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Herr Luther, für Ihr Buch haben Sie eine Zeit lang bei den Hutterer:innen gelebt. Können Sie unserer Leserschaft in wenigen Worten erklären, was es mit dieser Gesellschaft auf sich hat?
Die Hutterer sind eine täuferische Gemeinschaft, die nach dem Vorbild des Urchrists Jerusalems und in strengen Gütergemeinschaften zusammenleben – nach dem Leitsatz: Alle haben alles gemeinsam. Sie sind gewissermaßen eine Frucht der Reformation des 16. Jahrhunderts, die sich damals mit dem linken Flügel zusammenschloss. Weil sie pazifistisch waren, wurden sie aber von den Reformatoren selbst schon bald verfolgt. Die strikte Gewaltlosigkeit der Hutterer ist eines ihrer charakteristischen Grundelemente. Von Kirche und Staat wurden sie gewaltsam aus Tirol vertrieben, weshalb sie nach Böhmen, Mähren, in die Walachei und Richtung Dnjepr emigrierten. 1874 haben sie auch das Zarenreich verlassen und sind zuerst in die USA ausgewandert. Dort erlebten sie in der Zeit des Ersten Weltkriegs Anfeindungen, Gefangenschaft und Folter. Am Ende des Ersten Weltkrieges ist ein Großteil nach Kanada gezogen. Heute leben die kanadischen Hutterer auf Farmen mit ca. 150 Personen.
Warum nur so wenige Einwohner:innen?
Wenn eine gewisse Größe von ca. 200 Menschen erreicht ist, teilen sie sich auf: Zwei Drittel bleiben vor Ort und ein Drittel gründet eine neue Gemeinschaft. Das Prinzip dahinter ist, dass die Kontakte persönlich und intim bleiben sollen. Das Dorf, in dem ich die meiste Zeit verbracht habe, ist gerade dabei, eine Tochtergemeinde zu gründen. Auf diese Weise „vermehren“ sie sich. Es gab noch nie so viele Hutterer wie jetzt.
Was beschäftigt die Hutterer:innen?
Das zentrale Thema ist die Religion, da ist nicht viel Platz für Anderes. Die Hutterer sind der Meinung, dass Gott eines Tages ein Strafgericht schicken wird und sehen sich selbst als rettende Arche. Sie wissen von der Welt draußen ziemlich wenig – und möchten auch nichts wissen. Dementsprechend gibt es viele Verschwörungstheoretiker:innen unter ihnen – gerade was die liberale Regierung in Kanada und die große LGBTQ+-Bewegung dort anbelangt. Einige glauben, dass die Regierung sie „umbiegen“ will.
Sehr wichtig ist ihnen das Arbeitsleben – im Gegensatz zu den ebenfalls protestantisch-kommunitär lebenden Amish. Die Hutterer sind erfolgreiche Wirtschaftstreibende, die riesige Maschinen für ihre Farmen besitzen und mit ihrer Arbeit sehr viel Geld verdienen. Dafür ernten sie auch viel Neid von der Außenwelt.
Sie haben in verschiedenen Gemeinden gelebt, hab ich das richtig rausgehört?
Genau. Wie in allen Gemeinschaften und Religionen gibt es auch hier verschiedene Strömungen. Es gibt die Liberalen, die sich der heutigen Welt und deren Entwicklung vorsichtig öffnen und sich Schmiedeleut nennen, es gibt die mittelkonservativen Dariusleut und die komplett konservativen Lehrerleut. Ich war als erstes bei den Liberalen in Manitoba, weil sie einfach die kontaktfreudigsten mit der Welt sind – sie nennen uns „die Englischen“ oder „die Weltmenschen“.
In welchem Zeitraum und wie lange waren Sie dort? Wie haben Sie Kontakt aufgenommen?
Ich war 2022 mehrere Male bei den Hutterern – zuletzt im Sommer 2023. Insgesamt war ich zweieinhalb Monate dort. Den Kontakt habe ich über Mail hergestellt, und zwar mit der liberalsten Gemeinschaft. Über sie bin ich dann auch zu den Dariusleut und schließlich sogar zu den konservativen Hutterern gekommen. Das war nicht einfach. Ich habe bestimmt an die 50 E-Mails verschickt. Zurück kamen meist klare Absagen wie „You are not invited”, bis schließlich eine Zusage kam – und das nur deshalb, weil jemand von den Liberalen ein gutes Wort für mich eingelegt hat.
