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In letzter Zeit macht Leon jeden Abend einen Spaziergang im Park. Er setzt sich auf eine Bank nahe seiner Wohnung am Stadtrand von Innsbruck und beginnt akribisch, Tagebuch zu führen. Neben den üblichen Einträgen über seine Erlebnisse füllt er das kleine, bald zerfledderte Notizbuch zusätzlich mit Bildern. Diese Bilder sind voller Beschriftungen, Pfeile und Erklärungen. Auf einem ist seine Frau nach der Geburt mit ihrer kleinen Tochter Tina zu sehen. Das Bild ist vor lauter Beschreibungen und Worten kaum noch erkennbar. Passagen wie „Der glücklichste Tag unseres Lebens“, „Tina, 53 cm, 3.208 g, ein echter Schreihals (bis heute)“ und ein detaillierter Geburtsbericht schmücken die Seite. Der 55-Jährige tut dies nicht aus künstlerischer Leidenschaft oder aus Spaß am Schreiben, sondern weil er alles so genau wie möglich festhalten möchte – für die Zukunft, für sich selbst. Denn Leon weiß, dass er sich irgendwann an diese besonderen Momente vermutlich nicht mehr erinnern wird. Leon leidet an Alzheimer.
Alzheimer – ein Wort, mit dem jede:r etwas ganz Eigenes verbindet. Während manche den Begriff als schlechten Scherz in Bezug auf ihre Vergesslichkeit verwenden – „Boah, langsam krieg ich echt Alzheimer!“ – bedeutet die Krankheit für viele Angehörige und Betroffene Arbeit, Scham, Leid und Trauer. „Es ist, als würde ich meine liebsten Herzensmenschen enttäuschen, ihnen immer wieder Leid zufügen und mich dann nicht einmal mehr daran erinnern“, meint Leon.
Eine Krankheit, die Erinnerungen stiehlt: Was genau ist Alzheimer?
„Alzheimer und Demenz werden oft synonym verwendet, aber der Begriff Demenz umfasst viele verschiedene Erkrankungen. Alzheimer ist eine davon“, so Dr. Barbara Plagg. Die Wissenschaftlerin erklärt, dass Alzheimer eine spezifische Form von Demenz, einem Oberbegriff für verschiedene neurodegenerative und irreversible Erkrankungen sei. Diese Erkrankungen führen dazu, dass Neuronen im Gehirn nach und nach absterben, was alle kognitiven Fähigkeiten beeinträchtigt und schließlich zum Tod führt. „Im Gehirn von Alzheimer-Patienten finden sich typischerweise abnorme Ansammlungen von Proteinablagerungen, die zum Zelltod und zur Verschlechterung der Gehirnfunktion führen“, so Plagg.
„Ich habe mich geschämt und war wütend. Neben Horrorszenarien wie das Nicht-Wiedererkennen meiner Frau und Tina regierte eine Frage in meinem Kopf: Warum ich?“
Jungerkrankter LeonDie Frage nach den Symptomen sei laut Forscherin die Gretchenfrage, da jede:r ab und an Verschlechterungen an der eigenen Gedächtnisfähigkeit feststellt. Das Gedächtnis reagiert empfindlich auf verschiedene Lebenssituationen und Faktoren wie Trennungen, Schlafmangel, Stress, Alkohol oder Sport. Kognitive Fähigkeiten seien zwar grundsätzlich stabil, können aber je nach Lebenssituation schwanken. „Wichtig ist, dass nicht jede Gedächtnisstörung ein Alarmzeichen für Demenz ist. Wir alle können mal unseren Autoschlüssel verlegen oder Namen vergessen“, gibt Barbara Plagg zu bedenken. Es wird erst dann alarmierend, wenn solche Störungen ohne ersichtlichen Grund über mehrere Monate bestehen.
