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Ausstellungen sind dem Fotografen Uli Reinhardt eigentlich zuwider. Sie lenken die Aufmerksamkeit vom Gegenstand der Fotos zu sehr auf den Fotografen, glaubt er. Doch als vor einigen Wochen der Anruf aus Suhareke kam, konnte er nicht Nein sagen. Nun steht er also da und lässt resigniert Lobreden über sich ergehen, pünktlich zur Eröffnung am 13. Juni.
In Suhareke, einer 40.000-Einwohner-Stadt im Süden des Kosovos, kennen sie ihn alle, Uli Reinhardt, diesen hochgewachsenen Deutschen mit den geröteten Pausbacken und einem entwaffnenden Lächeln unterm Schnurrbart. Ungeachtet seiner 77 Jahre hat er sich auch dieses Jahr wieder ins Auto gesetzt und die lange Fahrt von Weinstadt bei Stuttgart bis in den Kosovo in Angriff genommen.
Seit 1999 kommt Uli Reinhardt jedes Jahr hierher, um eine schmerzhafte Erinnerung am Leben zu halten: wie sein Kollege und bester Freund, der Südtiroler Reporter Gabriel Grüner, gemeinsam mit zwei weiteren Kollegen, am nahegelegenen Dulje-Pass ums Leben kam.
Was damals geschah
Der 13. Juni 1999: Was für Reinhardt ein Anlass zur Trauer ist, bedeutet für die Einheimischen – in der Mehrheit ethnische Albaner – einen Grund zum Feiern. Sie befreiten sich damals von der serbischen Fremdherrschaft. Nach dem Zerfall Jugoslawiens entbrannte im Kosovo ein blutiger Kampf um Unabhängigkeit, mit Vertreibungen und Massakern auf beiden Seiten. Als schließlich die NATO auf Seite der albanischen Kosovaren eingriff und aus Mazedonien und Albanien vorrückte, stand die Niederlage der Serben unmittelbar bevor.
Es war ein warmer, wolkenloser Nachmittag. Die Zeitschrift „Stern“ hatte zwei Reporter-Teams entsandt, die unabhängig voneinander über das bevorstehende Kriegsende berichten sollten. Das eine Team: Uli Reinhardt und seine Frau Ingrid Eißele. Das andere: der Reporter Gabriel Grüner, der Fotograf Volker Krämer und ihr Übersetzer Senol Alit. Die drei Männer haben zu diesem Zeitpunkt ihre Recherche schon abgeschlossen und fahren in Richtung Mazedonien. Doch die Serben lassen sich mit dem Rückzug Zeit, die Lage bleibt unübersichtlich. Auf dem Dulje-Pass geraten die Reporter in eine serbische Straßensperre.
Als es dort zum Streit zwischen den serbischen Soldaten und dem Übersetzer kommt, greift ein russischer Söldner – ein fanatischer Albaner-Hasser, wie sich später herausstellen wird – zu seiner Kalaschnikow und feuert mehrere Sekunden lang auf den Wagen. Volker Krämer und Senol Alit sterben auf der Stelle, Gabriel Grüner erst mehrere Stunden später in einem britischen Feldlazarett.
Den genauen Tathergang wird Uli Reinhardt erst nach jahrelangen Recherchen in Erfahrung bringen. Jetzt aber kann nichts erklären, was gerade geschehen ist. Als Reinhardt am nächsten Tag am Tatort eintrifft, liegen auf der Straße noch Scherben und eine große Blutlache. Hinter einer Böschung findet er die Leiche von Senol Alit. Obwohl sie möglicherweise vermint ist, läuft Reinhardt auf den toten Kollegen zu. Der Krieg, der unsägliche Horror, über den die Reporter jahrelang berichtet haben, bricht plötzlich mit aller Gewalt über ihr eigenes Leben herein.
Der Krieg beschleunigt, er intensiviert. Auch menschliche Beziehungen. Wer sich nicht versteht, hält es keine zwei Tage miteinander aus. Und wer sich versteht, rückt noch näher zusammen.
