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Liebe Sextnerinnen und Sextner,
liebe zugereiste Damen und Herren,
ich habe den Auftrag und die Ehre, heute über Claus Gatterer und sein Vermächtnis zu reden. Er ist vor 100 Jahren, am 27. März 1924 geboren, und vor 40 Jahren, am 28. Juni 1984 ist er gestorben. Und eigentlich ist damit schon fast alles gesagt. Claus Gatterer? Ganz ehrlich, was hätte er, der Sextner war und es zeitlebens halsstarrig auch geblieben ist, uns Heutigen noch zu sagen? Uns, den globalisierten Weltbürgern? Ausgerechnet Gatterer – was könnte er, der geschichtsversessene Historiker uns lehren, uns, die geschichtsvergessenden, gegenwartstrunkenen Poster, Twitterer, Instagramer, Tik-Toker? Er ausgerechnet, ein Pionier aus dem Pleistozän des Fernsehens, das heute gerade noch so vor uns hinflimmert, und demnächst womöglich auch ganz dahinrauscht. Schauen Sie sich – wenn Sie genügend archäologisches Interesse aufbringen – seine allerletzte Sendung an, das „teleobjektiv“ vom 31. Jänner anno 1984. Das unsägliche karierte Sakko, die dicke Hornbrille, das fahle, kaum geschminkte Gesichts, die nackte weiße Wand als Background – eine Influencerin unserer Tage würde auf ihrem Touchscreen sofort wegswipen. Nicht nur deshalb, vor allem auch der langen, langatmigen Sätze wegen, die der wenig telegene Moderator Gatterer da von sich gibt, vielleicht auch wegen der brüchigen Stimme, wegen des schweren Atems – wohl eine Folge politisch völlig unkorrekten Kettenrauchens, vielleicht auch das Zeichen eines nahenden Todes.
Machen wir uns nichts vor: Was könnte in unseren kurzatmigen Zeiten das Vermächtnis von Claus Gatterer sein, dieses kauzigen Fetischisten der abwägenden, der feinen, der fairen Differenzierung. Zwischen ihm und uns liegt ja eine mediengeschichtliche Zäsur, wenn nicht eine epistemische Zeitenwende. Und eine politische und gesellschaftspolitische ja wohl auch. „Kennen Sie Sexten, das berühmte Tal in den berühmten Sextener Dolomiten?“, fragt Claus Gatterer auf der ersten Seite seines Buches „Schöne Welt, böse Leut“, erschienen anno 1969. Das Fragezeichen hat sich erübrigt. Jeder kennt heute Sexten, jede, die von alpinem Overtourism eine Ahnung hat und von altbackener Einsamkeit im Gebirge träumt. Und längst erledigt ist ja auch jene „Schlamperei“, wie er gleich danach schreibt, jene „Schlamperei der Weltgeschichte“, mit der das Tal 1919 zu Italien gekommen war und Sexten gute zwanzig Jahre lang nur noch „Sesto in Pusteria“ heißen durfte. Vorbei die Zeiten, als er in den papierenen „Dolomiten“ noch totgeschwiegen wurde oder da und dort zu lesen stand, dass Claus Gatterer ein Landesverräter sei, ein linker Vermischungsapostel. Damals, als Karl Felderer, der Autor des Südtiroler Heimatliedes noch volltönend verlangte: „Macht am Brenner das Gatter zu, damit der Gatterer nicht mehr hereinkommt.“ Vorbei. Heute ist der Brenner europäisch eingeebnet. Allenfalls ein Virus oder eine Pandemie nationalistischen Stumpfsinns lässt die Schranken kurzfristig wieder hochgehen.
Vorbei die Zeiten, als er in den papierenen „Dolomiten“ noch totgeschwiegen wurde oder da und dort zu lesen stand, dass Claus Gatterer ein Landesverräter sei, ein linker Vermischungsapostel.
