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Unten an den Abwasserrohren des kilometerlangen Autobahnviadukts taumeln Säcke im kühlen Wind. Sie sind gefüllt mit Brot und hängen hoch über dem Boden, geschützt vor hungrigen Ratten. Darunter wärmen Männer Suppe in aufgeschnittenen Blechdosen und halten das Lagerfeuer mit Altkleidern am Leben. Es hat geregnet und der Boden ist matschig, das Feuerholz unbrauchbar. Hier am Ufer des Eisacks, neben der Bozner Industriezone, leben Obdachlose unterschiedlicher Altersgruppen aus allen Ländern der Welt: Cuba, Marokko, Pakistan, Afghanistan, Algerien, Nigeria. Einige schlafen in Zelten, andere eingezwängt in enge Nischen zwischen den massiven Betonpfeilern der Autobahn. Darüber rauschen die Autos und Lastwagen. Auch in der Nacht ist es zu laut, um sich normal unterhalten zu können – geschweige denn ruhig schlafen.
„Das ist das leistbare Wohnen in Bozen“, sagt Ludwig Thalheimer bitter. Er kennt viele der Menschen hier und sie kennen ihn. Auf seinem E-Scooter fahren wir unter dem Viadukt den Fluss entlang von Brücke zu Brücke, um uns mit den Bewohnern zu unterhalten. Die meisten grüßen, als sie uns kommen sehen. Für manche ist Ludwig der Bezugspunkt zur Mehrheitsbevölkerung. Er bringt Decken und Brot, hilft bei der Arbeits- und Wohnungssuche. Er war auch dort, als die Polizei die Zeltlager räumte: Decken und Schlafsäcke, aber auch Dokumente und persönliche Gegenstände landeten im Müll. Später wurden die Nischen zwischen den Pfeilern zubetoniert. Während die Obdachlosen früher in Stadtnähe lebten, zum Beispiel bei der Rombrücke, wurden sie dadurch immer weiter vertrieben und an den Rand gedrängt. Aus den Augen, aus dem Sinn.
Träume vom sozialen Aufstieg
Das ist doppelt tragisch, wenn man bedenkt, warum diese Menschen nach Südtirol gekommen sind: Abgesehen von jenen, die vor dem Tod flüchten müssen, verlässt ein großer Teil die Heimat, um ein besseres Leben anzustreben. Sie träumen vom sozialen Aufstieg, vom Erfolg im Paradies Europa oder von der Möglichkeit, Geld an die Familien daheim zu schicken und damit den dort prekären Umständen generationenübergreifend zu entkommen. Umso größer ist die Überraschung in Anbetracht der realen Umstände: Viele können kaum für sich selbst sorgen, finden wenig Arbeit und keine Wohnung.
Zu Hause war er angesehen, musste aber fliehen. Nach einigen guten Jahren in Österreich ist er hier abgestürzt. Während des Gesprächs raucht er Crack.
So auch Anwar. Irgendwo in der Nähe des Fernheizwerks schläft der gebürtige Pakistaner in seinem Zelt hinter Dornenbüschen. Ursprünglich ging er, um Geld für seine Familie zu verdienen. Daheim war er Gemüsehändler. Das Leben war beschwerlich, aber gut. Die Hoffnung auf sozialen Aufstieg trieb ihn zur Odyssee an, die schließlich hier endete. Anderen ging es ähnlich: Wir sprechen mit einem jungen Afghanen, der stolz von seinem Vater erzählt. Zu Hause war er angesehen, musste aber fliehen. Nach einigen guten Jahren in Österreich ist er hier abgestürzt. Während des Gesprächs raucht er Crack.
Der Traum vom sozialen Aufstieg hat sich für viele in eine soziale Not- und Niederlage verwandelt. Die Enttäuschung ist groß, eine Rückkehr zum alten Leben oft keine Option: Einigen fehlen die Ressourcen dafür, bei vielen spielt der Stolz mit. Man zog los als Hoffnungsträger. Sich nun einzugestehen, dass man am Boden des sozialen Gefüges festklebt, kann schmerzhaft sein. Nour Eddines Geschichte ist ein gutes Beispiel für dieses Phänomen: Auf Seite 15 erzählt er von seinem Leben.