Kriegsreporter zu werden, war nie Gabriel Grüners Lebensziel. In seiner Schulzeit schrieb er Gedichte, gewann den Lyrikpreis des Südtiroler Künstlerbunds. Doch die Neugier auf die Welt, gepaart mit der Lust am Schreiben, führten ihn zuerst an die Henri-Nannen-Schule, eine der prestigeträchtigsten Journalistenschulen in Deutschland, und schließlich als Reporter ins Auslandsressort des „Stern“.
Zum ersten Mal treffen sich Gabriel Grüner und Uli Reinhardt am Flughafen in Wien. Ihr Ziel: das belagerte Sarajevo, wo sie über Zlata Filipovic berichten sollten, eine junge Frau, die wegen ihrer Kriegstagebücher als „bosnische Anne Frank“ bekannt war. In den darauffolgenden Jahren waren Reinhardt und Grüner immer wieder in Bosnien. Der Jugoslawienkrieg, der sie später für immer trennen wird, bringt sie überhaupt erst zusammen.
Der Krieg beschleunigt, er intensiviert. Auch menschliche Beziehungen. Wer sich nicht versteht, hält es keine zwei Tage miteinander aus. Und wer sich versteht, rückt noch näher zusammen. In Sarajevo sprinten Grüner und Reinhardt vom Panzerwagen in ihr Hotel, um nicht ins Visier der serbischen Scharfschützen zu geraten. Zwischen Bihac und Sanski Most hungern und warten sie zwei Tage lang, um als erste Reporter den berüchtigten General Atif Dodakovic zu treffen, nachdem er gerade die Stadt von den serbischen Besatzern befreit hat. Schließlich, nach entbehrungsreichen Tagen, reden sie sich bei Wein und Pizza im gut beheizten Speiseabteil eines italienischen Nachtzugs über die Szenen und Begegnungen der vergangenen Tage in Rage.
Einmal zuhause, telefonieren sie. Bald folgen die ersten Besuche. Neben dem neuesten Redaktions-Gossip mischen sich bald auch „die kleinen und großen Geheimnisse des Lebens“, wie Reinhardt sagt, in ihre Gespräche. Aus Kameradschaft wird Freundschaft. Ganz leise, ohne große Worte. Man bleibt in Deckung, auch wenn der Krieg vorbei ist.
Erst an Gabriel Grüners Begräbnis kam dessen Bruder Peter auf Reinhardt zu und sagte: „Du bist also Uli Reinhardt, Gabriels bester Freund. Er hat viel von dir erzählt.“
In den darauffolgenden Monaten plagte Reinhardt eine Orientierungslosigkeit, die er zuvor nicht gekannt hatte. Er und Gabriel Grüner, sie hatten am Elend und der Gewalt, die sie in Bosnien, in Afghanistan, in Somalia erlebt hatten, schwer gelitten. Grüner, so erinnern sich Kollegen, weinte manchmal im Stillen. Und doch. Über ihren Auftrag zu berichten, zweifelten sie keine Sekunde. Weil ihre Berichte im besten Fall einen Unterschied machten. Seine Reportagen verband Grüner mit Spendenaufrufen, der erfolgreichste brachte vier Millionen Mark zusammen. Nur: zu welchem Preis?
Ein Freund darf nicht vergessen werden
25 Jahre danach, bei der Eröffnung seiner Ausstellung in Suhareke, erzählt Uli Reinhardt eine Anekdote. Davon, wie er genau ein Jahr nach dem Tod seiner Kollegen, am 13. Juni 2000, auf den Dulje-Pass zurückkehrte.
Wieder war es warm und wolkenlos. Die Scherben aber waren längst weggeräumt, das Blut vom Winterregen weggewaschen. Reinhardt wusste selbst nicht, was er hier tat, an dem Ort, wo etwas vom Wertvollsten in seinem Leben zu Ende ging. Nur eins war für ihn klar: Gabriel Grüner, Volker Krämer und Senol Alit sollen nicht vergessen werden.
