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Teresa Putzer
Veröffentlicht
am 06.09.2023
LebenStimmen des Wandels: Sylwia Urbanska

Feministischer Aufbruch in Polen

Veröffentlicht
am 06.09.2023
Fortschritt durch Rückschritt? Die Soziologin Sylwia Urbanska gibt Einblicke in den polnischen Feminismus und wirft ein kritisches Licht auf ein Land im Wandel – und die fehlende Gleichberechtigung der Frauen.
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Oftmals formen wir unsere Ansichten über bestimmte Länder und deren soziale Dynamiken auf Grundlage von Stereotypen und begrenzten Informationen. In diesem Zusammenhang gibt es auch Vorstellungen über die Rolle der Frau in Polen, die von kulturellen Annahmen und historischen Hintergründen geprägt sind. Doch um ein wirklich umfassendes Bild zu erhalten und möglicherweise unsere Perspektiven zu überdenken, ist es unerlässlich, auf authentische und differenzierte Einblicke zurückzugreifen.

In diesem Kontext eröffnet das bevorstehende Interview mit der polnischen Soziologin Sylwia Urbanska eine bedeutende Gelegenheit. Ihre Forschung zur Rolle der Frau, den Frauenrechten und den Emanzipationsbewegungen hat nicht nur Einblicke in bestehende Ungleichheiten geliefert, sondern auch die Strahlkraft der Veränderung hervorgehoben. Mit Blick auf die sozialen Muster und Dynamiken hat Sylwia Urbanska die Geschichten von Frauen aus verschiedenen Teilen Polens eingefangen – Geschichten von Mut, Widerstandsfähigkeit und dem Streben nach Gerechtigkeit. Als Expertin aus erster Hand kann sie tiefe Einblicke in die tatsächlichen Erfahrungen und aktuellen Entwicklungen der Frauen in Polen vermitteln. Ein Gespräch mit der Referentin im Zuge der Summer School Südtirol ist eine Einladung, die Welt und den Kampf um Gleichberechtigung in anderen Ländern mit neuen Augen zu sehen.

BARFUSS: Sylwia, wo liegt der Schwerpunkt deiner Forschung?
Sylwia Urbanska: Meine Forschung ist sehr breitgefächert. Zu Beginn meiner Karriere habe ich über die erste Generation von polnischen Frauen, die sich scheiden ließen, geforscht. Es hat mich interessiert, wie die Frauen mit diversen Stigmatisierungen umgegangen sind. Mein Interesse gilt in erster Linie feministischen Biografien von Frauen, die sich selbst nicht als feministisch bezeichnen würden. Es geht also um Frauen, die sich nicht mit Feminismus identifizieren, aber wie Feministinnen leben: eigenständig und unabhängig.  Ich habe aber auch zu polnischen Frauen geforscht, die nach dem Untergang des sozialistischen Regimes in Polen aus emanzipativen Gründen ins Ausland emigrierten.

Wie ist es diesen Frauen ergangen?
Nicht sonderlich gut. Sie haben Polen aus emanzipatorischen Gründen verlassen, um sich in einem ähnlichen Schicksal wiederzufinden. So mussten damals – und teilweise noch heute – die meisten emigrierten Frauen als Putzfrau, Kindermädchen etc. arbeiten. Sie wurden also erneut in die weibliche Care-Rolle gesteckt. Um Geld zu verdienen haben viele dieser Frauen ihre Kinder in der Heimat zurückgelassen und wurden zu sogenannten „Abroad-Moms“. Meine Mutter war eine von ihnen. Mein Forschungsinteresse ist daher auch persönlich bedingt.

Es geht um Frauen, die sich nicht mit dem Feminismus identifizieren, aber wie Feministinnen leben: eigenständig und unabhängig.

Wie ist die aktuelle Situation für die Frau in Polen?
Durch und durch problematisch, besonders seit 2015. Seit 2015 leben wir in einem Land, das von einem extrem autoritären Regime regiert wird, was sich verheerend auf die Rolle der Frau auswirkt. Die Regierungspartei „Law and Justice“ mit Jaroslaw Kaczyński als Chef dieser Partei verantworten mit ihrer restriktiven Gesetzgebung und ihren Werten die Zerstörung von demokratischen Grundwerten in Polen. Für Frauen gibt es hier besonders problematische Entwicklungen in den drei Bereichen: Reproduktion/Abtreibung, (häusliche) Gewalt und Versammlungsfreiheit.

Wie sehen diese Entwicklungen aus?
Es gibt quasi keinen Schutz für Frauen, die Gewalt ausgesetzt sind. Durch die stark konservative und katholische Prägung des Landes und der Regierung herrscht der Glaube an die heilige und perfekte Familie. In diesem Glauben ist kein Platz für Gewalt, da diese ja nicht die katholische Familie widerspiegeln würde. Aus diesem Grund wurden alle strukturellen Hilfsangebote im Keim erstickt.

