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Wenn ein Grödner vor einem Glas Rotwein sitzt, dann spricht er nicht. Er grölt, stammelt oder flucht. Im Grödental ist es – vor allem im Nachtleben – schon immer ein bisschen lauter und ausgelassener zugegangen als im Rest Südtirols. Trotzdem ist es in der „Traube“, dem ältesten Wirtshaus in St. Ulrich, heute ruhig geworden – „kultivierter“, wie ehemalige Stammgäste sagen. Sie kommen nur noch selten vorbei.
Anders ist es an diesem kalten, regnerischen Augustabend, die Straßen sind wie leergefegt. Drinnen aber, unter der Holzdecke mit dem eingravierten Datum 1881, herrscht ein lautes Durcheinander. Eine Sängerin und ihre Band singen energisch dagegen an: Balladen von Harold Arlen und italienische Liedermacher aus den 60ern.
Die Einheimischen, die sich zwischen den Tiroler Holzstühlen eingefunden haben, sind wegen der Band hier, sie kennen die Mitglieder. Männer mit weißem Schnurrbart überbieten sich beim Kartenspielen, Student:innen auf Heimaturlaub werfen der blonden Sängerin Kusshände zu. Die Alten, wie Stephan Moroder, sagen mit glänzenden Augen: Es ist fast wie früher.
Früher, das waren die 70er Jahre, als Moroder selbst in der Traube kellnerte: das goldene Zeitalter der Traube. Der beginnende Skitourismus spülte Geld herein und wer in seinen 20ern war, finanzierte damit ein Leben voller Rock’n Roll. Vom damaligen Wirt, dem bärenstarken und launischen Sigi, spricht man heute noch oft. Erst spendierte er Bier und Schnaps, dann, wenn die Betrunkenen zu betrunken waren, warf er sie in hohem Bogen aus dem Lokal.
Etwas sanfter war der Umgang nur mit dem Seppl Decoy. Der Bauer kam mit Pferd und Karren ins Dorf, band sein Tier vor dem Eingang fest und kam zum „Pippeln“ herein. „Sobald er anfing, seine Pfeife mit dem Kopf nach unten zu rauchen, wussten wir, dass er genug hatte“, erzählt Moroder. Man legte den Betrunkenen in den Karren und das Pferd, das den Weg kannte, brachte ihn von allein nach Hause.
„Es war wie im wilden Westen.“
Heute genießt das Grödental einen anderen Ruf. Die Pferdestärke ist nur noch in den Motoren der Teslas, Jaguars und BMWs zu finden, die während der Hochsaison die Straßen zwischen Wolkenstein und St. Ulrich verstopfen. Die Tourist:innen kommen aus aller Welt – aus England, Russland und den Niederlanden, mittlerweile sogar aus Saudi Arabien. Mit Merinowollhemd und Moncler-Jacke treten sie in die Grödner Luxuslokale ein, eine Nacht im Hotel kostet von 250 Euro aufwärts.
Doch das ist nicht der einzige Preis fürs Urlaubsparadies. Ein dorfbekannter Alkoholiker, der bei Dorffesten immer krakeelend neben der Musikkapelle herlief und den Dirigenten spielte, wurde neulich festgenommen. Wer spätabends grölend über die Strada Rezia im Dorfzentrum torkelt, muss mit Geldbußen rechnen. Lärm und Extravaganzen werden nicht mehr geduldet, beklagen ältere Grödner wie Moroder: „Das Dorf ist nur noch Fassade, das Idyll für die Tourist:innen darf nicht gestört werden. Es gibt keinen Platz mehr für Originale.“
Einer der wenigen Orte, wo alles noch so aussieht wie früher, ist die Traube. Vom alten Kachelofen bis zu den Linoleum-Tischen, hat sich – zumindest bei der Einrichtung – nichts geändert. Ganz anders ist aber die Kundschaft. Statt Ladinisch, einer, hört man Englisch, Italienisch, Niederländisch, Russisch, Standarddeutsch. Gesprochen wird es von zahlungskräftigen Gästen, die mit geradem Rücken zwischen den Tiroler Holzstühlen und dem alten Kachelofen sitzen. Nicht laut und grölend, sondern gedämpft und gut artikuliert.
Leanne, die heutige Betreiberin des Lokals, ist eine Amerikanerin um die 50, sie kam zuerst durch einen Au-pair-Job nach Italien und dann durch die Liebe nach Gröden. „Ich versuche nach bester Kraft, den alten Charme des Lokals aufrechtzuerhalten“, sagt sie. Wenn die richtige Gesellschaft im Haus war und gute Laune herrschte, blieb sie auch mal länger hinterm Tresen oder servierte den Feiernden eine „Spaghettata“, das italienische Hausmittel der Wahl gegen Hangovers.
Nur bei den Preisen geht Leanne mit der Zeit. Ein großes Bier kostet in der Traube knapp 6 Euro, ein Knödeltris 15, schließlich müssten die Kosten gedeckt werden, allein der Koch koste sie rund 3000 Euro im Monat. Zu viel für ein Lokal, das für die Einheimischen eine Stammkneipe bleiben möchte.
So verlegt sich auch der heutige Abend irgendwann in den privaten Partykeller von Stephan Moroder. Sein Sohn Christoph, Anfang 30, hat ebenfalls Freunde mitgenommen, sie schätzen den ungewohnten Retro-Stil und das kostenlose Bier. Bis in den frühen Morgen trällert eine restaurierte Jukebox, Baujahr 1960, mit voller Lautstärke Hits wie „A Horse with No Name“ und „Have You Ever Seen the Rain?“. Die 30-Jährigen tanzen und singen dazu, als wären die Songs der Soundtrack ihrer eigenen Jugend. Lärm ist dank der gedämmten Wände kein Thema.
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