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Als der stadtbekannte Bozner Obdachlose Giovanni Valentin, genannt Hansele, zu Weihnachten des Jahres 2011 ums Leben kam, wurde sein üppiges Vermögen bekannt, das er nie anrührte. Es habe ihn nicht interessiert, er habe auf der Straße leben wollen, hieß es in den Nachrufen auf ihn, sein Leben und Tod wurden verklärt. Francesco Campana sieht es anders: „Es ist nie eine freie Wahl. Wenn du psychisch krank bist, hast du keine Wahl.“ Hanseles Leben und Tod sei keine romantische Geschichte, hätte man früher geholfen, wäre es vielleicht anders gelaufen.
Campana, 26 Jahre alt, ist der Koordinator der Straßensozialarbeit des Vereins Volontarius, der sich in Bozen um Obdachlose kümmert. An zwei Tagen in der Woche ist Volontarius vormittags mit einem Camper im Bozner Bahnhofspark, um den Obdachlosen zu helfen. Die Freiwilligen hören zu, helfen bei der Arbeitssuche und beim Kampf mit den Behörden, die Obdachlosen bekommen mal eine Aspirintablette, einen heißen Tee oder eine Decke. Dreimal pro Woche, immer am Abend, gibt es eine warme Mahlzeit. An den anderen Tagen kümmert sich der Vinzenzverein darum, dass die Menschen zumindest abends etwas Ordentliches zu essen bekommen.
Das Phänomen Obdachlosigkeit ist unglaublich vielfältig. Den „Penner“, der verwahrlost ist, trinkt, stinkt und auf der Parkbank lebt, den gibt es. Auch in Bozen. Er ist aber die Ausnahme. Den meisten Obdachlosen sieht man ihre Not nicht an. Sauber, adrett gekleidet, freundlich: Auch so sieht Obdachlosigkeit aus. Obdachlosigkeit, die nicht auffällt. „Es gibt Obdachlose in Anzug und Krawatte“, sagt Campana. Radu ist einer jener Obdachlosen, denen man ihre Notsituation nicht ansieht. Frisch rasiert, schöne Lederjacke, neue Tasche, sauber und adrett. Er ist seit sieben Jahren in Italien, erst in Mailand, jetzt in Bozen. Hier will er bleiben, nicht weil es schön ist, sondern „weil es ohnehin überall das gleiche ist.“ Nett seien sie ja schon, die Bozner, dafür gebe es nur im Winter Schlafplätze, und zum Duschen müsse er nach Brixen. Das mit dem Schlafen, das sei schwierig in Bozen. „Überall nur Alkoholiker und Drogensüchtige“, meint Radu. Mit denen wolle er nichts zu tun haben. Er trinke schon auch ab und zu, aber nicht so viel.
Viele Wege führen in die Obdachlosigkeit. Da gibt es den Einheimischen, der sein Haus verliert, vielleicht wegen einer Scheidung, und zu trinken beginnt. Es gibt den Migranten, der ins Land kommt, arbeitet, langsam den Kontakt zu seiner Familie und dann seine Arbeit verliert und abdriftet. Den EU-Ausländer, der nach Italien kommt, versucht Fuß zu fassen, aber auf der Straße landet. Und immer wieder psychische Probleme, Gewalt in der Familie, Alkohol, Drogen.
Das Leben auf der Straße ist alles andere als leicht. Auch ein Obdachloser muss von etwas leben. Manche betteln, leihen sich Geld, verkaufen die Straßenzeitung „Zebra“, manche stehlen oder dealen, manche bekommen von Pfarren und Ordensleuten Geld zugesteckt oder werden von ihren Familien und Freunden unterstützt. Manche nutzen andere Obdachlose aus, arbeiten in der Schattenwirtschaft oder auch ganz legal.
