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Veröffentlicht
am 02.09.2024
LebenStraßenzeitung zebra.

Gemeinschaft als politischer Akt

Veröffentlicht
am 02.09.2024
Die kurdische Volksgruppe im Nahen Osten verfügt über kein eigenes Staatsgebiet. Trotzdem oder gerade deshalb ist ihr Alltag von einem starken Gemeinschaftssinn geprägt. Die Straßenzeitung zebra. hat sich mit einer kurdischen Aktivistin unterhalten, die überzeugt ist: Kollektivismus ist für die meisten Kurd:innen eine Notwendigkeit - und ein politischer Akt.
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Kurd:innen beim traditionellen Neujahrsfest Newroz.

„In Kurdistan kochen wir immer so, als würden wir vier Gäste mehr erwarten – und meistens stehen die dann auch vor der Tür.“ Silas* Augen leuchten, wenn sie von ihrer Studienzeit in Sulaimaniyya erzählt. Gemeinsame Mahlzeiten waren dort an der Tagesordnung, in den Niederlanden macht sie nun meistens allein Mittagspause. Dass die eine Hälfte ihres Freundeskreises in Sulaimaniyya Kurd:innen und die andere Hälfte Araber:innen waren, spielte dabei keine Rolle. Im Gegenteil: Man tauschte Rezepte aus, mal spielte jemand traditionelle kurdische Musik, mal tanzten alle zu arabischem Pop – die Türen standen jedenfalls immer offen. Sila meint: Wer es im Leben schwer hatte, hält zusammen. Und in Sulaimaniyya, einer der größten Städte in Südkurdistan, also im Nordosten des Irak, hatten es die meisten schwer.

Auch heute hat sich Sila um unser Essen gekümmert und alle meine Versuche, zu bezahlen, abgewehrt. Wer sich mit ihr über die Lage der Kurd:innen unterhalten möchte, sei auch ihr Gast. Die energische junge Frau, mit der ich in einem Amsterdamer Hipster-Café einen Teller Hummus teile, bezeichnet sich selbst als kurdische Aktivistin und beschäftigt sich sowohl privat als auch akademisch mit den politischen, soziologischen und kulturellen Besonderheiten Kurdistans. Sie schreibt unter anderem wissenschaftliche Artikel über die historische Rolle der kurdischen Minderheit im Nahen Osten und organisiert Vernetzungstreffen für Kurd:innen in Europa. Wie die meisten Angehörigen ihrer Volksgruppe spricht Sila ganz selbstverständlich von Kurdistan, doch auf der Landkarte sucht man das Land vergeblich.

Kurdistan auf der Landkarte

Kurdistan liegt im Nahen Osten, im historischen Gebiet des Fruchtbaren Halbmonds oder Mesopotamiens. Die autochthone kurdische Volksgruppe, – die mit 35 Millionen Angehörigen nach manchen Quellen die größte staatenlose ethnische Minderheit der Welt darstellt –, ist vorwiegend in diesem Gebiet zu Hause, verteilt auf Syrien, Irak, Iran und die Türkei. Sowohl in der Türkei als auch im Irak machen Kurd:innen etwa 15 bis 20 Prozent der Gesamtbevölkerung aus, im Iran und in Syrien sind es etwa fünf bis zehn Prozent.

In der Türkei hingegen wird die kurdische Minderheit laut Menschenrechtsorganisationen seit Jahrzehnten systematisch ihrer Identität beraubt.

Die Geschichte, der rechtliche Status und damit auch der Alltag der kurdischen Bevölkerung sind in den vier Staaten sehr unterschiedlich: Während die kurdische Volksgruppe im Iran und im Irak als ethnische Minderheit anerkannt ist und im Irak sogar über eine autonome Region verfügt, ist die Situation in den beiden anderen Ländern komplizierter. In Syrien, das sich nach dem Bürgerkrieg und dem Terror des Islamischen Staates (IS) in den letzten zehn Jahren immer noch in einer politisch und humanitär schwierigen Lage befindet, haben sich inzwischen vor allem im Norden des Landes selbstverwaltete kurdische Gebiete gebildet. In der Türkei hingegen wird die kurdische Minderheit laut Menschenrechtsorganisationen seit Jahrzehnten systematisch ihrer Identität beraubt. So war es ihnen beispielsweise lange Zeit nicht erlaubt, in der Öffentlichkeit Kurdisch zu sprechen oder traditionelle Kleidung zu tragen.

Kollektivismus als Staatsform

„Kurd:innen unterscheiden sich nicht nur in ihrer Kultur, sondern auch in Sprache und Religion von ihren benachbarten Volksgruppen im Nahen Osten”, erklärt Sila. „Deswegen sind wir seit Jahrhunderten Opfer von Unterdrückung, Verfolgung und Verrat. Aber wir lassen uns nicht unterkriegen!“ Die Geschichte der kurdischen Nation sei immer von Widerstand und Zusammenhalt geprägt gewesen. Dieser starke Gemeinschaftssinn sei gewissermaßen sowohl Ursache als auch Folge der Unterdrückung und Staatenlosigkeit.

