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Veröffentlicht
am 01.03.2024
LebenStraßenzeitung zebra.

„Hattest du Berührungsängste?“

Veröffentlicht
am 01.03.2024
Beim Onlinemagazin „andererseits“ machen Menschen mit und ohne Behinderung gemeinsam Journalismus. Das Medium behandelt Themen rund um Behinderung und Gesellschaft. Klingt spannend, ist es auch.
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© Stefan Fürtbauer / andererseits
© Stefan Fürtbauer / andererseits

Schon bald reiht sich ein Browserfenster an das nächste: Teil eins einer Serie über Geschwister von Menschen mit Behinderungen. Ein Text zu Hochbegabten. Eine Doku über das Spendenproblem. Ein Artikel zum Drogenkonsum von Menschen mit Behinderung und einer zum Rausch von älteren Menschen. Und mein Lieblingsteil: alles Mögliche zum Thema Sex. „Sex, Drag and Rock’n’Roll“ spricht über ein Drag-Queen-Kollektiv mit Downsyndrom, „Die Freundschaftsmaschine“ über eine andere Art zu lieben und „Sex – von Kopf bis Fuß“ zeigt die Gefühle, die Sex in den unterschiedlichsten Menschen auslösen kann, in Bildern. Ich frage bei der Redaktion um ein Interview an.

Lisa Steiner erklärt sich bereit, mich via Zoom zu treffen. Eine Frau mit Behinderung, wie ich von einer Kollegin erfahre. Auf der Webseite lese ich, dass sie an einer Gefäßkrankheit leidet und Autistin ist. Ich habe kaum Erfahrung mit Menschen mit Behinderung und kann mich nicht erinnern, mich bewusst mit einer Person auf dem Autismus-Spektrum ausgetauscht zu haben. Und sowieso äußert sich der Autismus bei jeder Person anders. Ich schaue mir also die von Lisa empfohlene Doku zum Thema Autismus an, lese mir einige Texte von ihr durch. Studiere die Webseite von „andererseits“ fürs Interview. Darüber hinaus recherchiere ich kaum.

Lisa Steiner

Dass Lisa auch für andere Medien wie den „Falter“, „Ö1“, die „Berliner Zeitung“ oder den „Berliner Kurier“ tätig sein könnte, fällt mir in einem ersten Moment gar nicht ein. In einem zweiten Moment klatsche ich mir dafür auf die Stirn. Als es Zeit fürs Interview ist, bin ich etwas nervös. Keine Ahnung, was ich erwarten soll, worauf ich achten muss. Soll ich ihren Autismus – oder besser, meine Unsicherheit gleich ansprechen? „Lisa Steiner ist dem Meeting Room beigetreten.“ Ich lasse sie eintreten, stelle mich kaum vor, überspringe den Small Talk und schieße nach einem kurzen „Hallo. Ist es okay, wenn wir uns duzen?“, mit der ersten Frage los.

zebra.: Du arbeitest als Journalistin für andererseits. Was braucht es, um für andererseits tätig zu sein und welchen besonderen Blick bringst du mit?
Lisa Steiner: In meinem Fall bin ich seit über 20 Jahren Journalistin. Andererseits ist ein Gefäß für ganz viele verschiedene Menschen, die miteinander Journalismus machen. Menschen wie ich, die Profijournalist:innen mit langjähriger Erfahrung sind, und Menschen, die ganz neu in den Beruf einsteigen wollen und davon wieder welche, die eine Behinderung haben, und andere, die keine Behinderung haben. Welchen besonderen Blick bringe ich mit? Ich bin jetzt 41. Von meiner Autismus-Diagnose habe ich erst mit 40 erfahren; vorher hatte ich wenig Berührungspunkte mit dem Thema Behinderung. Erst durch die Diagnose ist mir klar geworden, wie beschissen die Situation ist. Ich bin durch Zufall auf „andererseits“ gestolpert, habe eine Mail geschrieben, habe gesagt: Ich find‘ das super, was ihr macht – kann ich mitmachen?