Polnische Soziologin Sylwia Urbanska

Inwiefern?
Zum Beispiel kontrolliert und blockiert die Regierungspartei Fonds für NGOs, die Frauen in Gewaltsituationen helfen: Den meisten Anlaufstellen und Telefonberatungsstellen mit Psychologen für Frauen und Kinder wurde die Finanzierung entzogen. Es passt Polen nicht ins Bild, dass Frauen und Kinder Schutz benötigen, weshalb diese auch nicht angeboten oder gar verwehrt wird. Das Statement der polnischen Regierung lautet: Die polnische Familie hat kein Problem mit Gewalt. Es gibt in ganz Polen nur zwölf Betten für eine Million Frauen, die von häuslicher Gewalt betroffen sind.

Also ist das Land stark konservativ und katholisch geprägt …
Ja und nationalistisch. Aufgrund des Nationalismus innerhalb der Regierungspartei dürfen mittlerweile auch keine Menschen aus dem Ausland polnische Kinder adoptieren. Das ist besonders problematisch in Bezug auf Kinder mit Beeinträchtigungen. Früher wurden viele betroffene Kinder von Menschen aus dem Ausland adoptiert, da diese mehr Mittel zur Verfügung hatten, den Kindern ein besseres Leben zu schenken oder eben aus einem Land stammen, das sozial stärker ausgebaut ist, z. B. in Bezug auf die Barrierefreiheit. Neuerdings sind solche Adoptionen untersagt, was ein massives Problem darstellt, da in Polen eine soziale Ausrichtung für gesellschaftliche Randgruppen fehlt und die Bevölkerung deutlich ärmer ist.

Was ist das Feindbild der polnischen Regierung?
Alles Progressive. Alles, was schlecht ist, ist verbunden mit dem Feminismus, mit LGBT+ Aktivismus oder mit Gender in irgendeiner Form. Es gibt zahlreiche Antigender-Kampagnen in Polen. In den Schulen ist der Sexualkundeunterricht durch spezialisierte NGOs programmatisch verboten. In vielen Bereichen ist es sogar verboten, für progressive Werte in der Öffentlichkeit einzustehen.

Zum Beispiel?
Es gibt zahlreiche Beispiele. Wenn man auf einer Demonstration mit einem Heiligenbild rumläuft und der Heiligenschein darauf in den Regenbogen-Farben dargestellt ist, kann man dafür zwei bis drei Jahre ins Gefängnis kommen. Das polizeiliche Vorgehen gegen Aktivist:innen ist besonders brutal.

Wie steht es um den Bereich der Reproduktionsrechte für Frauen?
Sehr schlecht. Seit 2015 hat Polen das restriktivste Abtreibungsgesetz in der Europäischen Union. Es gibt einige Graubereiche, wo Abtreibungen gesetzlich legal wären, wie bei Vergewaltigungen. In der Realität werden aber auch bei solchen Fällen kaum Abtreibungen durchgeführt. Ein Grund dafür ist, dass Ärzt:innen in Krankenhäusern bei solchen Fällen, die Abtreibung immer noch selbst aus moralischen Werten ablehnen dürfen. Ärzt:innen, die Abtreibungen ermöglichen, müssen mit bis zu drei Jahren Gefängnis rechnen. Auch Apotheker:innen können Medikamente verwehren, wenn diese auch für Abtreibungen verwendet werden könnten.

Wie soll das kontrolliert werden?
Das geht eben nicht. So gab es vor kurzem die Situation, dass ein Mann Pillen für sein krankes Pferd nicht bekommen hat, da diese auch zu einer Abtreibung bei einer Frau führen könnten. Der Fötus steht über dem Leben einer Frau. Aufgrund des katholischen Glaubens wird Frauen mit Todgeburten sogar Geld angeboten, ihre toten Kinder zu gebären, damit man diese noch segnen kann. Wir bezeichnen das als „FuneralKid“. Frauen sterben oft im Krankenhaus, weil die Gesundheit der Frau immer Nachrang vor der Gesundheit des Fötus hat. So kam es schon zu furchtbaren Vorfällen und nur wenige sind bekannt, weil viele Frauen Angst haben zu sprechen.

Gibt es einen Fall, der dir besonders in Erinnerung geblieben ist?
Ja, dieser Fall ist auch medial durch die Decke gegangen. Eine polnische Künstlerin wollte abtreiben und hat daher heimlich Medikamente zu sich genommen. Es kam zu Nebenwirkungen und sie hatte starke Schmerzen, weshalb sie ihren Arzt kontaktierte. Dieser hat – anstatt zu helfen – die Polizei informiert. Die Frau wurde dann ohne medizinische Hilfe verhaftet. Trotz ihres Zustandes wurde an ihr das typische, übergriffige Procedere einer Inhaftierung durchgezogen. So musste sie sich ausziehen. Ihr Intimbereich wurde durchsucht und sie musste nackt auf und ab springen.