Typische Symptome für die Erkrankung sind Wortfindungsstörungen, Desorientierung, Schwierigkeiten bei Sprache und Kommunikation, Probleme mit dem Denken und der Urteilsfähigkeit sowie Veränderungen im Verhalten und der Persönlichkeit. Die Diagnose von Alzheimer ist aber sehr viel komplexer und umfasst viele Ebenen, da ähnliche Symptome auch andere Ursachen haben können, wie beispielsweise Depressionen. Andere Krankheitsbilder mit ähnlichen Symptomen müssen also zunächst ausgeschlossen werden.
So war es auch beim Wahl-Innsbrucker Leon. „Ich war mir sicher, dass ich an Burn-Out oder Depressionen leiden würde“, so der 55-Jährige. Er hatte ursprünglich seinen Hausarzt aufgrund starker Stimmungsschwankungen, Angstzuständen, Wortfindungsproblemen und Planungsschwierigkeiten bei seinem Job als Informatiker aufgesucht. Dieser überwies Leon an einen Neurologen. Nach verschiedenen kognitiven Tests, neurologischen und körperlichen Untersuchungen stand die Diagnose fest: Alzheimer. „Ich habe mich geschämt und war wütend. Neben Horrorszenarien wie das Nicht-Wiedererkennen meiner Frau und Tina regierte eine Frage in meinem Kopf: Warum ich?“, reflektiert Leon den Moment seiner Diagnose.
Eine solche Diagnose bedeutet nicht nur für die Betroffenen selbst, sondern auch für deren Angehörige und das nahe Umfeld eine große Herausforderung. Das weiß auch Davide, dessen Mutter an Alzheimer erkrankt ist. Gemeinsam mit seinem Vater bemüht er sich, seiner Mutter bestmöglich zu helfen. „Diese Krankheit hat unser Familienleben tiefgreifend erschüttert und das bisherige Gleichgewicht völlig durcheinandergebracht. Auch unsere Beziehungen außerhalb der Familie sind stark beeinträchtigt“, so Davide. Die Herausforderungen, die der Umgang mit der Krankheit mit sich bringt, lassen kaum Raum, Zeit und oft auch wenig Energie für das Leben außerhalb der eigenen vier Wände.
Alzheimer: (K)eine Krankheit für Senior:innen?
Entgegen dem gesellschaftlichen Vorurteil, dass Alzheimer nur sehr alte Menschen betrifft, kann diese Krankheit auch bereits „junge“ Erwachsene treffen. Leon zählt mit seinen 55 Jahren zu den sogenannten Jungerkrankten, eine Bezeichnung für Alzheimer-Patient:innen, die unter 65 Jahre alt sind. Laut der Weltgesundheitsorganisation (WHO) leiden 0,21 % der 40- bis 59-Jährigen und 0,93% der 60- bis 64-Jährigen an einer solchen Form von Alzheimer. Auch in Südtirol gibt es einige Betroffene in dieser Altersgruppe. Edith Moroder, Vizepräsidentin derASAA, der Alzheimerorganisation für Südtirol, betont die Notwendigkeit von Einrichtungen, die speziell auf die Bedürfnisse dieser jungen Patient:innen zugeschnitten sind. Ihre Anforderungen, wie etwa nach sportlicher Betätigung oder einem aktiven Familienleben, unterscheide sich deutlich von denen älterer Erkrankter.
Auch wir Angehörigen benötigen dringend dauerhafte Unterstützungsangebote!