Die Hutterer wissen von der Welt draußen ziemlich wenig – und möchten auch nichts wissen.
Helmut LutherWie ist man Ihnen dort begegnet? Und was haben Sie dort dann genau gemacht?
Ich war als Deutschlehrer tätig und habe verschiedene Arbeiten verrichtet, um das Leben dort kennenzulernen. Ich habe beim geistigen Führer, dem Prediger, und seiner Familie gewohnt. Ich wurde dort sehr herzlich aufgenommen und habe völlig umstandslos mitgelebt. Der Prediger und der Finanzminister waren meine ersten Ansprechpersonen vor Ort, aber ich war auch mit anderen Hutterern im Dorf unterwegs.
Ist der Prediger generell der Anführer der Gemeinschaft?
Die Anführer dieser Gemeinschaften sind eigentlich immer entweder der Pfarrer oder der Lehrer als geistige Elite – so wie es bei uns früher eigentlich auch war. Dann gibt es noch die „weltliche Macht“, der Finanzminister. Ohne Geld geht auch in diesen frommen Gemeinden nichts. Diese Männer bilden den Rat, der sich täglich trifft, um die Arbeit zu besprechen, aber auch Zwischenmenschliches, wie eine anstehende Hochzeit oder Probleme.
Warum gibt es in diesen Räten keine Frauen?
Das Ziel dieser Gemeinschaft ist es, das urchristliche Modell zu leben. Von Apostel Paulus als Haupttheologen stammen Sätze wie „Die Frau schweige in der Kirche“, „Der Mann ist das Oberhaupt“ oder „Die Frau verhülle ihr Haupt“ – da gibt es eine strikte Trennung. Ich habe natürlich vorsichtig versucht zu bohren, wie es den Frauen vor Ort damit geht. Ich musste ihnen Begriffe, wie Emanzipation und Selbstbestimmung erst erklären. Mein Eindruck war aber der, dass die Frauen mit ihrer Rolle im Dorf gut zurechtkommen. Da die Hutterer Farmer sind, gibt es natürlich viel Garten- und Küchenarbeit. Die Männer verrichten die anderen Arbeiten. Die Männer, die dort leben, eifern Jesus nach, sind also sehr sanfte Männer mit einer starken weiblichen Seite. So habe ich es jedenfalls erlebt. Machos gibt es hier keine.
Wie haben Sie dieses extreme Gemeinschaftsgefühl empfunden und wie war es für Sie, Teil eines Kollektivs zu sein?
Es hat sicherlich seine schönen Seiten – ein Dorf ist hier wirklich noch ein Dorf. Dieser Aspekt der Gemeinschaftlichkeit hat mich am meisten fasziniert. Gleichzeitig wäre das für mich auch die größte Schwierigkeit, Hutterer zu sein: Ich bin eher ein Einzelgänger und z. B. in keinem Verein tätig. Es gibt in diesen religiösen Gemeinschaften Sprüche, wie: „Nur in einem zerknirschten Stein kann ein Samen aufgehen“, das heißt also, das eigene Ego ablegen zu müssen, das im menschlichen Wesen enthalten ist – und das möglichst früh. Das ist ein Grund, warum alles immer in der Großfamilie, in Gemeinschaften passiert und es ständige Beschäftigung gerade für die jungen Leute gibt. Ist ja logisch, dann kommt keiner auf blöde Gedanken (lacht). Die Hutterer sind immer alle beieinander, sie reden, singen und beten gemeinsam. Gebetet wird sehr viel.
Da gibt es bestimmt einige, die mit diesem Lebensstil nicht zurechtkommen …
Von außen gibt es sehr wenige Leute, die bei den Hutterern bleiben. Unter den Hutterern selbst herrscht ein Kommen und Gehen. Ich hatte das Gefühl, dass von jeder Familie jemand gegangen und wieder gekommen ist. Wenn einer geht, dann ist er wie der verlorene Sohn – die gesamte Gemeinschaft leidet. Sehr viele kommen aber wieder zurück, aus welchen Gründen auch immer. Vielleicht ist es die Nestwärme, aber vielleicht auch die Tatsache, dass sie in der Gemeinschaft alles haben, was sie brauchen – sie sind hier gut versorgt und keine Gefangenen. Die Welt draußen ist hart. Es gibt aber auch einige, die nicht zurückkommen – viele von ihnen stürzen ab und bekommen Probleme mit Drogen. Viele Mitglieder verlieren sie an Evangelikalen, das sind diese – meistens sehr charismatischen – Sektenprediger.
