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Der körperlichen Norm entsprechende Personen nehmen Menschen mit Behinderung beispielsweise häufig als asexuell wahr. Zudem kommt, dass pädagogische und materielle Sex-Tools für Personen mit Behinderung fehlen. Um das Stigma zu durchbrechen und einen Dialog zu kreieren, haben die „Eco Social Design“-Studierenden der Universität Bozen Jacopo Margaglia, Viola Redaelli und Margherita Poli das Projekt „Zig zag“ gestartet.
Der körperlichen Norm entsprechende Personen nehmen Menschen mit Behinderung beispielsweise häufig als asexuell wahr. Zudem kommt, dass pädagogische und materielle Sex-Tools für Personen mit Behinderung fehlen. Um das Stigma zu durchbrechen und einen Dialog zu kreieren, haben die „Eco Social Design“-Studierenden der Universität Bozen Jacopo Margaglia, Viola Redaelli und Margherita Poli das Projekt „Zig zag“ gestartet.
zebra.: Zig zag entwickelt Sex Toys, die es Menschen mit Behinderung erleichtern sollen, ihre Libido auszuleben. Was können wir uns darunter vorstellen?
Margherita: Konkret haben wir versucht, gemeinsam mit Personen mit Behinderung Instrumente zu entwickeln, die auf ganz persönliche Bedürfnisse eingehen. Einer unserer Projekt-Mitarbeiter hat zum Beispiel Schwierigkeiten, die Beine zu spreizen – was vor allem beim Schlafen sehr unangenehm ist. Zusammen haben wir einen „Spreader“ entwickelt, mit dem die Beine auseinandergehalten werden können. Fast zufällig haben wir dann entdeckt, dass der Spreader auch als Cockring verwendet werden kann!
Jacopo: Ein anderer hatte Schwierigkeiten, die Finger zu strecken, wodurch es für ihn schwierig war, seine Partnerin zu berühren. Mit ihm haben wir Fingerschienen entwickelt. Zusammen mit einer jungen Frau haben wir hingegen aus einer elektrischen Zahnbürste einen Vibrator kreiert, der es ihr erlaubt, sich selbst zu berühren. Mit den Händen schaffte sie es nicht, ihre Vagina zu berühren und die im Handel erhältlichen Vibratoren waren für ihre Arme zu schwer. Deshalb hatte sie schon vorher mit elektrischen Zahnbürsten herumexperimentiert. Wir haben die Zahnbürste einfach weiterentwickelt.
„Hast du je daran gedacht, dass die Liebe deines Lebens eine Person mit Behinderung sein könnte?“
Ihr habt also mit den beteiligten Personen viel über ihre eigenen sexuellen Bedürfnisse gesprochen.
Viola: Ja, es war wirklich überraschend, wie offen die Teilnehmer:innen waren. Anfangs war es allerdings nicht so leicht, Personen zu finden, die teilnehmen wollten – auch deshalb, weil viele gar keine Instrumente benötigen, um ihre Sexualität auszuleben. Sie haben dann vielleicht nicht immer genauso Sex, wie wir uns das aus einer körperlich und kulturell genormten Position vorstellen, aber befriedigen ihre Lust auf anderen Wegen.
Jacopo: Es gibt sowieso keine natürliche Art, die eigene Sexualität zu leben, sondern nur kulturell geprägte. Viele hatten aber Angst, so wahrgenommen zu werden, als hätten sie keinen Sex oder ein Problem damit. Wir arbeiten aber gar nicht mit Problemen, sondern versuchen Tools herzustellen, die das, was sowieso gemacht wird, erleichtern.
Wenn wir von den kulturellen Normen, die unsere Sexualität prägen, absehen: Wo beginnt Sexualität und wo hört sie auf?
Viola: Sexualität fängt mit dem eigenen Körper an. Damit, dass man den eigenen Körper kennenlernt, mit ihm interagiert. In einem zweiten Moment trifft man dann auf andere Körper. Dabei geht es aber nicht nur um Sex als Penetration. Es gibt viele verschiedene Möglichkeiten, mit anderen in einem einvernehmlichen Verhältnis in Verbindung zu treten.
Margherita: Daher auch der Projektname: Zig zag! Sexualität muss nicht immer auf geradem Weg von A nach B, also von der Lust zum Orgasmus durch Penetration, sondern kann auch ganz anders ausgelebt werden. Das ist übrigens ein Bewusstsein, das auch in der LGBTQ-Community sehr verbreitet ist: Die Körpergeografie ist vielleicht eine andere, die Zeiten können anders sein, aber auch die Möglichkeiten und Instrumente, die genutzt werden.
Ich kann mir vorstellen, dass dadurch, dass Sex nicht immer der kulturellen Norm entspricht, sich neue Möglichkeiten, aber auch Dialogfelder öffnen.
Jacopo: Genau. Es geht darum herauszufinden, wo man sich berühren kann oder möchte und wo nicht, wie man miteinander schlafen möchte und welche Möglichkeiten man ausprobieren will. Für viele ist es sehr natürlich, über die eigene Sexualität zu sprechen. So wie wir uns über Essen und Schlafen austauschen, kann man sich auch über Sex austauschen: „Ich tue mich schwer, beim Sex für längere Zeit auf dem Rücken zu liegen. Welche Tricks verwendest du?“
Margherita: Es war überraschend zu sehen, dass das Problem eher bei jenen Personen liegt, die der körperlichen Norm entsprechen: Viele von uns wissen nicht, wie über Sexualität sprechen. Vor allem dann nicht, wenn es um die Sexualität von Menschen mit Behinderung geht. Das kann dazu führen, dass wir uns über das Thema ausschweigen. Aber auch, dass wir den sexuellen Bedürfnissen von Menschen mit Behinderung keinen Platz einräumen. Sexualität wird dann aus medizinischer Sicht ganz einfach auf Reproduktionsmechanismen reduziert.