Was die Menschen am Fluss gemeinsam haben, ist vor allem eines: Sie bleiben über Jahre hinweg in derselben Situation, ohne Aussicht auf Verbesserung. Im Unterschied zu Menschen aus normaleren Verhältnissen fehlen ihnen die Grundbedingungen für ein stabiles Leben: ein sozialer Kreis, ein Dach über dem Kopf, ein sicherer Platz für Hab und Gut, die Möglichkeit sich zu waschen. Ohne diese Dinge ist es kaum möglich, am gesellschaftlichen Wettbewerb um bessere Ausbildungen, Arbeitsplätze und Gehälter teilzunehmen. Weil ihnen die Basis fehlt, fehlt auch die soziale Mobilität: Sie stecken in der Armutsspirale fest.
Durch die Maschen des Netzes
Eigentlich ist die Idee einfach: Jede Person kann es durch Talent und harte Arbeit zu etwas bringen. So lautet zumindest das Versprechen der meritokratischen, also leistungsorientierten, Gesellschaft. Wenn dies stimmt, wäre die soziale Mobilität perfekt und der berufliche Erfolg unabhängig von den Verhältnissen, in die man hineingeboren wird. Die Realität ist aber anders: Menschen aus gutem Hause haben es leichter als Kinder von ärmeren Eltern, die sich oft nur schwer oder gar nicht hocharbeiten können.
Kinder von Führungskräften haben eine sechsmal so hohe Chance, selbst Führungskräfte zu werden. Umgekehrt wird auch Armut zum Teil vererbt.
In Südtirol beschäftigte sich das Forschungszentrum EURAC ausführlich mit diesem Thema. In einer Studie untersuchte sie die Chancengleichheit in der Region und konzentrierte sich auf die soziale Mobilität von einer Generation zur nächsten: Wie sehr kann ich sozial aufsteigen, obwohl meine Eltern in schlechten Verhältnissen leben? Wie unterscheiden sich die Chancen je nach sozialer Herkunft? Das Resultat: In absoluten Zahlen hat sich die Situation verbessert. Relativ gesehen gibt es aber noch Privilegien für besser gestellte Familien. Kinder von Führungskräften haben eine sechsmal so hohe Chance, selbst Führungskräfte zu werden. Umgekehrt wird auch Armut zum Teil vererbt. Nach der Studie wurde ein Punkteplan ausgearbeitet, der die Lage verbessern soll und der auch vonseiten der Politik erwägt wurde.
Die Intentionen dahinter sind gut. Das Problem: In der Studie fehlen obdachlose Menschen, die über die Telefonumfragen natürlich nicht erreicht werden konnten. Dabei sind sie gerade jene, die soziale Mobilität am dringendsten nötig hätten und deren Miteinbeziehung in die Forschung ein ganz anderes Bild von Chancengleichheit zeichnen würde. Zudem machen die Kriterien der Studie – Bildung, Beruf und Einkommen der Eltern – für sie nur bedingt Sinn, da Migrationserfahrungen oft einen Bruch mit der vorherigen Generation bewirken. Es zeigt sich: Die Menschen am Rande der Gesellschaft werden oft übersehen. Sie bleiben statistisch unter dem Radar und fallen durch die Maschen des Netzes von Medien, Politik und Sozialwissenschaft.
Der Mangel einer Vision
Es ist nicht alles schlecht. Einiges wird bereits getan, um die Situation zu verbessern: Man bemüht sich, genügend Schlafplätze zu schaffen, vor allem für den kalten Winter. Es gibt Hilfsorganisationen, Mensas und diverse Sozialprojekte. Doch eine nachhaltige Vision fehlt. Hilfseinrichtungen werden oft zu Ballungszentren von Problemen, auch weil dort Menschen zusammenkommen, die drogenabhängig wurden oder psychologische Hilfe brauchen. Außerdem sind die Schlafplätze meist nur nachts geöffnet, am Tag sind die Leute dann wieder auf der Straße.
Ausgegrenzte Menschen sollten nicht weiter ausgegrenzt, sondern in das Gewebe des sozialen Lebens eingebunden werden.
Jene, die dort keinen Platz finden oder das Leben auf der Straße vorziehen, werden durch restriktive Maßnahmen zunehmend vertrieben. Inklusion sieht anders aus: Es braucht eigene Räume inmitten des normalen Betriebs der Gesellschaft. Ausgegrenzte Menschen sollten nicht weiter ausgegrenzt, sondern in das Gewebe des sozialen Lebens eingebunden werden. Dafür muss soziale Mobilität neu gedacht werden. Es braucht zuerst die Grundbedingungen, um die Teilnahme am sozialen Wettbewerb überhaupt zu ermöglichen: Unterstützung beim Erlernen der Sprache sowie im Umgang mit Bürokratie, bessere Zugänge zum Arbeitsmarkt und vor allem eine würdige Unterkunft.
