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In der Stadt Pozzuoli, wenige Kilometer westlich von Neapel, gleicht kein Erdbeben dem andern. Mal fühlt es sich an wie ein senkrechtes Ruckeln, als würde man in einem Bus über Schlaglöcher fahren; in diesem Fall liegt das Epizentrum direkt unter einem, im Erdinneren. Mal fühlt es sich an wie ein horizontales Schaukeln; dann ist das Epizentrum weiter entfernt, draußen in der Bucht.
Der Vulkanologe Giuseppe Mastrolorenzo bevorzugt die zweite Sorte, vor allem nachts. „Ich lasse mich dann schaukeln, wie in einem Boot, und schlafe weiter“, sagt er. Eine gewisse Unerschütterlichkeit gehört dazu, wenn man hier lebt.
Beeindruckt ist er aber immer noch von dem dumpfen Grollen, das wenige Sekunden vorher zu hören ist und das Beben ankündigt. Es klingt wie ein ferner Donner, irgendwo aus dem Erdinneren. Wie es genau entsteht, ist für Wissenschaftler wie ihn noch immer ein ungelöstes Rätsel. Genauso wie die Frage, die gerade alle Bewohner von Pozzuoli umtreibt: Sind die derzeitigen Beben nur ein Warnzeichen? Ist der Supervulkan, der direkt unter ihnen liegt, am Erwachen?
Phlegräische Felder heißt das Gebiet westlich von Neapel, wo die Beben seit etwa zwei Jahren die Bevölkerung in Angst versetzen. Allein im Jahr 2024 wurden in den Gemeinden in der Caldera 6740 Erdbeben registriert. Das stärkste erreichte erst vor wenigen Tagen, am vergangenen 13. März, den Grad 4,4 auf der Richterskala. Experten erwarten weitere Beben, bis Stärke 5 sei alles möglich. Etwa ein Drittel der Häuser in Pozzuoli wären dann einsturzgefährdet.
Gleichzeitig hebt sich in Pozzuoli der Boden, seit 2016 um 80 Zentimeter. Zuletzt hob er sich mit verdoppelter Geschwindigkeit. Das Ergebnis sieht man mit bloßem Auge: Der alte Hafen von Pozzuoli ist mittlerweile völlig trockengelegt, gestrandete Fischerkähne modern vor sich hin. Eine ganze Stadt, von einer ungeheuren Kraft nach oben gedrückt.
Die Phlegräischen Felder – im Altgriechischen bedeutet der Name „brennende Felder“ – bilden eine Caldera. Kein kegelförmiger Vulkan wie der nahegelegene Vesuv, sondern ein riesiges Vulkanfeld, das sich über 200 Quadratmeter erstreckt. Das ist eine Fläche so groß wie Frankfurt. 500.000 Menschen leben hier, in den Kratern aus früheren Ausbrüchen stehen heute Golfplätze, Krankenhäuser, Sportplätze und Wohnblöcke.
Darunter, in etwa sieben Kilometern Tiefe, liegt eine gewaltige Magmakammer, ein Supervulkan. Vielen Vulkanologen gilt er als gefährlichster Vulkan der Welt, weit explosiver als der Vesuv. Bei einem größeren Ausbruch könnten die Aschewolken bis nach Russland ziehen und Europa in einen vulkanischen Winter versetzen.
Dass eine solche Eruption irgendwann kommt, gilt eigentlich schon als unausweichlich. Die Frage ist: Wie lange im Voraus lässt sich ein Ausbruch vorhersagen? In anderen Worten: Wieviel Zeit bleibt, um Hunderttausende Menschen, möglicherweise sogar den Großraum Neapel, also mehrere Millionen Menschen, zu evakuieren?
Dass eine solche Eruption irgendwann kommt, gilt eigentlich schon als unausweichlich. Die Frage ist: Wie lange im Voraus lässt sich ein Ausbruch vorhersagen?
