BARFUSS LogoDas Südtiroler Onlinemagazin
BARFUSS LogoSüdtiroler Onlinemagazin

Support Barfuss

Werde Unterstützer:in und fördere unabhängigen Journalismus

BARFUSS LogoDas Südtiroler Onlinemagazin
Sarah Meraner
Veröffentlicht
am 28.08.2024
LebenQueere Literatur

„Literatur – mehr als nur ein ästhetisches Spiel“

Veröffentlicht
am 28.08.2024
Alexander Graeff beschäftigt sich als Philosoph, Autor und Literaturvermittler vor allem mit queerer Literatur. Der Wahlberliner war jetzt Gastredner bei der Summer School Südtirol auf Schloss Velthurns. Im Interview erklärt er, wo queere Literatur aktuell steht, wie Verlage Profit aus ihr schlagen und was wir als Gesellschaft von Oktopoden lernen können.
Damit BARFUSS weiterhin hinterfragen, aufklären, erzählen und berühren kann, brauchen wir DEINE Unterstützung!
Werde Teil unserer Community.
Teile unsere Story

Alexander Graeff (47) ist überzeugt, dass „Identität auf mehreren Spektren verläuft“ und „Menschen gerne zu Kollektiven verkürzt werden“. Graeff ist ein deutschsprachiger Schriftsteller, Philosoph und Literaturvermittler. Er schreibt Lyrik, Prosa sowie biografisch-philosophische Essays. Der Wahlberliner setzt sich für die Sichtbarkeit queerer Personen und Inhalte im deutschsprachigen Literaturbetrieb ein. Am Sonntag war er Gastredner bei der diesjährigen Ausgabe der Summer School Südtirol. In seinem Vortrag „Tentakel ausbilden – Plädoyer für queeres Handeln und Denken“ spricht Graeff über Oktopoden, die ihr Umfeld spielerisch betasten und darüber, dass Bisexualität die „wohl als am meisten von Mythen behaftete sexuelle Orientierung“ ist. Mit philosophischem Scharfsinn und unaufdringlichem Humor erklärt der Autor, dass Heteronormativität auch auf Beziehungen reproduziert wird und anhand konkreter Beispiele, wie der Literaturbetrieb Vorurteile produziert. „Es wird Zeit, neue Geschichten und Mythen zu erzählen“, sagt er. BARFUSS hat den Philosophen im Vorfeld zum Interview gebeten.

BARFUSS: In deinem Essay „Queere Literatur ist politische Literatur“ sagst du, der Berliner Literaturkreis, in dem du anfangs verkehrt bist, war wenig offen für Queerness. Das ist jetzt einige Jahre her – was hat sich inzwischen getan? Wo steht die queere Literatur aktuell?
Alexander Graeff: Es hat sich einiges getan, die Strukturen sind durchlässiger geworden, queere Autor:innen sind sichtbarer geworden als noch vor 15 Jahren. Heute haben wir das Problem, dass einige vor allem größere Verlage inzwischen eine Art Pinkwashing betreiben, das wenig Wert für queere Literatur hat.  (Anm. d. Red.: Pinkwashing bezeichnet Strategien, die durch das Vorgeben einer Identifizierung mit der LGBTQI+-Bewegung bestimmte Produkte, Personen, Organisationen bewerben, um dadurch modern, fortschrittlich und tolerant zu wirken) Das sind Verlage, die im Pride Month zwar die Regenbogenfahne hissen, aber innerhalb des Verlags keine Wertedebatte diesbezüglich eröffnet haben. Sie wissen: Es gibt ein Publikum für queere Literatur und das bedienen wir jetzt. Es geht nicht um eine beständige Sichtbarkeit, sondern um Trends, die sie für den Vertrieb nutzen können. Das sind letztlich Marketing-Konstrukte, die manchmal funktionieren und manchmal nicht. Im Aktivismus gilt es nun zu unterscheiden, ob ein Verlag aus Marktgründen handelt oder ob er davon überzeugt ist, dass Literatur ein Spiegel der Gesellschaft ist. 

Es gibt Verlage, die durch sehr widersprüchliche Perspektiven ein absurdes Programm haben – da finden sich dann zum Beispiel Coming-of-Age-Romane von trans Autor:innen direkt neben rechtspopulistischem Kram.