Ansonsten steht der Pflege der gesamttirolerischen Geschwisterlichkeit nichts mehr im Wege – oder fast nichts. Heute haben auch die Wächter der „Dolomiten“ – der Sextner und der papierenen – ihre identitätspolitischen Gipfelstürme gegen niederschwellige Geschäftsinteressen eingetauscht. Und die Südtiroler Volkspartei, zu deren Geburtshelfern wohlgemerkt auch Claus Gatterer zählte, die er patriotisch, liebevoll, grollend und ketzerisch dazu ermuntern wollte, den gebirgigen Horiziont doch etwas auszudehnen, das ethnische Opferdasein, das landläufige „Mir sein Mir“ einzutauschen gegen ein aufgeklärtes, ein überregionales, ein multilaterales Miteinander der Minderheiten – diese SVP hat es ja auch ziemlich weit gebracht; immerhin zu einem gepflegten Nebeneinander mit den italienischen Landsleuten, neuerdings sogar zu einem koalitionären Miteinander mit den Postfaschisten von Giorgia Meloni.
Aber das ist vergilbendes Lokalkolorit, vernachlässigbar. Und ohnehin sollen und können über Claus Gatterer viel besser jene reden, die ihn persönlich gekannt, respektiert, geschätzt oder gefürchtet haben. Am besten seine Redaktionskollegen, die mit ihm gearbeitet, diskutiert, gestritten haben. Peter Huemer zum Beispiel, der schreibt, dass Claus Gatterer „empfindsam war für fremdes Leid“, dass es ihm „mehr um Menschen als um Ideen über Menschen ging“. Kurt Langbein, der sich daran erinnert, dass in „keiner Redaktion so gründlich, so grüblerisch recherchiert wurde“ wie im „teleobjektiv“. Oder – wenn sie denn noch lebte – Toni Spira, die ihn einen „radikalen, liberalen, herrschaftskritischen Menschen“ nannte.
Von Claus Gatterer, dem der Erwerb von Sprache, von gedanklicher Autonomie, von sozialer und politischer Zivilcourage wesentlich schwerer gefallen sein dürfte, als uns den Spät- und Nochspätergeborenen, uns, den Genießern des Kollateralnutzens seines Aufbegehrens.
Ich selbst habe Claus Gatterer nie gesehen, und ich habe auch nichts an Gemeinsamkeiten vorzuweisen, mit Ausnahme eines Arbeitsvertrages mit dem ORF und einer Geburtsurkunde, die mich als Südtiroler zu erkennen gibt. Aber – ganz anders als er – wollte ich mit Südtirol nichts zu tun haben, jedenfalls nichts Journalistisches. Ja, Journalist wollte ich werden, aber am liebsten unangekränkelt von den Makeln, Meriten und Privilegien meiner Herkunft. Erst viel später, als ich meinen – allzusüdtirolerischen – Fluchtreflex in Washington, in Rom, in Wien ausgelebt und domestiziert hatte, dämmerte mir, dass ich den Weg ins Freie nicht nur beschreiten konnte, weil die Globalisierung zügig vorangeschritten und die angestammte Heimat leicht relativierbar geworden war. Dieser Weg war ja geebnet worden, auch von Landsleuten wie Norbert Conrad Kaser, wie Alexander Langer, wie Franz Kössler, wie Lorenz Gallmetzer – wie Claus Gatterer.
Von ihm, dem Sohn eines Bergbauern aus Sexten, dem Ältestgeborenen zu einer Zeit, als die Autoritäten der Politik und der Kirche noch so unverrückbar waren wie die Berge ringsum; in einer schweigsamen Welt, in der „viel reden“ noch grundsätzlich verdächtig war. Von ihm also, der sich tatsächlich freigekämpft hat in die weitere Welt, nach Wien. Von Claus Gatterer, dem der Erwerb von Sprache, von gedanklicher Autonomie, von sozialer und politischer Zivilcourage wesentlich schwerer gefallen sein dürfte, als uns den Spät- und Nochspätergeborenen, uns, den Genießern des Kollateralnutzens seines Aufbegehrens. „Die Südtiroler hatten über sich nichts auszusagen“. So lautet ein früher Satz von Claus Gatterer. Norbert Conrad Kaser hat ihn zitiert, anno 1969 in seiner berüchtigten Brixner Rede. Und ich fürchte, ein wenig – manchmal – stimmt dieser Satz noch immer.