Bevor es dunkel wird, sprechen wir mit Muhammad. Sein Rücken lehnt an einem der Zementblöcke, die ihm den Zugang zu seinem Schlafplatz versperren sollen. Nachts schläft er gekrümmt zwischen Block und Pfeiler. Um sich geschlungen trägt er eine Decke, die ihm Ludwig gebracht hat. Muhammad ist einer von denen, die aufgegeben haben. In seinem Bart hängen graue Strähnen, am Bein klafft eine unbehandelte Wunde. Zusammen sitzen wir dort, unterhalten uns und blicken auf die Wogen des Flusses, während über unseren Köpfen der pausenlose Verkehr tobt.
Einige schlafen eingezwängt zwischen den Betonpfeilern der Autobahn.
Die Enttäuschung ist groß, eine Rückkehr zum alten Leben oft keine Option.
Nour Eddine (36):
Ich wohne seit fünf Monaten am Fluss unter der Autobahn. Man muss nicht fragen, wie es uns dort geht – man sieht es. Es ist scheiße, schlimmer als scheiße. Am schlimmsten ist die Erschöpfung für jene die arbeiten. Man kommt am Abend nach Hause und kann sich nicht duschen und waschen oder sich ausruhen. Außerdem bekommst du ohne Dokumente keinen richtigen Job. Meiner Familie in Marokko erzähle ich nicht, dass ich unter der Autobahn schlafe. Sie würden sich Sorgen machen.
Unsere Heimatstadt Casablanca ist gut zum Urlaub machen, aber wenn du dort lebst, geht es dir schlecht. In Marokko gibt es Reiche und Arme und nichts dazwischen. Es ist unmöglich, sich ein Haus zu kaufen, das Gehalt ist niedrig und die Kosten hoch. Man lebt von der Hand, kann sich kein besseres Leben aufbauen, auch wenn man hart arbeitet. Wenn es uns dort gut gegangen wäre, wäre ich nicht weggegangen. Jetzt bin ich schon zehn Jahre unterwegs – zehn Jahre allein. Nach Marokko bin ich nicht mehr gegangen. Ich möchte meine Familie besuchen, aber mir fehlen die nötigen Dokumente.
Mein Leben hier habe ich mir anders vorgestellt. Es geht mir nicht viel besser als in Marokko, aber ich kann zumindest ein wenig Geld nach Hause schicken. Mutter und Vater sind zu alt zum Arbeiten. Ich bemühe mich, um ihnen ein normales Leben zu ermöglichen. Das ist mein Ziel und das macht mich zufrieden, trotz allem. Viele kommen mit dem gleichen Ziel hierher. Sie sagen: Zu Hause gibt es nichts. Doch mit der Zeit vergessen sie ihr Ziel, landen in Drogen und Alkohol und landen in der gleichen Situation. Freunde habe ich unter der Autobahn keine. Das ist nicht meine Welt. Ich gehe nur hin, um zu schlafen und basta. Ich will nicht hängen bleiben, sondern mein Leben verbessern.
Eigentlich brauche ich nicht viel: eine Wohnung und Arbeit, mehr nicht.
Eigentlich brauche ich nicht viel: eine Wohnung und Arbeit, mehr nicht. Ohne Arbeit geht es dir nicht gut, du hast nichts zu tun und denkst zu viel nach. Jetzt, so langsam, wird es besser – aber es braucht viel Geduld. Ohne Geduld geht gar nichts. Momentan kann ich auf dem Hof beim Bauer schlafen, für den ich arbeite. Ich habe ein Zimmer, ein Bett, eine Dusche. Auch mein cedolino wurde verlängert und ich kann wieder für zwei Monate bei der Arbeit gemeldet werden. Aber was nachher kommt, weiß ich nicht.
Um sich ein würdevolles Leben aufzubauen, brauchen Nour Eddine und viele andere Menschen vor allem zwei Dinge: eine Arbeit und eine Bleibe. Wenn ihr jemanden kennt, der oder die dabei helfen kann, meldet euch bitte gerne bei uns: zebra.assist@oew.org
+39 324 8924907
Text: Matthias Fleischmann
Dieser Text erschien erstmals in der Straßenzeitung zebra. (04.11.2024 – 02.12.2024 | 101).
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