Kann das in Bezug auf die Sichtbarkeit aber nicht doch von Vorteil sein?
Es kommt auf die Perspektive an. Aus Sicht der Mehrheitsgesellschaft,  könnte man sagen, dass die Leser:innen bereichert werden durch neue Perspektiven, die sie vorher nicht hatten, ja. Für die queeren Autor:innen ist es allerdings nicht von Vorteil. Es gibt Verlage, die durch sehr widersprüchliche Perspektiven ein absurdes Programm haben – da finden sich dann zum Beispiel Coming-of-Age-Romane von trans Autor:innen direkt neben rechtspopulistischem Kram. Das ist für die queere Community aus politischer Sicht ein Problem. In Verlagen, die das aus internen Wertedebatten heraus entwickeln, wäre so etwas gar nicht denkbar. 

Der richtige Verlag als eine Art Safe Space?
Ich halte von dem Konzept nicht viel, weil wir einfach in einer Welt voller Gewalt leben, auch unsere Sprache ist voller Gewalt. Wir können keinen absolut gewaltfreien Raum schaffen, das ist nicht möglich. Einen Safer Space, ja. Ein Safe Space ist ein nicht zukunftsfähiger Idealismus.

Alexander Graeff bei der Summer School Südtirol 2024

Gibt es für dich queere Autor:innen oder Philosoph:innen, die richtungsweisend waren/sind?
Es gibt ja schon sehr lange queere Autor:innen. Aber nicht alle sind aktivistisch tätig. Die Frage ist, inwieweit die sexuelle Orientierung für ihre Literatur eine Rolle spielte – bei vielen war diese nach außen hin auch gar nicht sichtbar. Viele haben es geschafft, das über die Kunst zu vermitteln. Antje Rávik Strubel wäre ein Beispiel dafür – sie trägt durch ihre Romane zur lesbischen Sichtbarkeit bei. Auch Gunther Geltinger würde ich jetzt nicht als Aktivisten bezeichnen, aber die Verlage kommunizieren ihn als schwulen Autor.

Du bist Teil der Queer Media Society (QMS). Wie setzt du dich dort für queere Autor:innen konkret ein?
Die Queer Media Society ist ein ehrenamtlicher Verein und für mich eine Art Dach, unter dem ich aktivistisch tätig bin. Ich koordiniere die Sektion „Literatur/Graphic Novel/Verlagswesen“. Die QMS beschäftigt sich aber mit sehr viel mehr: Musik oder gerade Film ist ein sehr aktiver Bereich, durch den es vor zwei Jahren ein Massen-Coming-Out von Schauspielenden gegeben hat. Durch die QMS nehmen uns beispielsweise Medien und Institutionen wahr und dann entstehen Möglichkeiten, gemeinsam tätig zu werden. Wir organisieren – immer zusammen mit Verlagen und Kooperationspartner:innen – zum Beispiel Panels auf Buchmessen. Unser Ziel ist es, eine beständige Sichtbarkeit für queere Literatur und queere Autor:innen zu erzeugen. Dafür ist es wichtig, ein Netzwerk zu haben.

Kim de l’Horizon erntete, nachdem dey 2022 den deutschen Buchpreis für „Blutbuch“ bekommen hat, nicht nur positives Feedback, sondern auch sehr viele negative und hasserfüllte Kommentare. Wie hast du das erlebt?
„Blutbuch“ ist für mich literatursoziologisch ein Meilenstein und ein wichtiges Beispiel dafür, wie Medien reagieren und der Literaturbetrieb funktioniert. Ich sehe das Ganze kritisch. Das Buch ist bei Dumont erschienen und es wurde ein bisschen suggeriert: Jetzt wissen wir, was queere Literatur ist, jetzt haben wir ein Exempel. Das ist ein ahistorisches Problem, denn es gibt schon seit 30, 40 Jahren so eine Literatur. Manche Independent-Verlage haben schon lange vorher das Potential queerer Literatur erkannt, hatten aber nicht so ein großes Marketing-Budget. Diesen kleineren Verlagen gegenüber, die schon viel früher den Mut hatten, queere Literatur zu veröffentlichen, war das auch unfair: Es kommt ein großer Verlag und räumt gleich den Buchpreis ab. Ich liebe das Buch, es ist großartig und ich freue mich auch für Kim, aber die Art und Weise, wie dann auch die Kritik damit umgegangen ist, zeigt viele Probleme auf. Es wurde sofort eine identitätspolitische Perspektive gewittert, was Kim selbst überhaupt nicht erfüllt. Kim operiert gar nicht mit dem Identitätsbegriff, dazu gibt es Interviews: Es geht Kim um Perspektive, Erfahrung, Solidarität und intergenerationale Fragen, die man mit Literatur sehr gut transportieren kann.

Aus der Sicht der queeren Community, glaube ich, braucht es eine Öffnung. Wir dürfen uns nicht verschließen.

