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Fragt man Kseniia Obukhova nach ihrer Identität, danach, wo sie sich zugehörig fühlt, schüttelt sie den Kopf: „Meine Identität ist ein ständiger Prozess“, meint die 27-jährige Social Designerin, die ursprünglich aus Russland stammt und in ihrem Leben schon viele Male umgezogen ist, Stadt, Wohnung und Sprache gewechselt, und sich immer wieder neu eingerichtet hat. Als sie sich 2021 aus Turin für den Studiengang in Eco Social Design an der Freien Universität Bozen entschied, war Bozen für sie „eine dieser unverständlichen Städte im Norden“. Dann zog sie tatsächlich nach Bozen, und in Bozen mehrere Male um: In diesem Prozess brach der Konflikt zwischen der deutschen und italienischen Sprachgruppe mit ungewohnter Heftigkeit über sie herein.
Ein Konflikt, dessen Folgen sie vor allem in Bezug auf jene Menschen wahrnimmt, die weder der italienischen noch der deutschen Sprachgruppe angehören können oder wollen. Das Projekt „Gen BZ“, das Kseniia Obukhova zusammen mit Schüler:innen einer deutschen und zweier italienischer Oberschulen ausgearbeitet hat, ist ihr Versuch, die vorhandenen Spannungen zwischen den beiden Identitäten in ein neues Narrativ zu gießen: In Form eines Fanzines bringt die Social Designerin die Stimmen der Schüler:innen aus den Klassenräumen hinaus auf die Straße. Darin erklären die Schülerinnen und Schüler ihre Sicht auf Sprache und Identität in Bozen. Das Fanzine ist in limitierter Ausgabe ab November bei den Verkäufer:innen der Straßenzeitung zebra. in Bozen erhältlich.
zebra.: Kseniia, du hast mit den Schülerinnen und Schülern dreier Bozner Oberschulen ein Fanzine mit dem Titel „Gen BZine“ ausgearbeitet. Was können wir uns darunter vorstellen?
Kseniia Obukhova: Das Fanzine ist eine kleine Publikation, ein sogenanntes mikropolitisches Objekt, in der ich die Sicht der Schüler:innen der „Gen Z“ auf das Thema Sprache und Identität in Bozen gesammelt und grafisch aufgearbeitet habe. Ich wollte zeigen, dass Identität etwas ist, das in ständigem Wandel ist. Es ist ein Prozess, der nicht von oben herab gelenkt werden kann, sondern für den es Raum und Verständnis braucht. Das Fanzine gibt jüngeren Generationen den Raum und die Möglichkeit, sich auszudrücken und älteren, diese jungen Generationen kennenzulernen. Identität und Sprache sind in Bozen ein Dauerthema.
Warum wolltest du dieses Thema behandeln und was war dein Zugang dazu?
Ich bin vor zwei Jahren nach Bozen gezogen. Bevor ich mich an der Uni einschrieb, war Bozen für mich „eine dieser unverständlichen Städte im Norden“. Als ich dann hierher kam, ist der Konflikt zwischen den beiden Sprachgruppen über mir hereingebrochen. Natürlich ist es wichtig, die historischen Gründe für diesen Konflikt anzuerkennen, aber die Art und Weise, wie er im Moment ausgetragen wird, frustriert beide Seiten und nicht nur: Der Konflikt wird auf den Köpfen der sprachlichen und ethnischen Minderheiten auf dem Territorium ausgetragen, die sich weder hier noch dort zugehörig fühlen, obwohl sie vielleicht seit Jahrzehnten hier sind.
Wie spiegelt sich diese Situation an den Oberschulen in Bozen wider?
Ich habe viele Schüler:innen interviewt, die sich schwertun, sich irgendwo zugehörig zu fühlen. Viele haben geantwortet, dass sie sich weder mit der deutschen noch mit der italienischen Sprachgruppe identifizieren, sich aber auch von der Sprache und Kultur im Elternhaus irgendwie abgeschnitten fühlen. Sie leben zwar in Bozen, im öffentlichen Diskurs sind sie aber keine Bozner:innen, weil sie die Kriterien dafür nicht erfüllen.
Ich habe versucht, der Diversität in Bozen eine Stimme zu geben.
Im Fanzine werden unter anderem Ausdrücke gesammelt, die an den Schulen in Bozen geläufig sind. Viele dieser Ausdrücke werden von den Sprachen Punjabi, Arabisch oder Albanisch geborgt. Inwiefern sind diese Ausdrücke repräsentativ für die Schülerschaft in Bozen?