Du bist seit 20 Jahren Journalistin. Wie unterscheidet sich die andererseits Redaktion von anderen Redaktionen?
Der größte Unterschied ist die Art der Kommunikation – und dass bestimmte Zugangsbarrieren fehlen. Viele Menschen mit Behinderung haben sonst gar keine Möglichkeit, in den Journalismus einzusteigen. Was noch anders ist: Wir arbeiten oft in Teams und versuchen, die Arbeit so zu gestalten, dass jede:r sich mit den eigenen Stärken einbringen kann und dass es bei Bedarf Anpassungen gibt, um eine Person zu entlasten. Zum Beispiel äußert sich mein Autismus manchmal dadurch, dass mich Sachen, die mein Gehirn sinnlos findet und die man schneller erledigen könnte, ganz viel Energie kosten. Was für manche Menschen ohne meine Behinderung nur eine mühsame Sitzung ist, saugt bei mir extrem viel Energie. Bei „andererseits“ hat mir deshalb eine Kollegin einige dieser Sitzungen abgenommen. Sie ruft mich einfach nachher an und fasst sie für mich zusammen. In anderen Fällen kann eine Person vielleicht ein Interview ganz gut alleine führen, aber braucht Unterstützung, die richtige Person zu finden oder den Termin auszumachen. Vielleicht, weil die Webseite nicht barrierefrei ist oder weil es schwierig ist, rauszufinden, welche Stelle man überhaupt anrufen muss. Es gibt also ganz verschiedene Arten von unterstützt werden.

Screenshot der Startseite des Onlinemagazin „andererseits“

Das heißt jede:r hat eine ganz individuelle Position im Redaktionsteam?
Du darfst dir die Redaktion nicht so vorstellen, dass es da einen Ort gibt, wo ständig Leute rumrennen, die gemeinsam etwas machen. So funktioniert es nicht. Manche Leute sind in Wien, manche sind in Deutschland verstreut. Die Teams organisieren sich dann je nach Projekt in Kleingruppen. Zudem haben wir alle zwei Wochen eine Redaktionssitzung und eine Reflexionssitzung, wo auch eine Coachin dazukommt und wir reflektieren, wie wir arbeiten wollen.

Auf welche Themen legt ihr bei andererseits Wert? Was ist euer Schwerpunkt?
Wir sind das Magazin für Gesellschaft und Behinderung. Und im weitesten Sinne geht es in unseren Themen immer darum. Um Politik. Um Teilhabe. Um Ausgeschlossen-Sein in allen Lebensbereichen – ob das jetzt einen Rausch oder das Wählen betrifft.

Wenn du dir die Medienlandschaft außerhalb von „andererseits“ anschaust, welche Perspektiven fehlen? Und was bedeutet es, wenn andere Perspektiven ausgeschlossen werden?
Es fehlen nicht nur die Perspektiven, die ganz verschiedene Menschen mit ganz verschiedenen Behinderungen mitbringen können. Der Journalismus hat – wie viele andere Bereiche auch – immer noch das Grundproblem, dass die Journalist:innen nur einen geringen Prozentsatz der Gesellschaft abbilden. Rich White Kids, Menschen, die studieren gehen, haben die Möglichkeit, im Journalismus zu arbeiten. Der journalistische Anspruch, ein echtes Bild von etwas zu zeichnen, kann also nicht gegeben sein. Weil egal wie objektiv man auf etwas blicken will: Jede Person bringt ihre ganze Genese mit, indem sie irgendwie auf die Welt blickt.

Ihr versucht einerseits die Redaktion barriereärmer zu machen, gleichzeitig aber auch Inhalte barrierefrei zu vermitteln. Was ist dabei wichtig?
Barrierefreiheit bedeutet nicht nur eine Rampe für einen Rollstuhl irgendwohin zu stellen, sondern auch Vermittlung in leichter Sprache, Schriftgröße, Kontrast, Vorlesbarkeit eines Artikels … es gibt so viele Dinge zu bedenken, wenn man Inhalte an möglichst viele Menschen vermitteln möchte. Wenn wir in einer Demokratie leben wollen, die alle Menschen mitdenkt, braucht es solche Angebote. Sonst sind Menschen auch von der Meinungsbildung und der politischen Teilhabe ausgeschlossen, wenn sie sich die Informationen, um sich eine Meinung zu bilden, nicht besorgen können.

Lisa Steiner mit Redaktionsmitgliedern

Welche Rückmeldungen erhaltet ihr von den Leser:innen?
Wir sind sehr aktiv in Kontakt mit den Leser:innen. Die Rückmeldungen sind sehr oft, dass Menschen mit einer Behinderung oder Angehörige sehr viel dazulernen, neue Blickwinkel erfahren und auch erwarten, dass wir neue Blickwinkel eröffnen. Vielen Menschen, die noch nicht so häufig mit diesem Thema in Kontakt gekommen sind, ist hingegen gar nicht bewusst, wie sehr wir im deutschsprachigen Raum noch hinterherhinken. Barrierearmut ist kein Sonderwunsch, kein Goodie und auch kein Geschenk an Bedürftige. Hier wird geltendes EU-Recht nicht erfüllt.

