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Der US-Kongress verlieh mit dem Indian Citizenship Act 1924 den indianischen Überlebenden der europäischen und der nachfolgenden US-amerikanischen Landnahme die Staatsbürgerschaft. Viele waren es nicht mehr, 125.000 Indigene. Weitere 125.000 waren bereits US-Bürger:innen, Ex-Soldaten und ihre Angehörigen. Zum Vergleich: Die Gesamtbevölkerung in den USA beträgt 123 Millionen Menschen.
Die Staatsbürgerschaft musste nicht beantragt werden und die neuen Bürger:innen konnten weiterhin Angehörige ihrer Stämme bleiben. Der 1944 gegründete konservative Dachverband National Congress of American Indians (NCAI) bewertet die „Verleihung“ der Staatsbürgerschaft zwiespältig: „Es war ein Schritt vorwärts in der Anerkennung der Rechte der amerikanischen Ureinwohner. Es war aber auch eine Agenda der Assimilationspolitik, die Ureinwohner in die amerikanische Gesellschaft zu integrieren, oft auf Kosten ihrer kulturellen Identität und Souveränität.“
Viele indigene Nationen empfanden die Staatsbürgerschaft als positiv, weil sie ihnen endlich Bürgerrechte gewährte. Einige, wie die Onondaga, befürchteten aber, dass damit die Souveränität der Stämme untergraben wird und lehnten es ab, gezwungenermaßen zu US-Bürgern zu werden. Die Staatsbürgerschaft zementiere letztendlich die ultimative Vorherrschaft des Siedlerstaates USA über die indianischen Nationen.
Erfolgreicher Siedlerkolonialismus
Lange konnten sich die ersten Amerikaner:innen gegen die europäische Invasion wehren. Erst vor dem amerikanischen Bürgerkrieg (1861–1865) waren die meisten östlichen Nationen stark dezimiert, unterworfen oder gar ausgerottet worden. Die noch freien Nationen schrumpften zu Minderheiten, wegen der US-Politik, der verbrannten Erde, der Kriege, der ethnischen Säuberungen. Am Ende des 19. Jahrhunderts betrug die indigene Bevölkerung nur etwas mehr als eine Viertelmillion. Der Siedler-Kolonialismus wirkte effizient, wie es Karl Schlögel in seiner „American Matrix“ beeindruckend beschreibt.
Anfangs zeigten sich die Eroberer kooperativ, schlossen Verträge mit den autochthonen Völkern ab. Auf Augenhöhe, zumindest auf dem Papier. Mit dem Indian Removal Act 1830 hingegen erhielt die einsetzende Politik der Vertreibung – mit dem Begriff „Umsiedlung“ umschrieben – ein legales Mäntelchen. Mit dem Vertrag Dancing Rabbit Creek mit den Choctaw, auch eher ein „Aussiedlungsvertrag“, erhielten Choctaws, die nicht aussiedeln wollten, erstmals die US-Staatsbürgerschaft verliehen.
Vier Jahrzehnte später, 1871, setzte sich in Washington die Ansicht durch, dass Indianernationen anachronistisch sind. Das Bureau of Indians Affairs sollte eine Politik der kulturellen Assimilation und Auflösung der Stämme umsetzen. Mit dem Indian Appropriations Act 1871 definierte sich die USA als Nationalstaat der WASP: Es kann keine andere Souveränität auf amerikanischem Boden geben als die US-amerikanische – neue Verträge mit indianischen Nationen wurden verboten. Trotz dieses Acts blieben die bisher unterzeichneten Verträge pro forma in Kraft.
Mit einem wegweisenden Urteil entschied der Oberste Gerichtshof 1884, dass Indianer:innen sich einbürgern lassen mussten. Es reichte nicht das Ausscheiden aus dem Stammesverband, Indianer:innen mussten – wie Ausländer:innen auch – um die Staatsbürgerschaft ansuchen.
Citizenship Act
Mit diesem Akt von 1924 erhielten die Indianer:innen kollektiv die Staatsbürgerschaft aufgedrückt. Dabei ging es den USA aber nicht um eine bürgerrechtliche Großtat. Die Politik zielte darauf ab, Reservate und indigene Regionen aufzulösen. Das „Musterbeispiel“ schlechthin für diesen erneuten Landraub ist das „Indianer-Territorium“ in Oklahoma. 1907 löste die Bundesregierung das Territorium auf, die Heimat der vor 100 Jahren aus den östlichen USA umgesiedelten Stämme. Aus dem Territorium wurde der US-Bundesstaat Oklahoma und die Angehörigen der verschiedenen Stämme allesamt zu US-Bürger:innen erklärt.