Verstoßen wird hier also niemand?
Im Grunde nicht. Aber wer zum Beispiel seine Homosexualität ausleben möchte, der darf das innerhalb der Gemeinschaft nicht tun. Diese Menschen sind also gezwungen zu gehen.
Was ist sonst noch verboten?
Grundsätzlich soll nichts dem Gebet vorgezogen werden, daher sind z. B. Kunst, weltliche Literatur oder Tanz verpönt. Gerade in den mittelstrengen und strengen Gemeinden ist das alles komplett verboten – man ist der Meinung, dass Dinge, wie z. B. der Tanz zur „Hurerei verführt“, weil es da um Gefühle und das Körperliche geht.
Sport ist ebenfalls verpönt, nur bei den Liberalen ist Sport in kleinem Ausmaß erlaubt. Sexualunterricht wird abgelehnt. Bei den strengen Hutterern herrscht zudem ein striktes Fotografieverbot. Bei den Liberalen gibt es inzwischen eine kleine Gruppe, die studieren gehen darf. Aber man fürchtet schon, dass das Böse von außen dadurch in die Gemeinschaft eindringen könnte.
Worauf haben Sie in Ihrer Recherche besonders Wert gelegt?
Ich bin der Improvisiertyp und eigentlich ohne konkreten Plan rangegangen. Wie ich die Recherche umsetze, habe ich erst vor Ort entschieden. Mein Buch ist kein wissenschaftliches Buch – ich erzähle vom heutigen Leben der Hutterer und habe mich dann auf die Menschen vor Ort konzentriert. Es geht um verschiedene Personen, zum Beispiel den Schäfer oder den Schuster – so bekommen die Leser:innen einen Einblick, wie diese Gemeinschaft funktioniert.
Wie sind die Zukunftsaussichten für solche Gemeinschaften?
Besonders die jungen Leute fordern eine gewisse Strenge ein. Sie spüren eine Bedrohung ihrer Lebensweise und wollen unbedingt an ihren Sitten festhalten. Das ist sehr auffällig. Das ist mit ein Grund, warum es die Hutterer mit Sicherheit weiterhin geben wird. Die Frage ist eher, wie sehr die Menschen dort die Öffnung nach außen zukünftig händeln werden. Der Computer ist in gewissem Sinne Schmuggelware, durch das die Welt von außen zu ihnen dringt. Bei den Liberalen bekommen alle mit 18 ein Handy, die allerdings vorsichtig verwendet werden: Sie nutzen eine Firewall, die nur bestimmte Informationen zulässt, so haben es mir die Prediger erklärt. In den strengen Gemeinschaften sind Handys und Computer verboten. Es gibt nur einige verstaubte Computer in den Betrieben, aber anscheinend existieren die nur heimlich (lacht).
Wie lautet ihr ganz persönliches Resümee nach diesen Einblicken?
Das klingt vielleicht etwas pathetisch, aber: Wir haben als moderne Gesellschaft viel an Frömmigkeit und Gemeinschaftlichkeit verloren, auch was das Familienleben anbelangt. Bei meinem letzten Besuch im Sommer hat mich meine Frau begleitet. Sie empfand das Leben der Hutterer als sehr positiv: Sie hat sich an ihr Leben früher auf dem Bauernhof erinnert gefühlt. Der Rhythmus ist ruhiger. Das ist sicher eine der positiven Aspekte. Aber es gibt natürlich immer zwei Seiten, wenn wir das Thema der Selbstverwirklichung wieder heranziehen.
Werden Sie die Hutterer:innen irgendwann wieder besuchen?
Ich glaube nicht, dass ich noch mal hinfahren werde, aber ich bin noch in Kontakt mit ungefähr zehn Leuten, die wie Freunde für mich sind. Sie kommen mich vielleicht besuchen – dann werde ich sie so herzlich aufnehmen, wie sie mich aufgenommen haben.
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