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In den späten 60er-Jahren galt Las Vegas noch mehr als heute als planloses, neongrelles Babylon: Eine Stadt, die allein nach den Maßstäben des ungehemmten Konsums entstanden war. Als die Architekten Robert Venturi, Denise Scott Brown und Steven Izenour in ihrem Buch „Learning from Las Vegas“ ausgerechnet dieses Schreckbild ästhetischer Feingeister als Schönheit der eigenen Art und sogar als Vorbild für zeitgenössische Städteplanung präsentierten, schlug das im Jahr 1972 hohe Wellen.
Heute gilt „Learning from Las Vegas“ als Klassiker der Architekturtheorie – und ist namensprägend für das Buch „Learning from Quarantine“, das der Architekt und Urbanist David Calas und seine Mitstreiter aus dem Studio Calas herausgebracht haben.
In eurem Buch „Learning from Quarantine“ habt ihr euch 40 Meldungen aus der Zeit des Lockdowns herausgegriffen und …
…diese dann als Anlass genommen, bestimmte Entwicklungen und deren Bedeutung für Architektur und Städteplanung zu reflektieren. Die letzten Monate waren eine Zeit, in der sich Eilmeldungen, Nachrichten und auch Fake News nur so überschlugen. Wir wollten über die einzelne Meldung hinausgehen und haben uns gefragt, welche Lebensrealitäten sich dahinter verbergen und welche Schlussfolgerungen sich daraus für Architektur, Städteplanung, Gesellschaft und das digitale Handeln ableiten lassen.
„Learning from Quarantine“ also auch in einem normativen Sinn?
Nicht im Sinne des erhobenen Zeigefingers. Wir bewegen uns auf einer narrativen Ebene und stellen einfach fest: Ja, es gibt Missstände und viele waren auch vor Corona schon da. Die Gesundheitskrise rückte plötzlich vieles, was schon vorher nicht funktioniert hat, noch einmal in den Vordergrund. Nehmen wir etwa die Straßenquerschnitte: Wegen der Social-Distancing-Maßnahmen hat man gemerkt, dass die Fußgängerwege zu schmal sind …
Der New Yorker Bürgermeister hat deshalb einige Straßen schließen lassen, damit die Fußgänger genügend Platz haben, um die Abstände einzuhalten.
Auch in Wien wurden vorübergehend Straßen geschlossen und für die Fußgänger freigegeben. Eine Frau mit Kinderwagen hatte aber schon vor dem Lockdown Probleme, sich durch schmale Fußgängerwege zu zwängen. Musste wirklich erst eine Pandemie kommen, damit man einsieht, dass die Fußgänger mehr Platz brauchen? Wir nennen das die Synchronisierung des Eindeutigen: Da ist ein Problem, das vorher schon präsent war und durch die Krise so verstärkt wird, dass politischer Handlungsbedarf entsteht.
Sind die Städte noch immer zu stark auf Autos zugeschnitten?
Absolut.
Warum haben Städteplaner das nicht längst geändert?
Weil das immer mit einem kulturellen Prozess zusammenhängt. Deswegen ist das mit dem Normativen eine schwierige Sache: Man kann nicht von heute auf morgen das Auto aus der Stadt verbannen, das würde neue Probleme nach sich ziehen. Ein kultureller Prozess braucht Zeit.
So wie auch das Händeschütteln nicht von heute auf morgen vergeht?
Das ist ein Beispiel für kulturelle Praktiken, die temporär angepasst und in dem Fall ausgesetzt werden. Wenn die Maßnahmen nur lange genug anhalten, dann ist es aber durchaus denkbar, dass auch das Händeschütteln aus der Mode kommt. Oder eben das Auto. Städte wie Paris machen es vor. Die Bürgermeisterin Anne Hidalgo will im Falle ihrer Wiederwahl die Stadt radikal umbauen und den Platz, der jetzt noch von Autos besetzt ist, für Fußgänger und Radfahrer reservieren.
Zurück zur Architektur: Werden auch Balkone langfristig an Bedeutung gewinnen? Wer in der Quarantäne einen hatte, war jedenfalls klar im Vorteil.
Der Balkon liegt an der Schnittstelle zwischen Privatem und Öffentlichem, aber dennoch im privaten Haushalt. In der Zeit des Lockdowns wurde er als analoges Fenster zur Welt genutzt, man denke an die Bilder von musizierenden Menschen auf ihren Balkonen, die um die Welt gingen. Vor allem in einer Stadt wie Wien, wo ca. 80% der Wohnungen keinen Balkon haben, herrscht Nachholbedarf. Es kann also gut sein, dass der Balkon auch im Entwerfen neuer Gebäude ein unverzichtbares Element wird.
Das Ineinander-Übergehen von Privatem und Öffentlichem wird nicht nur durch die wiederentdeckten Balkone vorangetrieben. Welche Rolle spielen Homeoffice und Homeschooling?