Angehöriger DavideDen vorherrschenden Mangel an Einrichtungen und strukturellen Hilfsangeboten in Südtirol kritisiert auch Davide: „Die Provinz Bozen bietet eine Memory Clinic, die jährlich eine Kontrolluntersuchung für Betroffene durchführt. Zudem gibt es Ergotherapie-Sitzungen, die jedoch auf maximal zehn Stunden begrenzt sind und angesichts der degenerativen Krankheit ineffizient erscheinen.“ Seiner Ansicht nach wäre ein kontinuierlicher und strukturierter Ansatz notwendig und effektiver. Was die Unterstützung für die Angehörigen betrifft, so sei das, was angeboten wird, nicht ausreichend: „Wir haben einige Male das Zentrum ASAA besucht. Es sind aber sicherlich mehr organisierte Strukturen erforderlich, die den Betroffenen die richtige psychische und physische Unterstützung bieten, sowie mehr spezialisiertes Personal. Auch wir Angehörigen benötigen dringend dauerhafte Unterstützungsangebote!“
Wenn Scham das Leben bestimmt …
Leon erklärt im Interview, dass seine Krankheit mit enormen Schamgefühlen einhergeht: „Ich wusste nichts über Alzheimer. Ich kannte nur den Film ‚Honig im Kopf‘, in dem ein alter Mann aufgrund seiner Alzheimer-Erkrankung in den Kühlschrank pinkelt, weil er das Klo nicht mehr findet und sich permanent – ohne es zu wissen – selbst blamiert.“ Leon schämt sich, an einer so „würdelosen Krankheit“ zu leiden. Mit diesen Gefühlen steht Leon nicht allein da. Viele Betroffene bezeichnen den Krankheitsverlauf als „entwürdigend“ oder „entmündigend“, weil man plötzlich wieder zum kleinen Kind wird, das allein wenig schaffen kann, „Dummheiten“ macht und alles und jeden vergessen kann. „Dieses Schicksal wollte ich nicht, weder für mich noch für meine Liebsten“, sagt Leon.
Ähnlich beschreibt auch Davide die Erkrankung seiner Mutter: „Für mich als Angehörigen ist es das Schwierigste, was mir je passiert ist.“ Zu sehen, wie seine Mutter Tag für Tag abbaut, sei unerträglich. Außerdem muss er neben seinem eigenen Leid auch seinen Vater und seinen Bruder unterstützen. Davide empfindet seinen täglichen Einsatz als „vergeudetes Engagement“, denn so sehr man sich auch bemühe, könne man den langsamen Verfall nicht aufhalten: „Es gibt Tage, an denen ich stabil bin und andere, an denen ich in völlige Verzweiflung gerate.” Seine Arbeit, Studium und sportliche Aktivitäten bieten Davide ein kleines Ventil. Am meisten Sorgen mache er sich um seinen Vater, der am stärksten betroffen sei und am meisten leidet.
Es gibt Hoffnung auf bessere Behandlungsmöglichkeiten in der Zukunft.
Dr. Barbara PlaggDie Angst vor dem geistigen Verfall und dem Horrorszenario, die eigenen Liebsten nicht mehr zu erkennen, ist bei Angehörigen wie Davide und Betroffenen wie Leon tief verwurzelt. Um nicht im Selbstmitleid zu versinken, klammert sich der Wahl-Innsbrucker Leon an medizinische Hoffnungsschimmer. Er weiß inzwischen, dass sein Krankheitsverlauf anders verlaufen kann als die stereotypischen Darstellungen von Alzheimer in Filmen und dass einige vielversprechende Medikamente auf den Markt kommen.
Auch Wissenschaftlerin Barbara Plagg hofft auf bessere Behandlungsmethoden in der Zukunft. Auch wenn die Forschung zu Alzheimer und anderen Demenzerkrankungen aufgrund der hohen Komlexität des Krankheitsbildes und dem Rückzug einiger Pharmaunternehmen Rückschritte erleitten hat,, gäbe es trotzdem Fortschritte.„Neue Medikamente, die auf Amyloid-Beta-Plaques (unauflöslichen Ablagerungen zwischen den Nervenzellen) abzielen, zeigen vielversprechende Ergebnisse. Es gibt also Hoffnung auf bessere Behandlungsmöglichkeiten in der Zukunft“, betont Plagg.
