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„Ich sterbe nicht! Ich sterbe nicht! Ich sterbe nicht!“ Das sind die Worte, die Samuel Mittersteiner Spath wie ein Mantra kurz nach dem Absturz wiederholt, während er den Berg hinunterpoltert. Zu dem Zeitpunkt sind seine Beine durch den Aufprall auf einen Felsen bereits schwer verletzt. Alles was übrig bleibt, ist zu hoffen, dass der Fall bald ein Ende nimmt. Kurz vor einem 100 Meter tiefen Abgrund bleibt Samuel auf einem kleinen Vorsprung am Ende eines Geröllfelds liegen. Und das auf 2.900 Metern Höhe, in den unzugänglichen Felsen des Tschigat.
Hoch im Himmel
Seit dem Unglück sind mehr als zwei Jahre vergangen. In der Hand die Mokkamaschine gießt Samuel an einem Vormittag kurz vor Weihnachten 2024 drei Tassen Kaffee ein. Er trägt denselben Pullover, den er beim Absturz getragen hat. Immer noch mit einem Loch am Ellenbogen: Neben der Aufnahme seiner Helmkamera ist diese Narbe eine Erinnerung an den fatalen Tag und das kleinste Übel, das Samuel vom Unfall mitgenommen hat. Er setzt sich neben seine Freundin Hannah an den Tisch.
Samuel, mittlerweile 22 Jahre alt, war schon immer für Abenteuer zu haben: lebhaft, mutig und immer auf den Adrenalinkick aus. Egal ob im Neuschnee zwischen Bäumen mit Tourenskiern Slalomfahren, auf Fuerteventura mit salzig glitzerndem Haar surfen oder auf 3000 Metern Höhe durch die Lüfte rauschen: Samuel scheute nie davor zurück, etwas Neues auszuprobieren. Und so war es auch mit dem Paragleiten. Spontan entschied er sich gemeinsam mit einem Freund, den Schein zu machen. Früher war seine Hauptmotivation beim Fliegen so wild wie möglich zu sein, sich in jedes Thermikfeld zu stürzen, das Aufwind gibt, oder einen sogenannten Fullstall zu probieren.
Jetzt macht er es, um die Selbstsicherheit, die er einmal hatte, wieder zurückzugewinnen. Samuel will das negative Gefühl, das er dem Paragleiten gegenüber hatte, wieder loswerden. Sein erster Flug nach dem Absturz findet bei perfekten Bedingungen statt: kein Wind, stark bewölkt und keine Thermik. Mit einem Anfänger:innenschirm im Gepäck und einem unguten Bauchgefühl, fliegt er mit zwei Freunden nach eineinhalb Jahren wieder los. Das Gefühl ist immer noch nicht dasselbe wie vorher, aber es kommt so langsam wieder zurück, meint der junge Mann.
Absturz aus den Wolken
Vor dem Unfall war Samuel süchtig. Er war in einer experimentellen Lebensphase, ging immer an seine Grenzen und wollte immer mehr schaffen. Die ersten Male bekommt man durchs Fliegen an sich kleine Adrenalinkicks, doch je sicherer man wird, desto seltener werden diese. Dann kommen diese Kicks nur noch, wenn man sich mit einem Manöver praktisch in den freien Fall begibt, erklärt Samuel. So ähnlich war es bei seinem fatalen Absturz. Samuel flog singend durch die Luft, schaute aus atemberaubender Höhe über die Berge Südtirols und auf einmal sah er, wie die „Ohren“ seines Schirms nach innen klappten. Er kam in einen Abwind. Es wurde hektisch. Die Seile überschlugen sich und verhedderten sich fast ineinander. Samuel zog wild an ihnen, um irgendwie etwas zu bewirken. Später sagte er, ein erfahrener Pilot wäre ruhig geblieben.
Während des Versuches, den Paragleiter zu stabilisieren, waren in Samuels Kopf keine Gedanken. Erst als er über das Geröllfeld hinunterrollte, schoss es ihm in den Kopf: „Ich sterbe nicht!“ Er wusste, dass er irgendwo liegen bleiben musste. Jeder Aufprall könnte ihm sein Leben kosten. Schließlich blieb Samuel wenige Meter vor einem Abhang liegen. Er war bei Bewusstsein, spürte aber, dass seine Beine gebrochen waren. Zum Glück blieb sein Handy unbeschadet und so konnte er selbst den Notruf absetzen. Eine halbe Stunde später sah er den Helikopter auf sich zukommen. Die halbe Stunde Wartezeit fühlte sich unter Schmerzen wie eine Ewigkeit an. Ein Bergretter musste zuerst zu Samuel klettern, um dann einen Stand zu bauen. Das Feld, in dem der Verunglückte lag, war sehr unsicher. Während er schließlich hinaufgezogen wurde, flog der Helikopter schon in Richtung Krankenhaus. Samuel erinnert sich an das unfassbare Gefühl und den wunderschönen Ausblick. Leider konnte er beides nicht genießen.
Ende der Unsterblichkeit
Noch am gleichen Abend wurde er operiert. Samuel hatte beide Sprunggelenke luxiert, sein rechter Mittelfuß war zersplittert, der rechte große Zeh und beide Wadenbeine waren gebrochen. Die erste Person, die er nach dem Absturz anrief, war seine Freundin Hannah. Samuel habe eine gute und eine schlechte Nachricht, sagte er. Durch die Ruhe, die Samuel vermittelte, verstand sie nicht wie schlimm es war. Sie war zu dem Zeitpunkt bei der Arbeit und realisierte erst durch die Meldung im Radio, wie schwer der Unfall wirklich gewesen war. Samuel wollte, dass Hannah seiner Mutter Evi Bescheid gab, da er sich nicht traute.
Evis erste Reaktion war Erleichterung darüber, dass ihr Sohn lebte. Gleich danach kam Wut. Kurze zuvor waren zwei Bekannte mit dem Paragleiter abgestürzt und seine Mutter forderte, dass Samuel eine Pause machen sollte. Normalerweise hatte sie volles Vertrauen in ihren Sohn, doch am betreffenden Tag hatte sie ein ungutes Gefühl. Ungefähr zur Zeit des Absturzes schaute sie hinauf zum Himmel, sah Samuel nicht und dachte sich, dass er schon gelandet sein würde. Als Evi vom Absturz erfuhr, rief sie sofort Samuels Vater Luis an.
Die Sekretärin holte ihn aus dem Klassenzimmer. Sein erster Gedanke galt Samuel. Was war passiert, welche Verletzungen hatte Samuel? Es folgte Freude darüber, dass er noch lebte. Er fuhr sofort ins Krankenhaus. Luis durfte nach dem dreiwöchigen Krankenhausaufenthalt der Arbeit fernbleiben, um Samuel in der kommenden Zeit zu pflegen.
Vernünftiges Adrenalin
Niemand machte ihm Vorwürfe. Keiner verlangt von Samuel, dass er mit dem Paragleiten aufhöre. Seine Familie weiß: Samuel hat verstanden, dass er nicht unsterblich ist. Das Gefühl, das alle vereinte, war die Erleichterung, dass er noch am Leben war. Beim Abspielen des Videos, bei dem schließlich Samuels Worte „Ich sterbe nicht!“ zu hören sind, läuft allen ein kalter Schauer über den Rücken. Man realisiert erst dann, wie ernst die Lage wirklich war. Sein Glück hat er wohl fürs Erste aufgebraucht. Seine Oma sagt zu ihm heute noch: „Gott wollte dich noch nicht bei sich haben.“
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