf die Diversität vorbereitet. Wie sie sich dann verhalten, hängt auch stark von den Haltungen in den einzelnen Familien ab. Aber ich merke die Tendenz, dass Jugendliche offener werden. Wahrscheinlich auch, weil sie die Diversität in den digitalen Medien erleben.
Wie können Lehrpersonen die jungen Menschen darin unterstützten, toleranter gegenüber den Anderen zu sein?
Was ich mir wünsche, sind zwei Dinge: Mehr Spiel und mehr Interesse für den Menschen. Also zum einen, dass man spielerisch einen offenen Umgang miteinander fördert. Das kann Sport sein, aber auch ein Theaterstück, ein Kunstprojekt, Musik oder Tanz. Und zweitens, dass Mitschüler:innen auch die Lebensgeschichten der einzelnen Kinder und Jugendlichen kennenlernen. Denn meistens wissen sie nicht viel voneinander. Wenn man weiß, was die anderen erlebt haben, wie es ihnen wirklich geht, dann kann man auch besser verstehen, warum sie sich auf bestimmte Art und Weise verhalten. Lehrpersonen haben natürlich auch die Aufgabe manchmal einzugreifen und Grenzen aufzuzeigen. Im Wesentlichen aber selbst Empathie, Wertschätzung und Respekt vorzuleben.
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