Das ist unterschiedlich. Ich habe versucht, der Diversität in Bozen eine Stimme zu geben. Deshalb habe ich auch einige Ausdrücke aufgenommen, die mir von Einzelpersonen erklärt wurden. Manche Ausdrücke werden aber auch außerhalb der entsprechenden Sprachräume gebraucht, zum Beispiel „Wesh“. Das Wort stammt aus dem Arabischen und bedeutet so viel wie „Was sagst du da!“. Es muss uns aber bewusst sein, dass dieses Fanzine kein auf Stein gemeißeltes Wörterbuch ist. Die Art und Weise, wie wir miteinander sprechen, ist in einem ständigen Wandel und von Gruppe zu Gruppe unterschiedlich.
Das heißt, du bist direkt auf die Jugendlichen zugegangen und hast dir die Dinge von ihnen erklären lassen?
Ja, ich habe nur die Dinge verwendet, die von den Jugendlichen selbst kamen. Dafür habe ich intensiv mit einigen Klassen in einer deutschen und zwei italienischen Oberschulen in Bozen gearbeitet, Interviews mit den Schüler:innen geführt und Sprachtagebücher entwickelt. Insgesamt habe ich also Hunderte Stimmen zur „GenBZ“ eingesammelt, die ich dann zusammengetragen und zu einem Fanzine zusammengefügt habe. Solange wir zur Schule gehen, passiert es nur selten, dass unser Wissen von Erwachsenen ernst genommen wird. Mit diesem Projekt wollte ich diese Dynamik umdrehen und ihre Welt in den Vordergrund stellen.
Warum hast du dich in deiner Arbeit auf die Oberschule konzentriert?
Diese Altersklasse ist im öffentlichen Diskurs kaum präsent. Wenn es um Schule geht, geht es meist um die Grund-, manchmal Mittelschulen. Und auch die verschiedenen Aktivitäten, die beispielsweise im Sommer organisiert werden, richten sich vorwiegend an diese Altersklassen. Für Oberschüler:innen gibt es hingegen kaum Räume, um sich über die eigene Bubble hinaus zu begegnen und auszutauschen. Deshalb wollte ich ihnen eine Stimme geben.
Hatten sich die Jugendlichen bereits mit Identität und Sprache beschäftigt?
An den Schulen wird es vielfach vermieden, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen, um keine Konflikte auszulösen und die Schüler:innen bestmöglich in die vorherrschende Sprachgruppe zu integrieren. Aber auf meine Fragen fanden die meisten Schüler:innen sehr interessante Antworten. Das Thema war also schon in ihrem Kopf.
Wie wirkt sich dieses „nicht Ansprechen“ auf die Schüler:innen aus?
Ich habe beispielsweise mit einer Person gesprochen, die zuhause Punjabi und Englisch spricht. Sie hat mir erklärt, dass sie ziemlich gut Englisch spricht, ihr im Italienischunterricht aber manchmal die Worte fehlen. Nicht, weil sie kein Italienisch spricht, aber weil sie täglich mit fünf Sprachen jongliert und dafür manchmal auf ein anderes Vokabular zurückgreifen muss. Durch die Anforderungen des Schulsystems, sich in einem klar definierten sprachlichen Rahmen zu bewegen, wird sie aber in eine Situation gebracht, in der sie sich inkompetent fühlt. Sie merkt, dass sie sich nicht so ausdrücken kann, wie sie möchte.
Ich war überrascht, dass sich viele der italienischsprachigen Schüler:innen nicht als Bozner:innen fühlen. Sie sind dann vielleicht „eigentlich aus Kalabrien“ oder „halb von woanders“.
Wie spiegelt sich die Frage nach der eigenen Identität hingegen in den Schüler:innen ohne Migrationshintergrund wider?
Ich war überrascht, dass sich viele der italienischsprachigen Schüler:innen nicht als Bozner:innen fühlen. Sie sind dann vielleicht „eigentlich aus Kalabrien“ oder „halb von woanders“. Bei den deutschsprachigen Schüler:innen kamen viele aus den Tälern in der Nähe von Bozen und nahmen nach der Schule den ersten Bus, um wieder nach Hause zu fahren. Bei ihnen habe ich eine sehr fürsorgliche Beziehung zum Territorium wahrgenommen. Dabei ging es vor allem um den naturalistischen Aspekt: Viele gehen beispielsweise gerne auf den Berg oder sind viel in der Natur. Sie identifizieren sich also nicht mit einer nationalen oder regionalen Identität, sondern mit der Landschaft selbst, die zu ihrem Zuhause wird.