„Glaubst du, dass Personen mit Behinderung sexuell aktiv sind?“
Viola: Ich glaube, dass alle davon profitieren, wenn wir den sexuellen Bedürfnissen und Wünschen von Personen mit Behinderung mehr Platz einräumen würden. Als der körperlichen Norm entsprechende Personen kommen wir dadurch mit Möglichkeiten in Berührung, die wir ansonsten gar nicht in Erwägung ziehen, weil wir glauben, sie nicht nötig zu haben. Wir können unsere Sexualität und die Art und Weise, wie wir diese leben, also neu gestalten.
Ein Teil eures Projekts konzentriert sich darauf, Sensibilisierungsarbeit zu leisten und das Thema aus dem privaten Raum in die Öffentlichkeit zu drängen. Wie sieht diese Sensibilisierungsarbeit aus?
Jacopo: Zuerst eigentlich so wie wir hier sitzen, beim Kaffee oder beim Aperitif. Wir haben das Thema Sexualität immer wieder zur Sprache gebracht: Hast du gefrühstückt? Hattest du Sex? So konnten wir unter Freunden üben, frei über Sexualität zu sprechen. Speziell zum Thema Sexualität von Personen mit Behinderung haben wir dann eine Art Umfrage durchgeführt, um die Menschen zum Nachdenken zu bringen. Wir haben drei Fragen gestellt, die anonym beantwortet werden konnten: „Glaubst du, dass Personen mit Behinderung sexuell aktiv sind?“, „Hast du dir schon mal vorgestellt, dass die Liebe deines Lebens eine Person mit Behinderung sein könnte?“, und „Glaubst du, dass Personen mit Behinderung eine spezielle sexuelle Erziehung erhalten sollten?“
Und?
Viola: Vor allem die letzte Frage war etwas tricky. Viele haben geantwortet, dass es sexuelle Erziehung für alle brauchen würde. Einmal, weil es diese nicht gibt. Und andererseits, weil man sonst wieder riskiert, Personen zu marginalisieren.
Margherita: Bei den anderen beiden Fragen war das Ergebnis hingegen überraschend: Die meisten Personen glauben zwar, dass Personen mit Behinderung sexuell aktiv sind, gleichzeitig haben viele noch nie daran gedacht, dass die Liebe ihres Lebens eine Person mit Behinderung sein könnte.
„Glaubst du, dass Personen mit Behinderung eine spezielle sexuelle Erziehung erhalten sollten?“
Warum glaubt ihr, dass das so ist?
Margherita: Vielleicht deshalb, weil es für viele schwierig ist, sich ein Leben mit einer Person mit Behinderung vorzustellen. Wir werden so erzogen, dass wir glauben, uns um eine Person mit Behinderung kümmern zu müssen. Dabei sind viele absolut autonom und leiden unter dieser Wahrnehmung.
Jacopo: Ich glaube auch deshalb, weil es eine Vorstellung gibt, in der Personen mit Behinderung und jene ohne unter sich bleiben. Dabei ist eine Behinderung (laut ihrer soziologischen Definition) kein Anhängsel einer Person, sondern entsteht erst durch die Interaktion einer Person mit ihrem Umfeld: Wenn ich keine Treppen steigen kann, bin nicht ich das Problem, sondern die Treppen, die meine Behinderung erst hervorbringen.
Zig zag ist als Abschlussprojekt des Masterstudiengangs „Eco Social Design“ an der Universität Bozen entstanden. Wie geht es jetzt weiter?
Jacopo: Wir müssen reden! Nein, wir würden sehr gerne weitermachen. Unsere Partnerorganisationen „Hackability“ und „Centaurus“ haben auch Interesse gezeigt, uns weiterhin zu unterstützen. Aber wie genau die Zusammenarbeit aussehen kann, wissen wir noch nicht.
Viola: Unser Ziel ist es, all diese Dinge, die im Handel nicht erhältlich sind, zugänglich zu machen. In der Recherche-Phase haben wir Sexshops in Bozen besucht, um zu verstehen, welche barrierefreie Produkte es bereits gibt. Die Verkäufer:innen wussten aber meist gar nicht, wovon wir sprechen.
Jacopo: Dabei wäre das potenziell interessierte Publikum gar nicht so klein! Laut Schätzungen der WHO hat eine von zehn Personen eine Behinderung, sprich: Sie tut sich auf die eine oder andere Weise schwer, mit ihrem Umfeld zu interagieren. Das sind allein in Italien sechs Millionen Personen. Und mit unserer immer älter werdenden Gesellschaft werden die Zahlen steigen. Hier fehlt aber das Bewusstsein. Das Thema geht immer noch über die Wahrnehmungsgrenze hinaus.
Interview: Valentina Gianera
Dieser Text erschien erstmals in der Straßenzeitung zebra. (10.07.2023 – 10.09.2023 | 87).
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