Das herauszufinden, ist Giuseppe Mastrolorenzo Lebensaufgabe. In seiner Wohnung liegen noch Umzugskartons, erst Anfang des Jahres ist Mastrolorenzo, 65 Jahre alt, zusammen mit seiner Frau Simona und seinem weißen Schäferhund Zeus aus Neapel hierher gezogen, mitten in das Gebiet, das der italienische Zivilschutz als „rote Zone“ ausgewiesen hat. Dort drohe bei einem Ausbruch unmittelbare Lebensgefahr. Mastrolorenzo sagt: „Indem ich selbst hier lebe, bleibt meine Arbeit glaubwürdig.“
Mastrolorenzo forscht am Vesuv-Observatorium, das dem Nationalen Institut für Geophysik und Vulkanologie (INGV) angehört, zu früheren Ausbrüchen des Supervulkans. Daraus will er Schlüsse ziehen, um die Ursachen und die Dynamik künftiger Eruptionen besser zu verstehen.
Antworten findet er direkt vor seiner Wohnung, am Abhang des Montenuovo-Kraters. Der 130 Meter hohe Erdkegel ist während der letzten Eruption der Phlegräischen Felder im Jahr 1538 entstanden. „Wenn der nächste Ausbruch wieder so wird wie vor 500 Jahren, dann hätten wir großes Glück“, sagt Mastrolorenzo.
Glück, darunter versteht er nicht, dass der Ausbruch von 1538 vergleichsweise klein war, sondern vor allem, dass die Magma mehrere Tage brauchte, um an die Erdoberfläche zu kommen. Der Boden habe sich über Tage hinweg stark angehoben, während heftige Erdbeben die Gegend erschütterten. Die Menschen damals hätten rechtzeitig flüchten können.
All das weiß Mastrolorenzo, indem er die Durchschnitte verschiedener Gesteinsproben des Montenuovo untersucht. Unterm Mikroskop sind dort Bläschen zu erkennen, manche größer, manche kleiner, wie Kohlensäure in einer Cola-Flasche. Es handelt sich um Mineralkristalle, die in der Magma entstehen, sobald sie in Richtung Oberfläche aufsteigt. Dort ist der Druck geringer und die Mineralien im Magma formen Kristalle. „Es ist wie mit den Kohlensäure-Bläschen in der Cola-Flasche“, sagt Mastrolorenzo, „auch die sieht man erst, wenn der Druck nachlässt, also wenn man die Flasche öffnet.“
Große Kristalle, wie am Montenuovo-Krater, deuten darauf hin, dass sie genug Zeit hatten, um sich zu bilden, dass das Magma also nur langsam aufstieg. Ausgerechnet die größeren, älteren Ausbrüche weisen jedoch deutlich kleinere Kristalle aus, das Magma stieg also sehr schnell zur Oberfläche. Bei der Supereruption vor 40.000 Jahren, als pyroklastische Ströme den ganzen Golf von Neapel unter sich begruben, sind die Kristalle sogar winzig klein.
Für die Vorhersage eines Ausbruchs bedeutet das nichts Gutes. „Der Ausbruch kann innerhalb von wenigen Stunden erfolgen“, sagt Mastrolorenzo. Er vergleicht es mit einer großen Nadel, die von unten durch eine Matratze sticht: „Du bemerkst die Nadel erst, wenn sie auf der anderen Seite durchbricht. Wenn es zu spät ist“.
Sein Vorwurf wiegt schwer: Die Behörden würden die Menschen vor Ort nicht über die reale Gefahr aufklären und sie in falscher Sicherheit wiegen.
Mit diesen Erkenntnissen ist Mastrolorenzo einer der großen Kritiker des offiziellen Evakuierungsplans, den der italienische Zivilschutz für den Notfall ausgearbeitet hat. Dieser Plan geht aktuell von einer Vorwarnzeit von mindestens 72 Stunden aus. „Von drei Tagen Vorwarnzeit auszugehen ist pures Glücksspiel“, sagt Mastrolorenzo. Sein Vorwurf wiegt schwer: Die Behörden würden die Menschen vor Ort nicht über die reale Gefahr aufklären und sie in falscher Sicherheit wiegen.