In die Ehre der Staatsbürgerschaft kamen auch die 12.000 indianischen Soldaten, die im Ersten Weltkrieg in Europa kämpften. Tausende weitere arbeiteten in der Rüstungsindustrie, viele jobbten für das Rote Kreuz. Fünf Prozent der indianischen Soldaten kamen ums Leben, sie leisteten gefährliche Sondereinsätze. Schon im Ersten Weltkrieg übermittelten Choctaw und Cherokee in ihren Muttersprachen als Funker militärische Nachrichten. Den Kriegsdienst indianischer Soldaten beglichen die USA mit der Übernahme von Teilen der Reservate. Aus indianischem Land wurde Bundesland. Landraub von ganz oben.
Die indianischen Weltkriegs-Veteranen erhielten 1919 im Gegenzug die Staatsbürgerschaft. Fünf Jahre später folgte dann der Indian Citizenship Act, der allen in den USA geborenen und lebenden Indianer:innen die US-Staatsbürgerschaft zuerkannte.
Der lange Weg zur „Gleichberechtigung“
Der Citizenship Act gewährte aber nicht automatisch das Wahlrecht. Viele Bundesstaaten grenzten Angehörige der autochthonen Völker weiterhin aus, auch deshalb, weil viele der Ureinwohner:innen auf Reservaten unter staatlicher Vormundschaft lebten. 1938 verweigerten ihnen noch sieben Staaten das Wahlrecht – Arizona und New Mexico waren die letzten Staaten, die ihre Verweigerung aufgaben. Ein Teil der im Zweiten Weltkrieg kämpfenden 25.000 indianischen Soldaten durften deshalb nicht wählen. Sie kämpften aber weltweit für Demokratie und Rechtsstaat. Diese Diskriminierung endete erst in den 1960er Jahren mit dem Voting Rights Act. Die Beschränkungen des Wahlrechts mussten in allen Bundesstaaten aufgehoben werden.
Trotzdem sind noch viele Wahl-Einschränkungen aufrecht. So verhindert die Einteilung der Wahlkreise den indianischen Stimmen ein politisches Gewicht. Stichwort Gerrymandering, ein selbsterklärendes Beispiel: Ein Reservat in Montana ist in acht Wahlbezirke gegliedert, die wiederum Teil ausschließlich „weiße“ Sektionen sind. Damit gehen die indianischen Stimmen unter. Auf einem Reservat in Nevada müssen Wählende 320 Meilen bis zu ihrem Wahllokal fahren.
Die Beteiligung indianischer Bürger:innen an den verschiedenen Wahlen ist immer noch die niedrigste unter den Minderheiten. Jede/jeder Dritte ist nicht registriert. In vielen Reservaten müssen sie viele Kilometer zurücklegen, um zu wählen. Der norwegische Friedensforscher John Galtung spricht in solchen Fällen von struktureller Gewalt.
Echte Gleichberechtigung?
Ethnische Säuberungen, Vertreibungen, Massenmorde, Völkermord: Die nach den Indianerkriegen folgende diskriminierende Politik der ständigen Enteignungen und Assimilierung setzte die Eroberung fort. Erst mit der Wahl des Demokraten Franklin D. Roosevelt gab es erste Reformversuche, die assimilatorische Politik zu beenden und die indigene Souveränität sowie Selbstverwaltung wiederherzustellen. Mit dem Indian Reorganization Act 1934, genannt Indian New Deal, konnten sich die indigenen Völker autonom verwalten, sie erhielten einen Teil ihres Vermögens zurück und konnten eine eigene Wirtschaftspolitik betreiben.
Die Reform konnte sich aber nicht entfalten – die nach Roosevelt republikanischen Präsidenten kehrten wieder zur alten Politik der Assimilierung zurück. Sie sorgten dafür, dass indianische Familien ihre Reservaten verließen. Die Bundesregierungen förderten zwischen 1952 und 1972 die Abwanderung in die Städte, bezeichnenderweise „Termination“ genannt.
Mehr als hundert Stämme wurden aufgelöst, 10.000 Quadratkilometer Land gingen verloren, die vertragliche Verpflichtung für die Gesundheitsversorgung und Bildung wurde beendet. Die Angehörigen der Ureinwohner-Gemeinden wurden ermutigt, die Reservate zu verlassen. Ein erfolgreiches Programm zur „Auslöschung“ der indianischen Identität, bei dem viele indigene Sprachen und Kulturen verloren gingen. Inzwischen leben mehr Indianer:innen in Städten wie Los Angeles oder Cleveland als in den Reservaten.
Überraschenderweise stoppte in den 1970er Jahren der republikanische Präsident Richard Nixon die „Termination“. Der Indian Self-Determination Act 1975 und der Education Assistance Act veränderten die Indianer-Politik. Sie wurden zur Grundlage der von vielen Aktivist:innen und Stammesräten angestrebten Stammessouveränität.
