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Anna Faccin ist in Toblach geboren und lebt seit vielen Jahren in Naturns. Die Mutter zweier Kinder arbeitet in der Sanität als Verwaltungsinspektorin, sieht sich aber selbst vor allem als „Behindertenaktivistin“. Seit 20 Jahren ist sie im Verein DEBRA aktiv, der Schmetterlingskindern Hilfe und Unterstützung bietet. Sich selbst bezeichnet sie als „berufsbehindert“ und sieht ihre Behinderung als Teil ihrer Identität.
BARFUSS: Wie würdest du Barriere definieren?
Anna Faccin: Als Barriere stellen sich viele die klassische Stufe vor, die von Rollstuhlfahrer:innen nicht bewältigt werden können. Heute wird aber von Barrieren 2.0 gesprochen. Es gibt eine Fülle von körperlichen Behinderungen, die neue Barrieren hervorbringen. Für Rollstuhlfahrer:innen sind jedoch Stufen, kein Aufzug oder zu enge Türen die häufigsten. Menschen mit Sehbehinderung oder mit Hörschädigung treffen auf audio-visuelle Barrieren und benötigen diesbezüglich Instrumente. Barrierefreiheit bedeutet Gebäude, öffentliche Plätze, Arbeitsorte, Wohnungen, Verkehrsmittel, Gebrauchsgegenstände, Dienstleistungen, Freizeitangebote so zu gestalten, dass sie für Menschen mit Behinderung zugänglich sind. Weiters fallen darunter die Erneuerung und Aktualisierung von vielen Technologien und die Verwendung von leichter Sprache.
Was ist der Maßstab für Barrierefreiheit?
Ein Maßstab sollte sein, die Inklusion von Menschen mit Behinderung voranzutreiben. Im Mobilitätszentrum Bruneck oder im Bahnhof Bozen finden Menschen mit Behinderung wenig Berücksichtigung. Sie wurden von Anfang an in der Realisierung nicht miteinbezogen. Genau das ist das Wichtigste für die Barrierefreiheit.
Barrierefreiheit bedeutet Gebäude, öffentliche Plätze, Arbeitsorte, Wohnungen, Verkehrsmittel, Gebrauchsgegenstände, Dienstleistungen, Freizeitangebote so zu gestalten, dass sie für Menschen mit Behinderung zugänglich sind.
Was kann alles eine Barriere darstellen?
Toiletten sind oft auch dann nicht barrierefrei, wenn ein behindertengerechtes Klo verfügbar ist. In einigen Fällen wäre eine zusätzliche Hebebühne notwendig. Dann gibt es auch Barrieren, die Assistenz bedeuten. Jemand, der zwar die notwendige Rampe im Haus hat oder den Weg zum Arbeitsplatz „barrieretechnisch“ zurücklegen kann aber keine persönliche Assistenz zur Verfügung hat, der kann schlicht und einfach nicht am Leben teilnehmen. In diesem Fall ist Assistenz ein zentrales Kriterium der Barrierefreiheit. Diesbezüglich bilden wir im deutschsprachigen Raum das Schlusslicht… Es fehlt an allen Ecken und Enden. Vor allem sind die Eltern für die persönliche Assistenz zuständig.
Was oder wer ist hierfür verantwortlich?
Hierzulande sind wir in einer medizinischen Denkweise gefangen, wie beispielsweise der Begriff Pflege zeigt. Menschen mit Behinderung haben aber ein Recht auf persönliche Assistenz, die wie ein normaler Job und monetär wertgeschätzt sein soll. Wir wollen selbstbestimmt leben und nicht von irgendjemand abhängig sein.
Welche Zustände kritisierst du besonders?