Das war bei anderen Schüler:innen nicht so?
Einige Schüler:innen dürfen dieses Zugehörigkeitsgefühl nicht entwickeln, weil man sie andauernd spüren lässt, dass sie nicht von hier sind, obwohl sie vielleicht sogar hier geboren sind. Das hat Auswirkungen auf die Art und Weise, wie sie sich um den eigenen Lebensraum kümmern. Dazu kommt, dass sich viele, mit denen ich gesprochen habe, irgendwie auf der Durchreise wahrnehmen: Sie wollen nach der Schule ins Ausland oder „nach Italien“, nach Bologna oder nach Rom. Andere fühlen, dass sie nicht hierhergehören. Dadurch entstehen isolierte Gruppen, die vielleicht gar nicht die Möglichkeit haben, sich für ein gemeinsames Zusammenleben einzusetzen.
Gruppen, die im öffentlichen Diskurs dann zum Sündenbock werden.
Genau. Einige Schüler:innen haben mir erklärt, dass sie aktiv nach Menschen suchen, die dieselbe Sprache sprechen wie sie, weil sie in einer so geteilten Stadt, in der sie nicht dazugehören dürfen, einen Platz finden müssen. Im öffentlichen Diskurs wird das dann so gedreht, dass „sie sich nicht integrieren wollen“ oder „unter sich bleiben wollen“. Wie schwierig es ist, in einem Ort zu leben, wo du erklären musst, zur einen oder zur anderen Gruppe zu gehören, wo dann aber weder du noch deine Familie wirklich dazugehören dürfen, darüber wird kaum gesprochen. Dabei müsste das Wohlbefinden der Menschen auf dem Territorium im Zentrum der Debatte stehen. Und das heißt auch, die Bedürfnisse der anderen versuchen zu verstehen. Dadurch, dass sich die Gesellschaft dieser Diversität öffnet, kann sich auch die Beziehung zwischen der italienischen und der deutschen Sprachgruppe verändern.
Wenn wir über Identität sprechen, dann steht Sprache oft im Vordergrund.
Gab es neben der sprachlichen Komponente auch andere Ebenen, die dir in deiner Recherche wichtig waren?
Wenn wir über Identität sprechen, dann steht Sprache oft im Vordergrund. Das fängt schon beim Namen eines Neugeborenen an. Aber natürlich ist Identität viel komplexer. Eine der Fragen, die ich den Jugendlichen gestellt habe, zielt auf die verschiedenen Elemente ab, die unsere Identität beeinflussen können. Ich habe die Schüler:innen gebeten, verschiedene Elemente so zu ordnen, dass jene Dinge die ihre Identität am meisten beeinflussen, ganz oben stehen. Meine Familie, mein Freundeskreis, die Gesellschaft, in der ich lebe, Trends, persönliche Interessen, die Sprache, die ich spreche, … Die meisten haben angegeben, dass sie sich vor allem durch ihre eigenen Interessen und Hobbies definieren. Es ist schön zu sehen, dass sie trotz der vielen Zuschreibungen von oben ein eigenes Ich wahrnehmen können.
Das Fanzine ist für eine Einzelperson schwer zugänglich, wenn sie nicht all die verwendeten Sprachen spricht. Warum hast du dich für diese Mehrsprachigkeit entschieden?
Man kann sich das Ganze natürlich von Google übersetzen lassen. Oder man fragt andere Menschen, die eine der darauf abgebildeten Sprachen sprechen und tauscht sich gemeinsam aus. Meine Aufgabe als Social Designerin ist es, jene Dinge, die auf dem Territorium vorhanden sind, in eine zugängliche Form zu bringen; aber auch einen Dialog in der Gesellschaft anzustoßen. Ein Dialog, der im Idealfall dazu führt, dass Räume geschaffen werden, wo Identitäten ohne Druck gebildet und hinterfragt werden können. Und wer weiß, vielleicht finden sich so noch mehr junge Leute, die die zweite Ausgabe des Fanzines konzipieren möchten!
Interview: Valentina Gianera
Dieser Text ist erstmals in der neuen Ausgabe der Straßenzeitung zebra. (10.11.2023 – 10.12.2023 | 90) erschienen.
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