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Seit vielen Jahren beschäftigt sich Mareike Sölch bereits mit dem Thema Menschen mit Behinderung – als Mutter eines Kindes mit einer nicht sichtbaren Behinderung, aber auch als Journalistin. In ihrer ehemaligen Redaktionstätigkeit bei RAI – Südtirol fällt ihr auf, wie wenig Sichtbarkeit Menschen mit Behinderung haben. Auch jetzt sagt die Autorin: „Ich sehe keine Betroffene, die selbst mal zu Wort kommen, es gibt keine Bilder und keine Perspektive von ihnen.“ Dass das Thema immer nur im Sozialbereich verortet ist, reicht Sölch nicht. Also beschließt sie ein Buch zu schreiben, in dem alle Lebensbereiche vorkommen, wirft Fragen auf, die sich unsere vermeintlich inklusive Gesellschaft kaum bis gar nicht stellt und fragt bei jenen nach, die es am besten wissen: die Betroffenen selbst.
BARFUSS:Gab es Erkenntnisse, die dich während der Recherche überrascht haben?
Mareike Sölch: Ja, auf jeden Fall. Besonders überraschend fand ich die Diskrepanz zwischen den Aussagen der Betroffenen und den politischen Akteur:innen. Niemand der Betroffenen hat gesagt: Das läuft super. Die Politiker:innen hingegen betonten, dass vieles bereits gut läuft. Ein Beispiel ist das Thema Arbeit: Viele Menschen mit Behinderung arbeiten in Werkstätten, was in der Aktivismusszene kritisch gesehen wird. Dort erhalten sie lediglich ein Taschengeld und sind vom regulären Arbeitsmarkt isoliert. Ob das allen bewusst ist? Ein Betroffener mit Down-Syndrom, Julian Peter Messner, der selbst ein Buch geschrieben hat, findet es unfair, dass er für seine Arbeit quasi selbst bezahlt. Und da hat er recht.
Welche persönliche Erfahrungen hast du gemacht und sind diese in das Buch eingeflossen?
In Südtirol gibt es zwar die inklusive Schule, aber ich habe den Eindruck, diese wird im öffentlichen Diskurs immer wieder hervorgehoben – und man ruht sich auf ihr aus. Als Mama habe ich da einiges mitbekommen: Nichts wird einem in diesem System geschenkt. Es reicht nicht, einen Befund vorzulegen, um Unterstützung zu erhalten – man muss oft aktiv mitarbeiten und sämtliche privaten Daten preisgeben, für das Ansuchen für Integrationsstunden zum Beispiel. Das Thema Privatsphäre ist ein Thema in meinem Buch – ich möchte betonen, dass ich meine eigenen Erfahrungen komplett außen vor gelassen und das Buch als Journalistin geschrieben habe, nicht als Mutter. Aber ich habe in den Interviews mehrfach von Sachen gehört, die ich eben auch mitbekommen habe: die Grenzen unserer inklusiven Schule.
Das Kind mit Behinderung hat das gleiche Recht auf die gleichen Stunden Bildungszeit wie ein nicht-behindertes Kind.
Ein weiteres Beispiel ist die Stundenplanreduktion für Kinder mit Behinderung – sie „dürfen“ früher nach Hause gehen, um „sich auszuruhen“. Das bedeutet aber, dass sie auf Bildungszeit verzichten sollen. Damit habe ich den zuständigen Bildungslandesrat konfrontiert. Wo bleibt der gesellschaftliche Aufschrei? Das Kind mit Behinderung hat das gleiche Recht auf die gleichen Stunden Bildungszeit wie ein nicht-behindertes Kind. Solche Regelungen sind keine Inklusion. Es gibt sehr viele Bereiche, die nicht fair sind.
Welche Hindernisse erleben Menschen mit Behinderung in Südtirol?
Eines der größten Probleme ist der Zugang zum regulären Arbeitsmarkt. Viele Arbeitgeber:innen haben Angst, dass der Aufwand zu groß sein könnte. Auch die öffentliche Mobilität ist noch lange nicht barrierefrei. Ein weiteres großes Thema ist das eigenständige Wohnen. Menschen mit Behinderung sollten nicht zwangsläufig in Heimen oder Wohngemeinschaften leben müssen. Die persönliche Assistenz wäre eine wichtige Option, doch in ganz Südtirol gibt es aktuell nur 15 genehmigte Ansuchen – weil das Berufsbild fehlt und die Betroffenen die Kosten vorstrecken müssen. Eine meiner Interviewpartnerinnen hat zwei Jahre auf die Assistenz warten müssen. Oder Max Silbernagl lebt in Innsbruck, weil das mit der persönlichen Assistenz dort viel besser funktioniert. Ich frage mich: Was ist denn die Angst, wenn Menschen mit Behinderung alleine leben?
Oder ein ganz anderes Beispiel: Eine gehörlose Frau muss bei einem Krankenhausbesuch selbst eine Dolmetscherin organisieren und bezahlen – auch solche Dinge sollten in einem Krankenhaus wie Bozen anders laufen.
Wir nicht-behinderten Menschen wissen gar nicht, was für Privilegien wir eigentlich haben.
Was bedeutet „wirkliche Inklusion“ für dich?
Wirkliche Inklusion bedeutet für mich ein richtiges Zusammenleben, nicht nur der Umgang mit Menschen, sondern eine Verschmelzung. Es geht darum, dass Menschen mit Behinderung ein selbstverständlicher Teil unseres Lebens sind. Doch wir sehen und hören sie immer noch viel zu wenig.