Die Zustände in den öffentlichen Verkehrsmitteln. Für Menschen mit Behinderung ist es spontan nicht möglich einen Bus und Zug zu nehmen oder in ein Taxi zu steigen. Ich habe eine Zeit in London gelebt und da hatte jedes Taxi eine Rampe. Wieso ist das hier nicht möglich? Es sollte gesetzlich vorgeschrieben sein, eine Rampe in den Taxis einzurichten. Zumindest in jedem dritten. Die Situation in den Bussen ist auch nicht akzeptabel. Es gibt zwar viele Pläne, doch die allermeisten Busse sind für uns nicht zugänglich. Es ist immer eine 50-50-Chance, ob ich überhaupt in den Bus gelange. Oft, wenn es rein technisch möglich wäre, schaffen die Busfahrer es nicht die Hebebühne runterzulassen. Skandalös! Bei den Zügen ist es nicht viel besser. In Italien gibt es einen Dienst, der sala blu heißt. Diesen muss man 72 Stunden vorher reservieren und erst 24 Stunden davor erhält man die Bestätigung, dass wirklich eine Assistenz verfügbar ist. Es gibt auch sehr viele Geschäfte in Südtirols Städten, die nicht barrierefrei sind. Auch der Denkmalschutz stellt eine große Barriere dar.
Menschen mit Behinderung machen 10 Prozent der Gesellschaft aus und stellen somit die größte Minderheit dar.
Warum ist es schwierig die gesetzlichen Vorschriften zur Barrierefreiheit einzuhalten?
Es gibt sehr viele Schlupflöcher und wenig Kontrollorgane. Zwar sind die Antidiskriminierungsstelle und der Monitoringausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderung mit Letzterem betraut und eine Architektin im Amt für Menschen mit Behinderung beschäftigt sich mit behindertengerechter Architektur, doch de facto wird nicht mitgedacht. Der Thermenplatz Meran ist ein Beispiel von vielen. Es gibt nur eine kleine Rampe, sonst sind überall Stufen. Die Menschen denken immer sie machen uns Behinderten einen Gefallen mit barrierefreier Architektur. Menschen mit Behinderung machen aber zehn Prozent der Gesellschaft aus und stellen somit die größte Minderheit dar.
Gibt es best-practice-Beispiele in anderen Ländern?
Eines ist sicherlich das US-amerikanische oder das japanische System. In Japan gibt es sogar behindertengerechte Rolltreppen. In der EU dreht man sich im Kreise der Bürokratie und kommt nicht recht weiter. Doch die skandinavischen Länder ragen hier als positivstes Beispiel hervor.
Sprechen wir von einem kulturellen Problem?
Absolut. Im deutschsprachigen Raum haben sie beispielsweise im Verhältnis zu Südtirol weniger Barrieren, vor allem aber sind mehr persönliche Assistenzen vorhanden. Warum? Ich vermute, dass in Südtirol wiederum die medizinische Denkweise hierfür verantwortlich ist. Sie beruht auf Denken rund um Defizit, Pflege, Heilungssuche. 80 Prozent aller Ressourcen für Menschen mit Behinderung werden hierzulande für nichtbehinderte Menschen ausgegeben, also für solche, die im Behindertenbereich tätig sind.
Was ist daran falsch?
Das dahintersteckende Problem ist, dass wir über diese Ressourcenverteilung so gut wie gar nicht mitentscheiden. Das Motto: „Nichts ohne uns über uns“ ist reine Utopie. Stellen wir uns mal vor, wenn Frauenpolitik von Männern betrieben werden würde und Männer als Zielgruppe hätte. Frauen würden lediglich Nebenakteur:innen darstellen. Das wäre doch absurd.
Du bist Mutter zweier kleiner Kinder. Ist die Mutterrolle für dich auch mit Barrieren verbunden?