„Das Fernsehen verlöre seinen Sinn, wenn es von Ängstlichen für Ängstliche gemacht würde.“
Aber ich schweife gefährlich ab ins Heimatliche. Eigentlich habe ich ja den Auftrag und die Ehre, darüber zu reden, was uns Claus Gatterer heute noch zu sagen hat, uns, den redseligen Bewohnern der globalisierten und virtuellen Welten, Dörfer und Provinzen.
Zu diesem Behufe muss ich dann doch noch einmal zurückgreifen auf jene allerletzte „teleobjektiv“- Sendung vom 31. Jänner 1984. Und wörtlich und langatmig zitieren, was der Moderator samt seinem karierten Sakko, seiner Hornbrille und seiner brüchigen Stimme gesagt hat:
„Das Fernsehen verlöre seinen Sinn, wenn es von Ängstlichen für Ängstliche gemacht würde. Wir haben ferner gemeint: Fernsehen dürfe in richtiger Interpretation unserer Gesetze nicht von Mächtigen für Mächtige gemacht werden. Danach haben wir uns meine ich ziemlich getreu gehalten“.
Und weiter: „Wir haben uns immer als leise Sendung verstanden und wollen in diesem Stil auch schließen. Aber eines muss ich noch loswerden, es ist mir immer auf der Leber gelegen. Als kritische Sendung hat ,teleobjektiv’ sich vornehmlich mit den Mitbürgern in den Schattentälern unserer Sonnenlandschaft zu beschäftigen gehabt, mit den Schwachen, mit den Zukurzgekommnenen, mit den vielfältigen Minderheiten. Wir haben immer gehofft, Freunde und Verbündete gerade bei jenen zu finden, die von Amts wegen für diese Menschen im Schatten zuständig sind. Eingetreten ist vielfach das Gegenteil.“
Zitatende – und Ende einer Sendung, die in 150 Folgen viele Schattentäler ausgeleuchtet hat. Die Verunglimpfung der slowenischen Minderheit in Kärnten beispielsweise, Menschenversuche der Pharmaindustrie, Menschenverachtung in Altersheimen, die Zahlungsmoral in der Gastronomie. Viele Zukurzgekommenen sind dabei zu Wort gekommen, viele Mächtige haben sich lautstark beschwert. Und am Ende – 1984 – hat der mächtige Fernsehgeneral Gerd Bacher diese allzu öffentlich-rechtliche Sendung wieder abgesetzt – von Amts wegen.
Das ist lange her – doch der Brückenschlag in die Gegenwart fällt hier recht leicht. Ich bin mir ziemlich sicher, dass es in unseren postmodernen, postfaschistischen und künftig womöglich neoautoritären Sonnenlandschaften noch genügend Schattentäler gibt, deren Ausleuchtung sich lohnt. Und genügend Mächtige, denen das missfällt. Und Schwache und Zukurzgekommene sicher auch. Und manchmal, auch das lehrt uns Claus Gatterer, bedürfen wir Journalistinnen und Journalisten auch der standesgemäßen Furchtlosigkeit gegenüber den Mächtigen der Zeitung, des Fersehens, und – wenn sie denn greifbar wären – gegenüber den Großmächtigen von X, Instagram oder Tiktok.