Mareike Sölch spricht in ihrer Recherchearbeit mit vielen Menschen mit verschiedenen Behinderungen, unter anderem haben sie eine Seh- oder Hörbeeinträchtigung, Autismus und Trisomie21. Auf diese Weise öffnet sie verschiedene Perspektiven. Alle Geschichten sind sehr persönlich – nach jedem Gespräch merkt die Autorin, wie „krass das alles ist“ – weil sie spürt, wie sehr all diese Menschen am Kämpfen sind. Um sie der Leserschaft noch näher zu bringen, gibt es im Buch auch QR-Codes, die auf Videos verlinken, in denen die Betroffenen sich selbst vorstellen.
Die Abtreibungsrate bei Trisomie 21 ist sehr hoch – neun von zehn Kinder werden abgetrieben. Wir sind gesellschaftlich nicht soweit, Behinderung als normalen Teil des Lebens zu akzeptieren.
Welche Denkweisen über Menschen mit Behinderung fallen dir besonders auf?
Ich zitiere Anna Faccin aus meinem Buch: „Es ist immer noch irrsinnig schlimm, in Südtirol behindert zu sein.“ Nicht-behinderte Menschen glauben, dass es behinderten Menschen „ja gut geht“ und denken: „Was wollen die denn noch?“ Auch Sexualität ist Thema in meinem Buch – ein großes Thema, in dem gerade sehr viel passiert. Es gibt zum Beispiel inzwischen Begleitung für Geschlechtsverkehr von Menschen mit Behinderung.
Auch wenn man die Frage nach Elternschaft in den Raum stellt, kommen häufig Antworten wie: „Wie soll das denn gehen?“ Oder: „Kommt vielleicht auf die Behinderung an.“ Ich versuche greifbar zu machen, was für ein massiver Übergriff das ist, über den Körper eines anderes zu entscheiden. Menschen mit Behinderung haben das Recht, Eltern zu sein, aber es werden noch viele Frauen mit Behinderung sterilisiert. Und es gibt einige EU-Länder, die Zwangssterilisation noch erlauben. Ich finde es wichtig, solche Denkweisen zu reflektieren.
Wir nehmen uns selbst Rechte heraus, die wir Menschen mit Behinderung verwehren. Warum? In Gesprächen im Bekanntenkreis trifft man da viele Triggerpunkte. Es gibt einfach immer noch eine subtile Angst oder Ablehnung gegenüber Behinderung. Ein klares Zeichen dafür, dass Behinderung nach wie vor ein Tabu ist: Die Abtreibungsrate bei Trisomie 21 ist sehr hoch – neun von zehn Kinder werden abgetrieben. Wir sind gesellschaftlich nicht soweit, Behinderung als normalen Teil des Lebens zu akzeptieren.
Wir brauchen eine neue Definition dessen, was eine „wertvolle Arbeitskraft“ ausmacht.
Du hast es vorhin schon gesagt: Eines der größten Probleme ist der Zugang zum regulären Arbeitsmarkt. So auch in öffentlichen Ämtern. Warum?
Die Argumentation lautet oft: „Das Angebot muss zur Nachfrage passen.“ Ich glaube, der Arbeitsmarkt muss sich verändern und muss stärker reglementiert sein, zum Beispiel auch in öffentlichen Ämtern. Warum sollte es keine Pflichtquote im Landtag geben? Man könnte auch mal ungewöhnlichere Wege gehen! In den Gesprächen mit den politisch Verantwortlichen habe ich gemerkt: Jede:r hat sein Bild vom behinderten Menschen im Kopf, obwohl es nicht den einen Behinderten gibt. Wir sehen zu wenig Menschen mit Behinderung im Alltag. Es gibt viele, die akademisiert sind und trotzdem nicht die gleichen Möglichkeiten haben. Wir brauchen eine neue Definition dessen, was eine „wertvolle Arbeitskraft“ ausmacht. Menschen mit Trisomie 21 können mehr leisten, als nur Kaffee zu kochen – aber diese Möglichkeiten erhalten sie oft gar nicht.
Was wünschen sich Menschen mit Behinderung am häufigsten?
Ich möchte kein Sprachrohr der behinderten Community sein, weil ich selbst nicht betroffen bin. Aber was in allen Gesprächen durchgeklungen ist, ist der Wunsch, offen über Behinderung zu sprechen – nicht über die Menschen, sondern mit ihnen. Tatsache ist: Im öffentlichen Diskurs ist das Thema zu wenig präsent und das in einer Gesellschaft, die sich so gerne als inklusiv bezeichnet. Es geht letztlich um ethische und menschliche Standards: Sollte es eigentlich nicht für uns alle ein Thema sein, dass alle Menschen selbstständig leben können?
Wie kann jede:r Einzelne dazu beitragen, Barrieren im Alltag abzubauen?
Durch Selbstreflexion. Bei sich anfangen und sich Fragen stellen, wie etwa: Wie inklusiv bin ich selber? Mach ich mir Gedanken über das Thema? Warum denke ich so? Es ist nicht die Aufgabe von Menschen mit Behinderung, andere aufzuklären. Wir sollten die Augen aufmachen. Schließlich sind Systeme menschengemacht und überall stehen Menschen dahinter. Also haben wir die Möglichkeit, das System zu ändern.
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