„Und erkennst mich noch?“
Um Leons Schamgefühle in den Griff zu bekommen, besucht Leon regelmäßig Selbsthilfegruppen und einen Therapeuten in Tirol. „Wenn ich es dann einmal schaffe, die Krankheit zu akzeptieren und so gut es geht damit zu leben, werde ich von der Außenwelt mit Vorurteilen konfrontiert.“ Der 55-Jährige berichtet von Situationen, in denen sein Umfeld mit wenig Empathie auf seine Krankheit reagiert und ihn mit „schambehafteten Stereotypen“ konfrontiert hat. Sätze wie „Und erkennst du mich noch?“ oder „Oh mein Gott, dann wirst du bald nicht einmal mehr wissen, wie du dir deinen Hintern abwischen musst“ sind dabei gefallen. „Ich will gar nicht wissen, welchen blöden Aussagen meine Frau ausgesetzt ist. Es bräuchte mehr Sensibilisierung für die Krankheit, aber das dauert. Momentan ist mir wichtiger, dass meine Frau und Kinder strukturelle Hilfe bekommen, denn sie gehen ebenfalls durch diese Krankheit.“, sinniert der Jungerkrankte.
Wirklich krank fühle ich mich dann nur, wenn mir niemand hilft, meine Lücken zu schließen.
Jungerkrankter LeonAuf die Frage, wie sich die Beziehung von Davide zu seiner erkrankten Mutter seit der Diagnose verändert hat, antwortet er ehrlich: „Die Liebe eines Kindes zu seiner Mutter ändert sich durch keine Krankheit. Was sich leider verändert hat, ist mein Verhalten ihr gegenüber, besonders in Bezug auf Flexibilität und Sensibilität.“ Die Kommunikation zwischen den beiden funktioniere nicht mehr einfach und intuitiv. Um gemeinsame Erinnerungen zu schaffen, organisiert er besondere Familienmomente, in denen sie zusammen Pizza essen oder Sonntagsspaziergänge in den Bergen machen, um die Situation zu normalisieren. In diesen Momenten wird vieles erträglicher. „Körperlich und dynamisch ist meine Mutter eine sehr starke Frau. Es ist für mich wichtig, sie trotz ihrer Krankheit stark zu sehen, und genauso wichtig ist es für sie, sich auch wieder stark zu erleben, wenn auch nur für kurze Dauer.“ Denn auch für sie sei es niederschmetternd zu bemerken, dass all die Aufgaben, die sie früher alleine erledigen konnte, jetzt von anderen übernommen werden müssen.
Kein Mitleid, kein Bedauern: Der Umgang mit Menschen mit Alzheimer
„Für mich ist der beste Weg empathische Ehrlichkeit“, antwortet Leon auf die Frage, wie man am besten als Umfeld mit Alzheimer-Betroffenen umgehen soll. „Ich will weder, dass mir mein Umfeld Situationen, in denen ich ‚unangenehme‘ Dinge gemacht oder vergessen habe, verschweigt, noch, dass ich bemitleidet werde.“ Außerdem sei es für ihn wichtig, bis zu einem gewissen Grad Kontrolle und Wissen über sein Leben und sein Handeln zu behalten. Der 55-Jährige möchte nicht, dass ihm aus Mitleid nichts mehr erzählt wird: „Ich bemerke ohnehin anhand der Reaktionen meines Umfelds, wenn ich mal etwas ‚falsch‘ mache oder vergesse. Wirklich krank fühle ich mich dann nur, wenn mir niemand hilft, meine Lücken zu schließen.“
Sein humorvoller Charakter hilft ihm, die Krankheit zu bewältigen und die Schwere der Situation zu nehmen. Ein breites Grinsen ziert sein Gesicht, als er das Interview mit den Worten beendet: „Ich melde mich und wenn nicht, erinnere mich daran, okay?“
Weiterführende Links
ASAA – Alzheimer Südtirol Alto Adige
Alzheimer vorbeugen – Sanitätsbetrieb Südtirol (gesundheit-suedtirol.it)
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