Kannst du nur von dieser Arbeit leben?
(lacht) Ich schreibe vielleicht alle paar Monate einen Newsletter. Für den bekomme ich 75 Euro. Kann ich von der Arbeit bei „andererseits“ leben? Nein, von der Arbeit bei „andererseits“ kann niemand ausschließlich leben. Ganz viele Menschen haben einen Day-Job. Andere Menschen mit Behinderungen arbeiten in einer Werkstätte. Es gibt nur eine Journalistin, die angestellt ist, und die zwei Geschäftsführer:innen, die auch hauptamtlich bei andererseits arbeiten, niemand von ihnen Vollzeit. Lose arbeiten circa 20 bis 25 Leute mit, die fair, aber auf Honorarbasis bezahlt werden. Es gibt im Moment noch keine Anstellung für einen Menschen mit Behinderung.

Wie bist du selbst zum Journalismus gekommen?
Ich war ziemlich gut in der Schule, habe mich für alles interessiert, aber für nichts ganz langfristig. Ich hatte immer gewisse Probleme damit, dass ich komische Fragen an alle möglichen Leute gestellt habe. So bin ich mit Anfang 20 irgendwie in den Journalismus reingestolpert. Dort ist mir dann aufgefallen, dass all das, was vermutlich auch mit meinem Autismus zusammenhängt – von dem ich damals ja noch nichts wusste – im Journalismus eine Qualität und keine Macke ist. Wenn ich in meiner Rolle als Journalistin bin, mache ich Sachen, die ich ohnehin immer machen würde und mit denen ich Leuten sonst unglaublich auf den Senkel gehe. Vielleicht gehe ich ihnen nach wie vor auf den Senkel, aber die kritischen Fragen und das Nachbohren sind im Rahmen eines Politikinterviews gut und angemessen.

Auf der Webseite von andererseits schreibst du: „Meine Behinderungen sind für viele unsichtbar und somit auch meine Bedürfnisse. Deswegen fühle ich mich oft übersehen, alleine und manchmal auch hilflos.“ Was müsste sich denn ändern, damit sich das ändert? Da müsste sich der Umgang von Menschen miteinander generell ändern und nicht nur mit Behinderten. Wir müssten bei der gewaltfreien Kommunikation beginnen. Dabei geht es nicht darum, den anderen zu streicheln, sondern in erster Linie darum, zu reflektieren, warum ich mich wem gegenüber wie verhalte und was meine versteckten Bedürfnisse sind. Bedürfnisse, die ich vielleicht selbst nicht erkannt habe und wegen derer ich jetzt vielleicht gerade ranzig bin. Es müsste also urviel passieren. Weil wie du siehst, gibt es ganz viele Menschen mit ganz vielen unerfüllten Bedürfnissen und an allen Ecken und Enden eskaliert die Gewalt, im Kleinen wie im Großen.

Meine Fragen sind durch. Noch immer etwas angespannt, gebe ich jetzt Lisa die Möglichkeit, noch eine Frage zu stellen.

Lisa Steiner: Du hast mir am Anfang eigentlich gar nicht erklärt, wer ihr seid, was ihr macht … Somit war‘s für mich alles ein bisschen ins Blaue hinein. Ich weiß eigentlich überhaupt nicht, wem ich wofür in welcher Form für wann und wie ein Interview gegeben habe.

Ich entschuldige mich für die schlechte Kommunikation. Erkläre, dass ich anfangs nicht wusste, wie ich in das Interview reingehen soll und was ich erwarten kann und diese Unsicherheit wohl durch einen sehr direkten Einstieg überspielt habe.

Lisa Steiner: „Hattest du Berührungsängste?“

Ich nicke, erkläre, dass ich noch nie direkt und bewusst Kontakt mit einer Person auf dem Autismus-Spektrum hatte.

Lisa Steiner: Ich finde es total wichtig, darüber zu reden. Das meine ich mit der gewaltfreien Kommunikation. Wenn ihr Fragen, Berührungsängste oder sonst was habt, versucht es nicht paternalistisch mit euch im Kopf auszumachen, sondern sprecht es an: „He, ich weiß gerade nicht, wie ich in das Interview einsteigen soll, weil ich habe noch nie Kontakt mit einer Autistin gehabt.“ Das ändert etwas. Weil dann kann ich Stopp sagen. Oder wenn da ein Kollege im Rollstuhl sitzt, und du bist dir nicht sicher, was er möchte – frag ihn einfach: „Ist es für dich okay, wenn wir deinen Rollstuhl thematisieren, oder ist das blöd?“ Und geh von dir aus und sag, dass du damit noch keine Erfahrung hast. Dann ist das auch nicht übergriffig und ich glaube, das würden sich ganz viele Menschen mit Behinderung im Umgang wünschen. Das ist auch ein Ziel von andererseits. Deshalb gibt es uns.

Interview: Valentina Gianera

Dieser Text erschien erstmals in der März-Ausgabe der Straßenzeitung zebra. (01.03.2024 – 01.04.2024 | 93).

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