Tatsächlich wissen die meisten Bewohner von Pozzuoli kaum etwas von dem Vulkan, auf dem sie leben. Es scheint, als gebe es vor Ort nur noch zwei Sorten Menschen. Diejenigen, die sagen, dass sie sich an die Erdbeben gewöhnt hätten und alles normal sei. Und die anderen, die in ständiger Angst leben und überzeugt sind, dass „die da oben“ ihnen etwas verschweigen.
Rosalia, eine 62 Jahre alte Bewohnerin von Pozzuoli, gehört zur zweiten Sorte. Die Frau mit dem knallroten Lippenstift und grellgrünen Turnschuhen sitzt im Park des Hotels, in dem sie als Kosmetikerin Touristen aufpäppelt. Sie kommen wegen Pozzuolis prächtiger Strandpromenaden und der römischen Amphitheater. Manche kamen aber auch wegen des Vulkans. Solange sie als ruhendes Museumsstück galt, zogen die qualmenden Fumarolen im Solfatara-Krater nördlich von Pozzuoli Neugierige aus aller Welt an. Dann brach 2017 an einer Stelle der Boden ein und verschluckte ein Kind und seine Eltern.
Spätestens seit den Erdbeben sind die Buchungen eingebrochen. Die Schlagzeilen rund um den erwachenden Supervulkan jagen vielen Angst ein, nicht nur den Tourist:innen. Auch Rosalia ist mittlerweile überzeugt, dass die Behörden nicht die ganze Wahrheit erzählen. Jahrzehntelang hat sie der offiziellen Position geglaubt, dass die Beben, die hin und wieder die Gegend erschüttern, zwar lästig und für alte Gebäude gefährlich seien. Sie seien aber kein Warnzeichen für einen bevorstehenden Ausbruch.
Giuseppe Luongo gehörte lange Zeit zu den Beschwichtigern. Von 1983 bis 1993 leitete der Mann, den manche seiner früheren Kollegen als gebieterisch beschreiben, das Vesuv-Observatorium. Schon Anfang der 80er-Jahre erschütterte eine starke Erdbebenserie die Küstenregion um Pozzuoli. Luongo versuchte damals, die Bevölkerung zu beruhigen. Über die Mahnungen seines Kollegen Mastrolorenzo sagt er noch heute: „Wer sich nur mit den Eruptionen der Vergangenheit beschäftigt, tendiert automatisch dazu, etwas pessimistischer zu sein.“
Luongo widmete sich in seiner Forschung auch der Zeit zwischen den Ausbrüchen. Und beobachtete, dass das Senken und Heben der Erde charakteristisch für die Phlegräischen Felder sind – auch in ruhigen Zeiten. Tatsächlich weisen einige der römischen Bauten in Pozzuoli Muschelreste auf, sie lagen seit ihrer Errichtung also zumindest zeitweise unter dem Meeresspiegel.
„Die Erdbeben könnten von allein aufhören. Sie könnten aber auch stärker werden und in einer Katastrophe enden.“ (Experte Giuseppe Luongo)
Grund dafür ist ein Phänomen namens „Bradyseismos“. Wenn sich die Magmakammer in der Tiefe aufbläht, fließen heiße Fluide in die oberen Gesteinsschichten und erhitzen sie. Das Gestein dehnt sich daraufhin aus, die Spannung entlädt sich in Erdbeben und die gesamte Küstenregion hebt sich. Sobald die Fluide wieder abfließen, senkt sich der Boden und auch die Erdbeben hören auf. Bis das Ganze wieder von neuem beginnt.
Nichtsdestotrotz hat sich Luongo – heute 86 Jahre alt und in Rente – auf die Seite der Kritiker:innen geschlagen und fordert öffentlich einen alternativen Evakuierungsplan, einen, der sich nicht auf die optimistische Prognosezeit von 72 Stunden verlässt.