Wie schafft man es als literaturschaffende Person, queere Literatur auch kritischen Menschen näher zu bringen?
Unsere Sprache ist voll mit zementierten Kategorien. Wir sollten überlegen, wie wir diese aufbrechen könnten, zum Beispiel, indem man sich von der Vorstellung löst, dass Literatur nur mit Denken und geistigen Dingen zu tun hat und dass Materie keine Rolle spielen könne. Wenn wir uns von Dualismen lösen, wie Körper-Geist, Frau-Mann usw., würde das schon eine assoziative Lockerung begünstigen – dadurch kann das Schreiben und damit auch die Leseerfahrung in eine ganz andere Richtung gehen, als wir es traditionell gewohnt sind. Literatur kann etwas Lustvolles und Körperliches sein und vielfältige Gedankengänge aufmachen. Es kann mehr sein als ein „Ich lese was und identifiziere mich damit.“ Und weil es in unserer Welt schon fünf vor zwölf ist – in vielerlei Hinsicht–, ist ein neues Denken eine politische und ethische Dringlichkeit. Literatur kann hier ihren Beitrag leisten und mehr sein als nur ein ästhetisches Spiel.

Welche Zukunft steht der queeren Literatur bevor, was glaubst du?
Aus der Sicht der queeren Community, glaube ich, braucht es eine Öffnung. Wir dürfen uns nicht verschließen. Wir müssen weg vom Denken, dass die Mehrheitsgesellschaft immer eine Bedrohung darstellt. Historisch gesehen ist das so, keine Frage, aber es hat keinen Wert, wenn wir uns verschließen und nicht im Dialog mit der Mehrheit bleiben. Insofern finde ich im queeren Diskurs all jene Ansätze spannend, die über die reine Repräsentanz von Geschlechtsidentitäten und sexueller Orientierung hinausgehen – also zum Beispiel die Frage, was Interspezies-Beziehungen ausmachen. Das macht Maxi Obexer in ihrem Roman Unter Tieren ja auch ganz großartig. In der Kommunikation mit nicht menschlichen Mitlebewesen dieses Planeten können wir unfassbar viel lernen. Das zeigt Parallelen zum queeren Denken, gibt aber auch der Community selbst den Anstoß, über den eigenen Tellerrand hinauszugehen. 

Kannst du mir etwas über das Oktopus-Konzept sagen und wie du dazu gekommen bist?
Ich stehe in der Tradition der Philosophin Donna Haraway, die das Konzept des Tentakulärenentwickelt hat. Sie inspiriert mich sehr. Ich versuche ihren Ansatz zu kontextualisieren mit queerem Denken, Bezügen zum Literaturbetrieb und zu soziologischen Fragen. Der Oktopus als Begriffstier zeigt – durch seine fluiden Bewegungen, mit denen er durchs Wasser treibt – als konkretes Beispiel auf, wie man Queerness neu denken könnte. Es ist keine abstrakte Philosophie, die ich da betreibe, auch meine eigene Biografie, mein Aufwachsen in der Provinz und mein Weggehen in die Stadt, – all diese Dinge spielen eine große Rolle. Dadurch wird der Ansatz nochmal konkreter. Ob mir das gelingt, müssen allerdings die Leser:innen beurteilen.

Unser Bewusstsein ist wirbellos. Um der grundlegenden Unsicherheit und Uneindeutigkeit von Welt und Selbst begegnen zu können, müssen wir Tentakel ausbilden, um die Mitwelt sensibel betasten und uns untereinander verwandt machen zu können.

Der queere Blick: Tentakel ausbilden, Alexander Graeff

Die Summer School setzt in diesem Jahr mit dem Thema Queerness sicherlich einen sehr starken Impuls hierzulande. Hast du eine Zusammenarbeit mit Südtiroler Autor:innen, wie Maxi Obexer, geplant?
Ich bin selbst ja ein Dorfkind und hätte auf jeden Fall Lust dazu. Ich finde das immer sehr reizvoll,  nicht-urbane Regionen aufzusuchen – auch auf die Gefahr hin, dass vielleicht Konflikte entstehen. Ich bin auf jeden Fall für alles offen, das weiß Maxi auch (lacht).

Dienste

  • News
  • Wetter
  • Verkehrsbericht

BARFUSS


Support BARFUSS!
Werde Unterstützer:in und fördere unabhängigen Journalismus:
https://www.barfuss.it/support

© 2023 SuTi GmbH
© 2023 SuTi GmbH . Rennstallweg 8 . 39012 Meran . MwSt: 02797340219
DatenschutzCookiesImpressum