Und wie. Ich habe mich bewusst dazu entschlossen Kinder zu bekommen. Da ich auf Hilfe angewiesen bin, habe ich mich an den Sozialsprengel gewandt. Dieser war dermaßen überfordert, dass er mir nahegelegt hat in ein Mutter-Kind-Heim zu gehen. Dies ist gleich zu setzen mit der Aussage: Alle Behinderten sollten in einem Behindertenheim untergebracht werden, aufgrund der hervorragenden Struktur. Ich bin zuhause geblieben und habe mir selbst eine persönliche Assistenz gesucht. Das war eine riesige Herausforderung. Als ich schwanger war kamen die dümmsten Bemerkungen wie: „Wie ist das Kind da rein oder wo ist das Kind raus?“ Vielfach ist es mir aufgrund meiner Behinderung abgesprochen worden, dass ich in der Lage sei Kinder zu erziehen. Für viele Dinge habe ich kämpfen müssen.
Kann die Barrierefreiheit politisch oder gesellschaftlich vorangetrieben werden oder ist das eine Sisyphus- bzw. Herkulesaufgabe?
Nein. Wenn wir als Menschen mit Behinderung mehr Wahrnehmung als Gruppe erfahren und mehr aktiv sind, dann würden wir mehr bewegen. Momentan sind vor allem die Eltern aktiv. Wir Menschen mit Behinderung sind somit von anderen repräsentiert. Freiwilligendienste bei persönlicher Assistenz sind die Basis, ohne würde das System zusammenbrechen, da sie ja den Mangel an persönlichen Assistenzen beheben. Leider funktionieren auch sie nur mit Einschränkung und ein Mensch mit Behinderung sollte nicht auf sie angewiesen sein. Unsere Würde leidet darunter, dass wir für unsere Rechte Dankbarkeit zeigen müssen. Einem Freiwilligen muss ich diese quasi entgegenbringen, doch damit werden unsere Rechte nicht ernst genommen. Wir möchten uns auch nicht für Barrierefreiheit bedanken, denn es ist unser Recht, das auch in der UN-Behindertenrechtskonvention von 2008 verankert ist.
Glaubst du, dass diese Konvention hauptsächlich aus finanziellen Gründen schwierig umzusetzen ist?
Ja. Nur weil kein Geld vorhanden ist, schließen wir Menschen aus? Was ist das für ein Diskurs? Es wäre mit den heutigen technischen Möglichkeiten so vieles möglich, man denke an Gebärdeninterpretation von allerlei Veranstaltungen. In der Schule sind sie nicht einmal für Gehörlose vorgesehen. Zeitungen könnten einfache Sprache in ihrer Berichterstattung aufnehmen. Dies würde viel bewirken und nicht viele Gelder verschlingen. Es werden wenig Zeichen gesetzt.
Es darf kein Auftrag vergeben werden, kein Bau abgeschlossen oder keine Benutzungsgenehmigung abgegeben werden, bis Menschen mit Behinderung sie nicht absegnen.
Was müsste sich ändern, dass Menschen mit Behinderung mehr Barrierefreiheit genießen und ihnen grundlegende Rechte zugestanden werden?
Menschen mit Behinderung müssen für ihre Rechte einstehen. Es gab mehrere soziale Bewegungen in den 70er- und 80er-Jahren, die mehr Rechte einforderten. Dann ist alles ein wenig eingerostet und die Eltern haben diese Aufgaben übernommen. Jetzt gibt es neue Inklusionsprobleme, die angegangen werden müssen. Wir werden einen langen Atem benötigen, doch Betroffene müssen für mehr Barrierefreiheit eintreten.
Wie kann man auf die Problematik der Barrierefreiheit eine zufriedenstellende Antwort finden, damit Menschen mit Behinderung sich inkludierter fühlen?
Wir müssten in vielen Entscheidungen konsultiert werden und mit am Tisch sitzen, wenn Dinge besprochen werden, die uns direkt betreffen. Es darf kein Auftrag vergeben werden, kein Bau abgeschlossen oder keine Benutzungsgenehmigung abgegeben werden, bis Menschen mit Behinderung sie nicht absegnen.
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