Ein weiterer Leitsatz von Claus Gatterer stand, so wird erzählt, an der Wand hinter seinem Schreibtisch im ORF: „Tatsachen sind niemals ausgewogen.“ Ich lese ihn als Erinnerung daran, dass die journalistische Tugend der Äquidistanz Grenzen hat. Er lehrt mich aber auch, dass der globalisierte Journalismus auf Herausforderungen trifft, die Gatterer fremd waren. Den Tatsachen droht der Verlust ihrer Relevanz, ihre Relativierung ist heute Teil der Handlungsanleitung für den Kurzschluss von Demokratien. Silvio Berlusconi hat Schule gemacht, die Politik ist in das Reich der Fiktionen übersiedelt. Auf der Grundlage falscher Behauptungen wurde Großbritannien aus dem Verbund der Europäischen Union herausgebrochen – dass Zeitungen und Fernsehsender Fakten und Fake News sorgsam auseinanderdividierten, hat daran nichts geändert. Der ehemalige Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika hat den nachweislichen Regelbruch zum Prinzip erhoben – das stärkt seine Chancen für die Wiederwahl. Im Zeitalter der Digitalisierung kämpft der Journalismus nicht nur gegen Parteipotentaten und Medienfürsten – er kämpft gegen seine fortschreitende Bedeutungslosigkeit. Vor dem Fernsehen – so steht zu befürchten – müssen sich die Mächtigen nicht mehr fürchten.
„Jede einfache Wahrheit ist des Teufels”. Das scheint allerdings nicht mehr zu stimmen, seit das Lügen gründlich säkularisiert und demokratisiert ist, auch und vor allem in jenem Eldorado der Simplifizierung, in jenen Medien, die sich sozial nennen und die längst nicht mehr dem Journalismus gehören.“
Mit der „Teleobjektivität“ ist es vorbei. Hier also – so scheint es – kann uns der gewissenhafte, gründlich recherchierende, um Tatsachen ringende Claus Gatterer nicht mehr weiterhelfen.
Allenfalls könnten wir jenen kurzen Satz nachlesen, der in seinem Essay mit dem langen Titel „Über die Schwierigkeiten der Südtiroler mit sich selber, sowie über die Schwierigkeit der Österreicher, diese Schwierigkeiten zu begreifen“ geschrieben steht. Dieser Satz lautet: „Jede einfache Wahrheit ist des Teufels.“ Ich vermute, er könnte Gültigkeit haben, über Südtirol und Österreich hinaus. „Jede einfache Wahrheit ist des Teufels“. Das scheint allerdings nicht mehr zu stimmen, seit das Lügen gründlich säkularisiert und demokratisiert ist, auch und vor allem in jenem Eldorado der Simplifizierung, in jenen Medien, die sich sozial nennen und die längst nicht mehr dem Journalismus gehören.
Es sei denn: Dort draußen, in der weiten Welten der kurzatmigen Reflexe, ließe sich doch noch etwas beheimaten von Claus Gatterers langem Atem der Reflexion, von seinem kritischen Zweifel, von seinem Eifer der Differenzierung, von seiner wissenden Empathie, etwas von seiner hochfliegenden und bodenständigen Menschenfreundlichkeit. Einem Humanismus 2.0 – sofern er noch kommt – stünde es jedenfalls nicht schlecht zu Gesicht.
Meine Damen und Herren,
in einem Posting zusammengefasst:
Claus Gatterer war Südtiroler, und er war Journalist. Vor 100 Jahren ist er in Sexten geboren. In Wien ist er vor 40 Jahren gestorben. Begraben ist er, wo er immer zu Hause war, hier nebenan, in Sexten. Meine Empfehlung: Lesen Sie Claus Gatterer. Irgendwo da draußen gibt es die „Schöne Welt“ ja immer noch. Und die bösen Leut ? Die auch.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Andreas Pfeifer war von 2007 bis 2021 außenpolitischer Ressortleiter im aktuellen Dienst des ORF-Fernsehens in Wien. Seit November 2021 ist er Studioleiter des ORF-Korrespondentenbüros in Berlin.
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