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Veröffentlicht
am 03.06.2024
LebenStraßenzeitung zebra.

Gegen das Vergessen

Veröffentlicht
am 03.06.2024
Im Februar 2024 reist Sofie Terzer mit hunderten Jugendlichen aus Südtirol, Tirol und dem Trentino nach Auschwitz. Für zebra. hat Sofie ihre Gedanken und Gefühle aufgeschrieben, die diese Reise in ihr ausgelöst hat.
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Eine Erinnerung: Es ist eng. Überall Menschen – und doch ist jeder für sich allein. Man spricht nur das Nötigste. Vorbei an Orten, an denen Tausende, Millionen Menschen gelebt und gelitten haben, erschossen und vergast wurden. Es fühlt sich unwirklich an, als könnte es nicht sein. Wir betreten einen Raum. In einer riesigen Vitrine liegen Haare. Menschliche Haare. So viele Haare. So viele. Wir gehen an Schuhen vorbei. Rote Schuhe, Stöckelschuhe, Sandalen, Arbeiterschuhe, große und kleine. Alle einmal getragen. Irgendwann kann ich nicht mehr hinsehen und wende den Blick ab.

Diese Bilder kriechen aus meinen Erinnerungen an meine Reise nach Krakau, Polen. Im Rahmen des Projekts „Promemoria Auschwitz“ bin ich Ende Februar gemeinsam mit 164 Jugendlichen aus Südtirol und weiteren Reisegruppen aus Tirol und dem Trentino nach Krakau und Auschwitz gefahren. Im Mittelpunkt der Projektreise, die jährlich von der Organisation „Deina“, den Jugenddiensten und „Arciragazzi“ organisiert wird, stand der Besuch der Gedenkstätten KZ Auschwitz und Auschwitz-Birkenau. Ich wollte diese Reise unternehmen, um mir die Gräueltaten der NS-Zeit noch einmal intensiver vor Augen zu führen. In einer Zeit, in der Rechtspopulismus immer mehr Zulauf erhält, finde ich es wichtig, zu erinnern.

Die Reise

Es ist schon dunkel. Ich sitze im Bus nach Krakau und versuche, es mir bequem zu machen. Wir haben eine lange Fahrt vor uns. Die Luft ist stickig. Einige spielen Karten, lesen oder hören Musik, viele unterhalten sich. Im Vorfeld der Reise wurden wir von einigen Begleitpersonen vorbereitet. Während der Vortreffen haben wir uns intensiv mit den Hintergründen des Nationalsozialismus beschäftigt, über historische Fakten und aktuelle Entwicklungen gesprochen. Aber auch das gegenseitige Kennenlernen in der Gruppe war wichtig. Schließlich würden wir gemeinsam prägende Erfahrungen machen. Krakau empfängt uns kalt und regnerisch. So früh am Morgen ist noch alles geschlossen. Wir finden eine Wechselstube, in der wir unsere Euros in Zlotys tauschen und setzen uns mit dem Geld in eines der wenigen geöffneten Cafés. Wir reden über die lange Fahrt und fragen uns, was wir in den nächsten Tagen erleben werden. Wie werden wir reagieren, wenn wir in Auschwitz ankommen? Was werden wir fühlen?

An den ersten beiden Tagen stehen eine Schnitzeljagd und ein Stadtrundgang auf dem Programm, um Krakau kennen zu lernen. Knapp 20 Minuten vom Stadtzentrum entfernt liegt das jüdische Viertel. Rund 70.000 Jüdinnen und Juden lebten vor dem Krieg in der Stadt, sie machten etwa ein Viertel der Bevölkerung aus. Heute ist es nur noch ein winziger Bruchteil: „Etwa 3.000 Menschen“, wie unser Guide erklärt. Dafür präsentiert sich das jüdische Viertel 85 Jahre später hip und alternativ. Es begeistert mit kleinen Cafés, Graffiti und Second-Hand-Läden.

Auf der anderen Seite der Weichsel, die durch Krakau fließt, befand sich zwischen 1941 und 1943 das jüdische Ghetto. 17.000 Menschen lebten dort auf engstem Raum. Die Lebensmittel waren rationiert, die Menschen mussten mit wenigen hundert Kilokalorien pro Tag auskommen. Nur manchmal gelang es, zusätzliche Lebensmittel ins Ghetto zu schmuggeln. Zu sehen ist nur mehr ein Teil der Außenmauern, deren Silhouette an jüdische Gräber erinnert.

Für einen Moment bricht die Sonne durch die Wolkendecke. Ich genieße mein Sandwich auf dem Marktplatz des jüdischen Viertels. Die Auseinandersetzung mit der Geschichte steht in starkem Kontrast zu der angenehmen Atmosphäre in der Gruppe, den lustigen Momenten und den neuen Freundschaften, die ich schließe. Aber die sozialen Kontakte, die Gespräche und die Ausgelassenheit helfen, die Eindrücke zu verarbeiten.

