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Sabine strotzt vor Energie und Lebensfreude. Das sei schon als Kind so gewesen, da quillte die heute 44-Jährige vor Energie regelrecht über. Sie sagt: „Verstanden und akzeptiert fühlte ich mich aber selten.“ Bis heute. Sabine heißt eigentlich anders, sie erzählt uns über ihr Leben mit ADHS, die erst im Erwachsenenalter festgestellt wurde und ihr Leben bis heute prägt.
Als Sabine mit 24 ihren ersten Sohn zur Welt bringt, offenbart sich neben der überwältigenden Freude über das Neugeborene, noch ein anderes, negatives Gefühl. Die junge Mutter fühlt sich für diesen Lebensabschnitt nicht bereit. Sie soll sich in einer neuen Wohnung zurechtfinden, einen eigenen Haushalt führen und ihr Kind versorgen. Das Chaos überrumpelt sie, ständig hat sie das Gefühl, unter Strom zu stehen, „wie aufgeladen“, erzählt sie. Sabine holt sich Hilfe und bekommt im Krankenhaus eine postpartale Depression diagnostiziert. Doch Sabine kann mit dieser Depression, die fortan zu ihr gehören soll, nicht viel anfangen: „Ich wusste, dass da noch etwas anderes sein musste.“ Eine Freundin vermittelt sie zu einer Hypnotherapeutin in Brixen, die sofort diagnostiziert: „Keine anhaltende Depression, sondern ADHS.“ Und diese Diagnose soll wie ein letztes fehlendes Puzzleteil in die Lebensgeschichte von Sabine passen.
„Ich wusste, dass da noch etwas anderes sein musste.“
Die Abkürzung ADHS steht für Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung. Wenn Hyperaktivität als Symptom kaum auftritt, spricht man auch von ADS. Hinter der genetisch vererbten Störung verbirgt sich eine der häufigsten psychischen Auffälligkeiten bei Kindern und Jugendlichen. Zu den drei Hauptsymptomen zählen Aufmerksamkeitsstörungen, Hyperaktivität und Impulsivität. Nach heutigem Stand der Forschung haben rund fünf Prozent der Bevölkerung eine ADHS. Viele Erwachsene stellen erst durch die Diagnosestellung bei ihren Kindern fest, dass sie selbst ebenfalls betroffen sind.
Andreas Conca behandelt seit fast 20 Jahren Kinder und Jugendliche mit dem umgangssprachlichen Zappel-Philipp-Syndrom. Seit 2010 leitet er als Primar die Spezialambulanz für ADHS im Erwachsenenalter in Bozen.„Die Ambulanz war die erste auf nationaler Ebene“, sagt der Psychiater und Psychotherapeut. Konkrete Zahlen, wie viele Diagnosen im Jahr in Südtirol ausgestellt werden, kann er keine nennen. Die behandelnden Ärzte seien nicht dazu verpflichtet, die Anzahl der ausgestellten Diagnosen zu sammeln oder zu dokumentieren. Lediglich jene Kinder und Jugendliche seien in einer nationalen Liste eingetragen, die aufgrund ihrer neurologischen Störung Medikamente einnehmen müssen. Noch viel schwieriger sei es aufzuzeigen, wie viele Erwachsene die Spezialambulanz aufsuchen würden, da auch viele Nicht-Südtiroler*innen nach Bozen kommen, so Conca.
Während bei Kindern eine ADHS-Störung meist allein auftritt, gehen bei 60 bis 80 Prozent der Erwachsenen bereits andere Begleiterkrankungen wie Zwangs- und/oder Persönlichkeitsstörungen sowie Depressionen einher. Diese überlagern teils die ADHS-Symptome. Auch weil sich Erwachsene weniger hyperaktiv verhalten, kann die Störung bei Erwachsenen unentdeckt oder falsch behandelt werden. Sie verspüren oft eine innere Unruhe oder Rastlosigkeit, haben Schwierigkeiten in Liebesbeziehungen oder im Beruf.
„Ich ließ mich nicht bändigen“
Auch Sabine kennt das Gefühl der inneren Unruhe gut: „Ich werde nie ankommen, das weiß ich. Für mich geht das aber in Ordnung. Ich weiß ja, woher das Gefühl kommt.“ Blickt man auf Sabines Berufsleben zurück, stellt man schnell fest:Wechsel gab es häufig. Nachdem sie die Grund- und Mittelschule abgeschlossen hatte, entschied sie sich für eine Oberschule. Ein Schuljahr später wurde Sabine aus dem Heim rausgeschmissen. „Ich ließ mich nicht bändigen, ständig wollte und konnte ich irgendwo anecken.“ Sabine stieg daraufhin in die Gastronomie ein, arbeitete fortan als Köchin und merkte: Unter hohem Druck konnte sie am besten arbeiten. Sie wechselte mehrmals ihren Posten, die Gaststätte, den Arbeitsplatz. Bis sie schließlich ihren Traumberuf als Hotelsekretärin ergattern wollte. Sabine beschloss, die Abendschule zu besuchen. Dort musste sie nicht nur das Lernen lernen, sondern auch einen Weg finden, um länger still sitzen zu können, aufmerksam bei einer Sache zu bleiben, sich Selbstbeherrschung anzueignen.
In einem ADHS-Gehirn stehen Dopamin und Noradrenalin dort, wo sie benötigt werden, nicht ausreichend zur Verfügung.
In einem Gehirn ohne ADHS regulieren Botenstoffe, sogenannte Neurotransmitter, die Weiterleitung von Signalen zwischen den Hirnzellen. Sie leiten Informationen weiter, die unser Erleben und Verhalten steuern, auslösen oder hemmen. Die Botenstoffe Dopamin und Noradrenalin sorgen zum Beispiel dafür, dass wir motiviert und wach sind und unsere Aufmerksamkeit gezielt fokussieren können.