Der Mann, der Reinhardt dabei helfen sollte, steht auch heute, bei der Eröffnung der Foto-Ausstellung, neben ihm: Ismet Suka, stämmig, mit ernstem Blick. Er, der schon damals ein gutes Deutsch sprach, arbeitete bei der Hilfsorganisation Kinderberg International, zu der Reinhardt Kontakte hatte. So lernte er Suka kennen, der mit ihm kam, um auf dem Pass ein Kreuz zu befestigen. „Ich habe versucht, Uli zu erklären, was für eine wahnsinnige Idee das ist“, erzählt Ismet Suka heute.
Ein Kreuz, kurz nach dem Krieg, in einem muslimischen Land. Schon nach wenigen Tagen war es weg. Kreuze galten damals als Symbol des Feindes. Als die serbische Nationalisten muslimische Dörfer verwüsteten, machten sie den Segensgestus Christi. Auch Sukas Bruder fiel ihnen zum Opfer. Erst schlossen sie ihn und seine Familie in ihrem Haus ein, dann zündeten sie es an. Suhareke und die umliegende Region waren besonders stark von der Gewalt betroffen, nach dem Krieg fand man zahlreiche Massengräber. Die Berichte darüber – auch jene, die Gabriel Grüner geschrieben hatte – gingen um die Welt.
Im Frühjahr 2001 kam Ismet Suka für eine Geschäftsreise nach Stuttgart. Zwei Jahre waren seit dem Tod von Gabriel Grüner, Volker Krämer und Senol Alit vergangen. Und ein Jahr seit dem gescheiterten Versuch, auf dem Dulje-Pass ein Gedenkkreuz aufzustellen.
Suka hatte den Deutschen, der an seinen verstorbenen Kollegen erinnern wollte, nicht vergessen. Seine Reise nutzte er, um Uli Reinhardt einen Besuch abzustatten. Mit dabei hatte er eine kosovarische Besitzurkunde. Ein kleines Grundstück, vier mal vier Meter, auf dem Dulje-Pass. Er überreichte sie Reinhardt und sagte: „Ich habe da eine Idee. Sie ist besser als das Kreuz.“
Heute, 25 Jahre nach dem Verbrechen, steht auf dem Dulje-Pass ein Gedenkstein aus rötlichem Marmor. Stabil, stark, gebaut, um zu bleiben. Ein örtlicher Künstler hat ihn entworfen, der Marmor stammt aus einem Steinbruch in der Region. Darauf ein Gedicht von Bertolt Brecht: „Der Regen kehrt nicht zurück nach oben. Wenn die Wunde nicht mehr schmerzt, schmerzt die Narbe.“
„Die Journalisten sind für uns Helden“
Kurz vor der Eröffnung der Ausstellung, am Vormittag des 13. Juni, stehen sie, die diesen Ort des Erinnerns geschaffen haben, wieder hier. Uli Reinhardt, Ismet Suka, einige weitere Kosovaren, der alte und der neue Bürgermeister. Und allerlei Honoratioren. Selbst der deutsche Botschafter ist dieses Jahr gekommen.
Besonders wertvoll ist aber die Anwesenheit der Angehörigen, die Witwe Jo Krämer, ihre Tochter Lucy, Peter und Wolfgang, die Brüder von Gabriel Grüner. In Suhareke sind sie Ehrengäste. „Die Journalisten sind für uns Helden“, sagt der Bürgermeister von Suhareke mit einigem Pathos bei der Foto-Ausstellung. Diese Inbrunst hat Gründe. Ohne die Berichterstattung sei ihre Unterdrückung unsichtbar geblieben, glauben die Kosovaren. Und ohne diese Sichtbarkeit hätten sie niemals die Unabhängigkeit erlangt.
Das Gedenken an die Reporter und Kosovos Gegenwart, Uli Reinhardt und seine einheimischen Helfer sind heute untrennbar miteinander verbunden. Und Reinhardt ist das ganz recht so. Im luftleeren Raum berichten, ohne eine Beziehung zu den Menschen vor Ort, das wollte er, das wollte auch Gabriel Grüner nie.
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