Den Stämmen wurde es nun ermöglicht, sich eigene Regierungsstrukturen zu geben sowie Gesetze zu erlassen, mit eigener Polizeibehörde und Stammesgerichten. Die Reservatsbehörden erlassen Zivil- und Strafgesetze, Steuern sowie Lizenzen und sind zuständig für Bildung, Gesundheit, Umweltschutz, Management natürlicher Ressourcen sowie für die Entwicklung und Instandhaltung von Infrastrukturen wie Wohnungen, Straßen, Brücken oder Kanalisationen. Die Reservate auf dem Weg zu regionalen Autonomie?
Für den National Congress of American Indians ist echte Gleichberechtigung erst dann gegeben, wenn die strukturellen „Ungleichheiten in Gesundheit, Bildung und wirtschaftlicher Entwicklung“ beseitigt sind. Es gebe noch viel zu tun. Die Bilanz zur hundertjährigen Staatsbürgerschaft für die indianischen Bürger:innen fällt deshalb negativ aus. Mit der Staatsbürgerschaft seien Ungleichheit und Marginalisierung nicht aufgehoben worden. Neue Verträge seien notwendig, um die Souveränität der Stämme zu stärken und die sozioökonomischen Probleme zu lösen.
Ungebremstes Sprachensterben
Die noch 150 gesprochenen indianischen Sprachen sind vom Aussterben bedroht. 350.000 Angehörige verschiedener Stämme beherrschen noch ihre indigenen Sprachen, beispielsweise die 170.000 Navajo, Diné. Trotzdem ist auch diese Sprache gefährdet, eine Folge der Jahrzehntelangen kulturellen Assimilationspolitik. Viele ziehen das Englische ihrer Muttersprache vor und tragen damit zur Marginalisierung und Minorisierung ihrer Sprachen bei. Das bedeutet, dass es eine immer geringere intergenerationelle Übertragung, immer weniger Sprecher:innen und keine jungen einsprachigen Sprecher:innen mehr gibt.
Die Stämme versuchen mit Sprachkursen dagegen zu steuern. So betreiben die Diné, die Navajo-Nation, ihre Immersionsschule Tséhootsooí Diné Bi’ólta’ in Arizona und seit 2011 Kindergärten in New Mexico. Die am zweithäufigsten gesprochene indianische Sprache ist Yupik in Alaska mit fast 20.000 Sprechern.
Für Stammesverwaltungen ist auch die Abwanderung problematisch. Schon 1970 lebten fast 40 % der Stammesangehörigen in den Städten, heute sind es weit mehr als 60 %, Tendenz steigend – wie auch die Armutsquote, die unter Indianer:innen mit 24,1 % doppelt so hoch ist wie der US-Durchschnitt. Auch die Arbeitslosigkeit liegt mit 6,1 % höher als der Bundesdurchschnitt (3,7 %) – in Stammesgebieten steigt die Zahl sogar auf 11,4 Prozent an. Die Lebenserwartung beträgt nur 65 Jahre, was der US-Quote von 1944 entspricht, während die der US-Gesamtbevölkerung auf 76 Jahre angestiegen ist.
Düstere Perspektiven. Einzig die Zahl der Indianer:innen ist angewachsen, moderat, aber immerhin. Ende des 19. Jahrhunderts gab es nur mehr 250.000 Angehörige der verschiedenen autochthonen Völker. Laut der Volkszählung von 2020 bekennen sich inzwischen 3,5 Millionen US-Bürger:innen zu ihrem „Indianersein“. Weitere sechs Millionen gaben an, in Kombination mit anderen ethnischen Gruppen ebenfalls Indianer:innen zu sein.
Die größte indianische Bevölkerungsgruppe sind die Diné (399.567), gefolgt von Cherokee (292.555), Choctaw (255.677), Chippewa/Ojibwe/Anishnibaabe (214.026), Sioux/Lakota (207.684) und Blackfeet/Pikuni (159.394).
Die 574 bundesstaatlich anerkannten Indianer- und Alaska-Nationen besitzen 226.624 km2 Land, das entspricht 2,3 % des US-Territoriums. Am meisten Indianer:innen leben in Alaska (22 % der Bevölkerung), gefolgt von Oklahoma (16 %), New Mexico (12 %), South Dakota (11 %), Montana (9 %), North Dakota (7 %) und Arizona (6,3 %).
In einigen Bundesstaaten können indianische Wählende Wahlen beeinflussen, z. B. in Arizona (300.000 Menschen), Wisconsin (55.000) oder North Carolina (120.000).
Der „Trail of Tears“ scheint noch nicht zu Ende zu sein.
Weiterführende Links:
Native American Rights Fund
American Indian Law Center
Deb Haaland
American Indian Caucus
Honor the Earth
Winona LaDuke
Land Back
Native Votes
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