In einem ADHS-Gehirn hingegen stehen Dopamin und Noradrenalin dort, wo sie benötigt werden, nicht ausreichend zur Verfügung. Das heißt erstens, dass Menschen mit ADHS ihre Umgebung anders wahrnehmen und zweitens, dass sie ihr Verhalten weniger gut steuern und kontrollieren können. Das zeigt sich zum Beispiel in impulsivem Verhalten oder schnellem Abgelenkt-Sein.
Sabines Entladung
Um das eigene Gemüt gut regulieren zu können, versuchen ADHS-Betroffene eine geeignete Selbstregulierung, eine Art Eigentherapie, zu finden: Wie schaffe ich es, runter zu kommen? Was brauche ich, damit ich mich „entladen“ kann?
Sabine regulierte ihr Gemüt mithilfe von Nikotin. Sie rauchte bereits im Jugendalter, auch während ihrer ersten Schwangerschaft rauchte sie durchgehend. Sie war sich bewusst, dass sie ihrem eigenen Körper und jenem ihres ungeborenen Kindes schadet. Doch die Sucht nach Nikotin war stärker als ihr Wille, damit aufzuhören.
„In 40 Prozent der ADHS-Fälle tritt daneben eine Sucht auf“, erklärt Conca. „Egal, ob es sich um eine Kauf-, Alkohol- oder Nikotinsucht handelt, alle bezwecken dasselbe: Selbstregulierung.“ Die Betroffenen hätten im Laufe der Jahre eine eigene Strategie entwickeln müssen, um mit der Krankheit klarzukommen. Problematisch sei es oft, wenn die Störung in der Kindheit nicht erkannt wurde. Die Patient*innen hätten meist einen langen Leidensweg hinter sich, weil sie ihr Verhalten nicht so steuern könnten, wie sie es wollen und dabei selbst nicht verstehen, woran das liegt, so Conca.
„Sie sind nicht mehr oder weniger intelligent als der Durchschnitt. Was aber stimmt, ist, dass sie anders ticken als Menschen ohne Störung. Und das gibt ihnen manchmal das Gefühl, dümmer oder langsamer zu sein als andere.“
Der Mythos, dass ADHS-Betroffene intelligenter als Menschen ohne ADHS seien, stimmt nicht. „Sie sind nicht mehr oder weniger intelligent als der Durchschnitt. Was aber stimmt, ist, dass sie anders ticken als Menschen ohne Störung. Und das gibt ihnen manchmal das Gefühl, dümmer oder langsamer zu sein als andere“, erklärt der Psychiater. Finden ADHS-Patienten aber einen Bereich, der ihnen zusagt, können sich außerordentliche Fähigkeiten, brillante Ideen oder ein hohes, kreatives Potenzial etablieren.
Fehlende Unterstützung
Sabines Lieblingsfach in der Schule war Geschichte. Mathematik hasste sie, Formeln und Regeln konnte sie sich nicht einprägen. Erstaunt von sich selbst war sie in mehreren Notfallsituationen. Sabine reagierte sofort, schnell und richtig. Hätte sie die ADHS-Diagnose früher erhalten, hätte sie die Schule beendet: „Und dann hätte ich Medizin studiert.“ Aus heutiger Sicht hätte Sabine mehr Unterstützung und Zuspruch gebraucht. Sie selbst hielt sich für dumm, andere hielten sie für zappelig und aufmüpfig. „Die Zeiten waren andere, man kannte die Störung ja kaum. Ich möchte niemandem die Schuld geben, dass meine Störung nicht erkannt wurde.“
Dass ihr eigener Sohn vor Kurzem die Schule geschmissen hat, macht ihr Sorgen. „Ich erkenne bei ihm Parallelen. Er ist zwar nicht hyperaktiv, aber er hatte Probleme in der Schule, rutschte dadurch immer weiter in eine Computer-Sucht und ist stark in sich gekehrt.“ Er sei an keinem sozialen Kontakt interessiert. Sabine ist sich sicher, dass ihr Sohn ADS hat, doch testen will er sich nicht lassen. Sabine meint: „Ich kann ihn nicht dazu zwingen, immerhin ist er schon 21.“
Andreas Conca legt keinen Zweifel daran, dass es für Betroffene wichtig sei, über die eigene Störung Bescheid zu wissen. Auch Sabine ist davon überzeugt: „Ich habe mich durch die Diagnose besser kennengelernt. Ich konnte gezielt etwas gegen meine alltäglichen Probleme tun. Meine Mutter meinte auch: Jetzt geht mir ein Licht auf.“ Der Psychotherapeut sieht die Wichtigkeit vor allem darin, ADHS als eine hochindividuelle Störung anzuerkennen: „Alle sind einzigartig, jedes Kind, jede:r Jugendliche, jede:r Erwachsene muss individuell behandelt und verstanden werden. Das Einzige, das alle ADHS-Betroffene verbindet, ist das Gefühl anders als andere zu sein.“ Sabine hat es geschafft, die Abendschule anzuschließen. Das Angebot, als Hotelsekretärin in einem Hotel in Gröden zu arbeiten, hat sie abgelehnt. Seit 14 Jahren arbeitet sie nun in der Landesverwaltung. Auch wenn sie sich bei der Arbeit manchmal langweilt, will sie bleiben. „Das Team dort will ich einfach nicht verlassen.“ Außerdem hat sie vor drei Jahren mit dem Rauchen aufgehört: „Ich wusste, dass es nur dazu diente, mein Gemüt zu regulieren. Nun habe ich andere, gesündere Wege gefunden, um runterzukommen.“
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