Auschwitz

Es ist der dritte Morgen in Krakau und um fünf Uhr morgens klingelt der Wecker. Eine Stunde später stehen wir auf dem Parkplatz und steigen in die Busse. Während ich einen Apfel und ein pappsüßes Croissant verschlinge, zieht die Landschaft draußen nur langsam an mir vorbei.

Auschwitz ist grau. Am Eingang werden wir wie am Flughafen kontrolliert. Wir haben nur unsere Tickets in der Hand, sonst nichts. Über Kopfhörer hören wir die Stimme unseres Guides, der uns den ganzen Tag begleiten wird: „Das Konzentrationslager Auschwitz besteht aus dem Konzentrationslager Auschwitz 1 und dem Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau 2. In Auschwitz 1 sind noch alle 28 Baracken erhalten und teilweise in ein Museum umgewandelt worden.“

Viele Besucher:innen sind auf dem Weg durch die Blöcke. Es ist eng. Überall Menschen – und doch ist jeder für sich allein. Man spricht nur das Nötigste. Vorbei an Orten, an denen Tausende, Millionen Menschen gelebt und gelitten haben, erschossen und vergast wurden. Es fühlt sich unwirklich an, als könnte es nicht sein. Wir betreten einen Raum. In einer riesigen Vitrine liegen Haare. Menschliche Haare. So viele Haare. So viele. Wir gehen an Schuhen vorbei. Rote Schuhe, Stöckelschuhe, Sandalen, Arbeiterschuhe, große und kleine. Alle einmal getragen. So viele verlorene Geschichten. Wir gehen in ein Krematorium. Davor ist eine Gaskammer. Es ist eng, stickig. Wir stehen dort, wo Menschen von anderen Menschen vergast und ihre Leichen verbrannt wurden. Wo Menschen andere Menschen grausam getötet haben. Aber wir können raus. Ins Freie. Ich bin erleichtert.

Nach drei Stunden im Konzentrationslager Auschwitz 1 machen wir Mittagspause auf dem Parkplatz. Das Essen und der warme Tee sind bitter nötig und geben Kraft. Mit dem Bus fahren wir zum Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau 2, wo wir mit unserem Guide mehrere Stunden im Freien verbringen. Im Vernichtungslager sind fast keine Gebäude renoviert worden. Es stehen nur noch einige Baracken. Von den Gaskammern sieht man nur noch Reste. Es ist so riesig. Man sieht kein Ende. Hinter den Bäumen hört es nicht auf. Es sind dieselben Bäume wie damals. Sie haben alles gesehen.

Birkenau – der schöne Name trügt. Unter den Birken wurde den Menschen Sicherheit vorgegaukelt, bevor sie ins Gas geschickt wurden. Viele, so erzählt uns der Guide, hatten Gepäck und Proviant dabei oder saßen sogar zum Picknick unter den hohen Bäumen. Das Moor, die Au, gibt es nicht mehr. Alles wurde zugeschüttet. Mit Menschenasche. So viel Asche.

Unser Guide berichtet, dass es auch hier Menschen gibt, die die Geschichte leugnen. Baracken werden zerstört und mit antisemitischen Parolen beschmiert. Gerade jetzt ist es wichtig, sich an die Geschichte zu erinnern. Wir dürfen nicht vergessen. Es fühlt sich unwirklich an, diese Wege zu gehen und vor diesen Gleisen zu stehen. Die Kälte, die wir spüren, kommt nicht von außen. Und auch der Dauerregen fühlt sich anders an. Das alles erdrückt mich. Und dann gehen wir einfach raus.

Einfach raus

Am nächsten Tag erzählen wir in der Gruppe von unseren Erfahrungen und versuchen, das Erlebte zu verarbeiten. Hanna sagt, sie sei froh gewesen, dass ihre Füße sie den ganzen Tag getragen hätten. Sie haben sie getragen, obwohl der Kopf abgeschaltet hat und nicht mehr weiter wollte. Sarah sagt, der Körper spürt den Ort und verändert sich. Ich war froh über den Regenschirm, der mir als Schutzschild diente, und über Lena und Hanna darunter. Lena hat Recht, wir teilten in diesem Moment so viel mehr als nur den Schirm.

Es goss in Strömen, als wir am Ende in Auschwitz-Birkenau vor den Gedenktafeln standen und eine kleine Abschlusszeremonie feierten. Am Ende hieß es, dass wir diesen Ort nun frei verlassen können. Wir sind frei und können gehen. Wir sollen das Leben feiern. Während wir uns umarmten, hörte der Regen auf. Schweigend gehen wir die 15 Minuten zum Ausgang. Ich werde es nicht vergessen.

Als wir am nächsten Tag alle mit dem Bus nach Hause fahren, grüble ich: Wie sollen wir erzählen, was wir erlebt haben? Würden wir die richtigen Worte finden? Wie hat sich unsere Sichtweise verändert? Wir dürfen nicht vergessen.

von Sofie Terzer

Der Artikel ist erstmals in der 96. Ausgabe (Juni 2024) der Straßenzeitung zebra. erschienen.

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