Warum dieses Umdenken? Luongo weiß aus eigener Erfahrung, dass der Bradyseismos sich anbietet, um das Risiko einer Eruption kleinzureden. Für lokale Politiker und Behörden sei das der einfachere Weg. Denn die Angst der Bevölkerung vor einem Ausbruch könnte auch zu einem Massenexodus, zu politischen Protesten und zu einem Kollaps der Häuserpreise – kurz: zu Chaos – führen. „Wenn wir aber ehrlich sind, ist es so“, sagt Luongo: „Die Erdbeben könnten von allein aufhören. Sie könnten aber auch stärker werden und in einer Katastrophe enden.“
Er und Mastrolorenzo sind heute die einzigen, die das öffentlich klar benennen. Der eine, Luongo, ist längst außer Dienst, der andere, Mastrolorenzo, finanziert seine Projekte seit Jahren durch sein eigenes Gehalt. Das sei kein Zufall, sagt Luongo. Das Vesuv-Observatorium habe sich in eine verhängnisvolle Abhängigkeit begeben, seine Forschungsprojekte sind heute zumindest teilweise – wie auch das Vesuv-Observatorium auf Nachfrage bestätigt – durch den italienischen Zivilschutz finanziert, jener Behörde, die für den Evakuierungsplan verantwortlich ist. Halten sich die Vulkanologen vom Observatorium mit Aussagen zum Notfallplan deshalb so zurück?
Am Abend des 20. Mai, als das bisher stärkste Beben der letzten Jahrzehnte die Region erschütterte, flüchteten die Anwohner aus ihren Häusern. Das Beben beschädigte hunderte Häuser schwer und viele dachten, dass ein Ausbruch des Vulkans bevorstand.
Es war ein erster Test des Evakuierungsplans in der Realität. Tausende setzten sich in ihr Auto und versuchten panisch, die Stadt zu verlassen, wollten die Nacht in Sicherheit bei Freunden oder Verwandten in anderen Regionen verbringen. Einige Tausend Autos genügten an jenem Abend, um einen Verkehrskollaps zu verursachen. Ganz Pozzuoli versank im Stau.
Die Menschen würden festsitzen, bevor sie die Fluchtrouten überhaupt erreichen.
Das zeigt eine weitere Schwäche des aktuellen Evakuierungsplans. Er sieht drei große Fluchtrouten vor, eine nach Neapel und zwei in Richtung Norden, in die kampanische Ebene. Doch für den Notfall gibt es keine klaren Zufahrtsstraßen, um die Hauptstraßen zu erreichen. Die Menschen würden festsitzen, bevor sie die Fluchtrouten überhaupt erreichen. Fluchtwege über das Meer direkt ab Pozzuoli fehlen in dem aktuellen Plan noch komplett, der italienische Zivilschutz äußert sich auf Nachfrage nicht dazu. „Was wirklich notwendig wäre, sind Maßnahmen, um die Bevölkerungsdichte in der roten Zone schon jetzt zu reduzieren“, sagt Mastrolorenzo.
Auch Rosalia denkt darüber nach, wegzuziehen. Verwandte, die in anderen Städten wohnen, außerhalb der roten Zone, drängen sie schon seit Monaten, ihre Wohnung zu verkaufen. „Geh, solange du noch Zeit hast, sagen sie zu mir. Aber ich kann es mir nicht vorstellen“, sagt Rosalia. „Ich weiß, dass es hier gefährlich ist, ich weiß, dass die Behörden uns nicht schützen. Aber dieses Wissen ist, wie soll ich sagen, abstrakt.“ Vom Hotel, in dem sie arbeitet, blickt Rosalia aufs Meer, das unter der Sonne des Nachmittags funkelt. All das, ihre Heimat, ihr Haus, unter Feuer und Asche begraben? Nein, sagt die Bewohnerin von Pozzuoli, das gehe einfach nicht in ihren Kopf.
Aufnahme des Erdbebens vom 20. Mai.
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