Der Ausstieg aus der Obdachlosigkeit ist schwierig, nur zwei von zehn schaffen es, schätzt Campana. Obwohl ihnen geholfen wird, aber nicht immer so, wie sie es brauchen. Um allen zu helfen – ausreichend zu helfen, fehlen die Ressourcen. Denn Obdachlose haben keine Lobby. Sie fallen nicht auf, stören nicht, tun keinem weh. Obdachlose werden allzu oft vergessen, auch und vor allem in einem reichen Land wie Südtirol. „Die Gesellschaft muss Solidarität vorleben, tut es aber nicht“, sagt Campana. „Zuhören statt urteilen. Begleiten, jeden ernst nehmen.“
Genaue Zahlen über Obdachlosigkeit gibt es kaum. Italienweit sollen laut nationalem Statistikinstitut Istat 0,2 Prozent der Bevölkerung obdachlos sein. Allein in der Stadt Bozen seien 1.200 Menschen betroffen, schätzt Campana. In den Dörfern sei die Zahl geringer, da sich die Obdachlosen auf die Städte konzentrieren und die sozialen Netze auf dem Land besser funktionieren. Der Landessozialbericht zählt 2012 500 Obdachlose, rechnet aber jene nicht dazu, die bei Freunden, Verwandten oder Arbeitgebern unterkommen. Die Zahl ist seit 2012 wegen Wirtschaftskrise und Migration vermutlich angestiegen. Der Großteil der Obdachlosen sind Männer.
Um die Obdachlosen kümmern sich unter anderem Volontarius, der Vinzenzverein und die Caritas, die Kirche und Ordensgemeinschaften, das Rote Kreuz und die Stadt. Die Sozialdienste funktionieren gut, sagt Campana, besser als im Rest Italiens. Aber man könne immer mehr tun.
Nicht allen gefällt die Arbeit der Helfer. Manche Bozner meinen, dass die Obdachlosen nur wegen der Helfer im Bahnhofspark seien. Andere spenden aber auch und helfen mit. Wie der Punk, der sich bei der Essensausgabe in die Reihe stellt, und als er dran ist, dem Helfer wortlos einen Zwanziger in die Hand drückt und geht.
Für einige Obdachlose gibt es trotz der scheinbaren Ausweglosigkeit Chancen zurück ins „normale Leben“. Eine Art Zwischenschritt vom Leben auf der Straße zurück in eine fixe Wohnsituation bietet zum Beispiel das Haus Freinademetz in Bozen-Haslach. Hier finden etwa Wohnungslose Zuflucht, die im Zuge einer Scheidung oder aufgrund hoher Schulden ihr Dach über dem Kopf verloren haben.
Im Gebäude im Grünen, nahe des Kohlerer Bergs, bezahlt man bis zu 300 Euro pro Monat für ein Zimmer mit Gemeinschaftsküche, muss selbst putzen und einkaufen. Rund ein Drittel der 32 Bewohner sind italienische Staatsbürger, die Hälfte davon Südtiroler. „Die Bewohner werden immer jünger“, sagt Leonhard Voltmer, Leiter dieses „Sozialhotels“, „viele sind zwischen 20 und 30 Jahren alt und konnten noch nie in der Arbeitswelt Fuß fassen.“ Voltmer und sein Team helfen den Bewohnern, in ein selbstständiges Leben zurückzufinden. Das Haus Freinademetz ist eine Einrichtung der Caritas und wird von dieser und der Diözese finanziert.
Die Caritas führt aber auch klassische Obdachlosenheime, in Bozen zum Beispiel das Haus Margaret in der Kapuzinergasse für Frauen und das Haus der Gastfreundschaft in der Trientstraße für Männer. 32 Obdachlose leben hier, der jüngste 20, der älteste über 80. Finanziert wird all dies vom Betrieb der Sozialdienste Bozen, erzählt Magdalena Oberrauch, die Leiterin des Hauses. Manche der Bewohner arbeiten Vollzeit, manche sind prekär beschäftigt, einige sind auf Arbeitssuche oder arbeiten als Freiwillige.
Einer der Bewohner ist Dietmar. Lest morgen auf BARFUSS mehr über ihn und andere Einzelschicksale.
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