Die Digitalisierung verändert das Verhältnis zwischen Privatem und Öffentlichem schon seit Jahren. Als ich meine Dissertation über die urbane Mitgestaltung im digitalen Zeitalter geschrieben habe, wurde ich für den Gedanken, dass das Private und das Öffentliche durch die Digitalisierung verschmelzen, noch belächelt. Dieser Prozess wird jetzt wegen Corona noch beschleunigt.
Welche Folgen hat das für die Räume, in denen wir leben? Müssen Häuser anders konzipiert werden?
Die Grundrisse, auf denen wir wohnen, sind sehr rigide. Wir denken noch immer, dass eine Wohnung, die zum Beispiel Küche, Wohnzimmer, zwei Schlafzimmer und ein Bad hat, für immer in dieser Anordnung bestehen bleiben muss. Das entspricht jedoch nicht einer non-linearen gesellschaftlichen Entwicklung. Der Lockdown hat gezeigt, wie wichtig es sein kann, einen Teil der Wohnung als Arbeitszimmer zu adaptieren. Ähnlich ist es, wenn sich eine Familie trennt, Kinder ausziehen, oder jemand neues hinzuzieht. Was passiert dann mit der vordefinierten Raumaufteilung? Wie kann der Raum den neuen Umständen angepasst werden? Das sind Fragen, die nicht nur die Privatwohnungen, sondern auch den öffentlichen Raum betreffen.
Wie können die Grundrisse konkret flexibler werden?
Man kann sich in einem Grundriss fixe Installationspunkte auswählen, zum Beispiel die Küche sowie Nassräume, und alles andere so flexibel zuschaltbar wie möglich gestalten. Das müssen dann keine Wände sein, die sich auf Knopfdruck bewegen, aber es geht in diese Richtung.
Welches „Learning“ ist für dich persönlich am wichtigsten?
Unheimlich spannend finde ich die Ausverhandlung des digitalen Raums. Die Daten, die heute von unseren Handys und Suchmaschinen gespeichert werden, können ungeheure Informationen darüber preisgeben, wie wir uns bewegen und wie wir die Stadt nutzen. Im Moment sind diese Daten aber noch eine Blackbox in den Händen von Konzernen wie Google und Amazon. Wenn wir uns diese Daten aneignen, können wir sie nutzen, um unseren Lebensraum besser zu gestalten.
Amazon betreibt Stadtgestaltung, ohne jemals einen Stadtplan gezeichnet zu haben.
Daten also als urbanistischer Machtfaktor?
Total. Wenn wir es hier nicht schaffen, eine Demokratisierung herbeizuführen, dann wird es einen digitalen Raum à la China geben. Die Gestaltung unserer Lebensräume wird dann zur Angelegenheit der großen Konzerne.
Die Autoren von „Learning from las Vegas“ begriffen die Stadt als „Erlebnisort“. Heute ist aber alles auf Komfort ausgelegt: dank Zalando, Amazon und Mjam müssen wir unser Haus gar nicht mehr verlassen. Wie verändert das unsere Städte?
Vor allem Amazon verändert unsere Städte auf radikale Weise. Die kleinen Läden verschwinden, weil sich der Handel ins Internet verlegt. Wenn die Läden fehlen, wird das Erlebnis der Straße ein fundamental anderes. Wer hätte das vor ein paar Jahren, beim ersten Online-Einkauf, ahnen können? Amazon betreibt letztendlich Stadtgestaltung, ohne jemals einen Stadtplan gezeichnet zu haben.
Aus urbanistischer Sicht ist das doch höchst spannend: Was tritt an die Stelle der kleinen Läden?
Ideen gibt es genug. Viele sind sogar brillant. Die Frage ist, ob sie finanzierbar sind. Die meisten Erlebnisse in einer Stadt sind mit Konsum verbunden. Selbst kulturelle Veranstaltungen sind größtenteils zahlungspflichtig. Wenn sich aber der Konsum weitgehend ins Internet verlagert, dann verliert die Straße als Erlebnisort an Bedeutung. Deswegen sind unsere Konsumentscheidungen so wichtig: Ich kann mein Büromaterial online bestellen oder ich nehme mir die Zeit und gehe in den Laden um die Ecke und zahle dort etwas mehr dafür. Weil ich will, dass meine Straße belebt – und daher auch sicher – bleibt.
Wenn man sich im Internet über das Studio Calas informieren will, ist es schwierig, euch auf irgendetwas festzulegen. Seht ihr euch eher als Städteplaner, Architekten, Künstler … ?
Wir wollen bewusst die Schnittstellen ausloten, ohne uns festzulegen. Unser Ansatz geht zwar immer vom Architektonischen aus, endet dann aber in der Raum- und Städteplanung, im Künstlerischen, im Politischen. Während der letzten Monate wurden städtebauliche Gegebenheiten plötzlich Teil von gesundheitspolitischen Überlegungen. Es ist alles miteinander verbunden und Corona hat dies in aller Deutlichkeit gezeigt. Aus diesem Grund versuchen wir, möglichst viel zu kontextualisieren.
Weitere Informationen zum Buch gibt es auf der Webseite des Studio Calas.
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