Essen zu teilen, so wie Sila und ihre Freund:innen in Sulaimaniyya, ist im Nahen Osten nichts Außergewöhnliches, sondern vielfach eine kulturelle Gepflogenheit. Das Besondere an Kurdistan ist laut Sila jedoch, dass dieser Gemeinschaftssinn über das rein Kulturelle hinausgeht. Gleichberechtigung und Kollektivismus – ein System, in dem die Interessen der Gemeinschaft über jenen des Individuums stehen – sind die Grundlagen der politischen Philosophie von Abdullah Öcalan, der als philosophischer Vordenker der kurdischen Befreiungsbewegung gilt und gegenwärtig in lebenslanger Haft in einem türkischen Gefängnis sitzt. Ihm zufolge ist kollektivistisches Denken und Handeln die Grundlage für eine funktionierende gesellschaftliche Struktur.

In den Schulen wird der Unterricht an die jeweiligen Sprachen und Religionen der Schüler:innen angepasst und die Gleichberechtigung der Geschlechter zieht sich durch die politischen Strukturen.

Und das ist, wie mir Sila erzählt, nicht nur politische Theorie, sondern in einigen kurdischen Gebieten gelebte Realität: zum Beispiel in Rojava, einer autonomen Region in Westkurdistan, beziehungsweise im Nordosten Syriens. Das Gebiet, das so groß ist wie ganz Belgien, zeichnet sich durch Demokratie und Gleichberechtigung in Bezug auf Ethnie, Sprache, Religion und Geschlecht aus. In den Schulen wird der Unterricht an die jeweiligen Sprachen und Religionen der Schüler:innen angepasst und die Gleichberechtigung der Geschlechter zieht sich durch die politischen Strukturen: vom Militär bis hin zur Regional- und Lokalpolitik. So hat zum Beispiel jedes Dorf laut Gesetz nicht nur eine Person an der Spitze, sondern immer zwei – einen Mann und eine Frau.

Die politische Organisationsstruktur in Rojava ist basisdemokratisch: Volksräte, in denen gewählte Vertreter:innen nach dem Konsensprinzip Entscheidungen treffen, reichen von der Nachbarschaftsebene bis hin zur regionalen Ebene und sind damit das wichtigste politische Gremium. In regelmäßig stattfindenden Volksversammlungen können Bürger:innen zusätzlich Vorschläge einbringen und über lokale Angelegenheiten sprechen. Die dezentrale Organisationsstruktur bedeutet zudem auch mehr Kontrolle für die Bürger:innen selbst. Verstößt jemand gegen das Gesetz, kümmern sich eigens einberufene Bürger:innengremien darum und versuchen, im Gespräch mit den Betroffenen eine Lösung zu finden.

Flexibilität als Schlüssel zum Erfolg 

Kleinere, lokal organisierte Strukturen mit Gesetzen, die flexibel auf die Bedürfnisse der Mitglieder angepasst werden, so wie in Rojava, sind eine interessante Alternative zu zentralistischen Regierungsformen. Flexibilität ist in dieser Organisationsform nicht nur umsetzbar, sondern notwendig. So können dort, wo verschiedene Volksgruppen zusammenleben, Entscheidungen auf die unterschiedlichen und mitunter auch wechselnden Bedürfnisse angepasst werden, um ein friedliches Zusammenleben zu gewährleisten.

Als der IS in den 2010er Jahren drohte, die Macht in Syrien zu übernehmen, waren es vor allem kurdische Truppen, die die radikalen Islamist:innen zurückdrängten.

Ein Beispiel dafür findet sich in der jüngeren Geschichte Kurdistans: Als der IS in den 2010er Jahren drohte, die Macht in Syrien zu übernehmen, waren es vor allem kurdische Truppen, die die radikalen Islamist:innen zurückdrängten. Als diese schließlich 2016 den Norden Syriens von den IS-Milizen befreiten, führten sie auch dort ein System der Selbstverwaltung ein und ließen den dort lebenden Menschen – vorwiegend Araber:innen – die Wahl, welche politische Organisation sie auf lokaler Ebene umsetzen möchten. Auch das ist Teil von Öcalans politischer Philosophie: Entscheidungen müssen von unten kommen, von den Bürger:innen selbst. Denn nur so kann man sicher sein, dass sie auch dafür einstehen und sie umsetzen werden.

Sila ist überzeugt, dass Bewegungen der dezentralen, kollektivistischen Demokratie wie in Rojava nicht auf den Nahen Osten beschränkt sind, sondern auch für Europa interessant sein können. Sich im Privaten und im Politischen aktiv darum zu bemühen, Gemeinschaft zu schaffen und zu leben, ist für sie ein Akt der Rebellion – gegen die Unterdrückung von Minderheiten und gegen neoliberale Praktiken in einer zunehmend individualisierten Welt. „Und wer sagt, dass sich solche Ansätze nicht umsetzen lassen“, meint Sila lachend, „soll einen Blick nach Rojava werfen“.

*Name von der Redaktion geändert. Es ist nach wie vor gefährlich für kurdische Aktivist:innen mit ihren Klarnamen in der Öffentlichkeit aufzutreten.

Text: Anna Palmann

Dieser Text erschien erstmals in der Straßenzeitung zebra. (02.09.2024 – 01.10.2024 | 99)

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