Wie sind die Reaktionen auf solchen Vorfällen und auf die restriktive Gesetzgebung? Lässt sich die polnische Bevölkerung das einfach gefallen?
Nein, neuerdings nicht mehr. Diese neuen Abtreibungsrichtlinien und viele weitere restriktiven Gesetze wurden von der Regierung einfach so während der Corona-Pandemie erlassen. Vermutlich auch aus dem Grund, weil man mit wenig Widerstand rechnete, da wegen der Pandemie jede:r Zuhause bleiben musste. Trotz allem kam es anders …

Die polnische Frau von heute ist laut und wütend!

Symbolbild des Protests

Was ist passiert?
Unzählige Frauen sind auf die Straße gegangen und haben protestiert. In kleinen Dörfern, in den großen Städten, überall: Die Straßen waren voll. Voll mit lauten, wütenden Frauen. Eine halbe Million Frauen war auf den Straßen, um gegen die Regierung zu protestieren. Der Protest trug den Namen „Black Protest“. Es war das erste Mal, dass politische und feministische Bewegungen Frauen von Dörfern erreicht haben. Das Symbolbild für die Emanzipationsbewegung war eine Frau im Profil mit einem Blitz. Überall hing dieses Bild; auf den Straßen und auf den Fenstern. Jede:r wusste: Ich bin nicht allein. Dieses Zusammengehörigkeitsgefühl und die weibliche Solidarität war unbeschreiblich. Ob die Regierung es wollte oder nicht, sie musste erkennen: Die polnische Frau von heute ist laut und wütend!

Wie „laut“ waren die Frauen?
Sie haben vor nichts und niemanden halt gemacht. Die Proteste fanden auf der Straße statt, aber auch vor Kirchen. Der „Black Protest“ war die erste emanzipative Bewegung, die auch vor den heiligen Institutionen nicht haltmachte. Frauen haben Kirchen besprüht, Pfarrer angeschrien und vor den Mauern der Kirche protestiert. Grund dafür war die enge Zusammenarbeit zwischen Kirche und Regierung.  

Das war aber nicht der einzige Anlass in jüngster Zeit, wo polnische Frauen politisch aktiv wurden. In deiner Forschung thematisiert du auch die polnischen Aktivist:innen, die mit Ukrainer:innen an der polnisch-ukrainischen Grenze zusammenarbeiten. Was machen die Frauen dort genau?
Vieles. Sie organisieren Notpakete, Medizin, Essen usw. für Flüchtlinge. Besonders aktiv waren die Frauen zu Beginn im Tierschutz der Geflüchteten.

Geflüchtete Ukrainerinnen mit ihren Haustieren

Tierschutz? Was haben Tiere mit den geflüchteten Menschen aus der Ukraine zu tun?
Etwas, das es interessanter Weise nie bis in die Berichterstattung Westeuropas schafft, ist die Tatsache, dass wir bei den Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine zum ersten Mal in der Geschichte von „Animal-Refugees“ sprechen. In keiner Flüchtlingsserie der Welt, gab es bis zu diesem Krieg so viele Flüchtlinge, die ihr Haustier mitnehmen. Fast jede Familie bringt ihren Hund oder ihre Katze mit. So mussten zu Beginn neben den Unterstützungsangeboten für den Menschen auch verschiedene Maßnahmen für die Tiere getroffen werden: Tierfutter, Tiermedikation etc. Im Tierschutz haben sich besonders polnische Frauen engagiert.

Sie sprechen bei den Flüchtlingshelfer:innen auch von einer feministischen Bewegung. Wie das?
Etwa 80 % der Aktivisten, die an einer anderen Grenze – der polnisch-belarussischen Grenze – helfen, sind Frauen. Das ist eine extrem spannende Entwicklung, da politische Partizipation und Aktivismus lange Zeit den Männern vorbehalten waren bzw. zumindest männlich geprägt waren. Nun heißt es an der Grenze: polnische Frauen gegen Soldaten, die Geflüchtete zurück nach Weißrussland schicken wollen.

Wie sieht dieser Aktivismus aus?
Der Aktivismus beschränkt sich vor allem auf die Hilfe der Geflüchteten im Wald zwischen Belarus und Polen. Diese wäldliche Grenzregion ist extrem wild bewachsen und von Sümpfen gekennzeichnet. Die Hilfs- und Rettungsaktionen sind also sehr kompliziert.

Inwiefern?
Die polnischen Aktivist:innen mussten sich Nachtsichtgeräte besorgen, da es erst bei Einbruch der Dunkelheit „sicher“ ist, den Wald zu betreten. Helfer:innen durchforsten mehrere Stunden in totaler Dunkelheit, mit 50 kg schweren Rucksäcken voll mit Medikamenten und Essen, den Wald. Ältere Frauen, die körperlich nicht mehr helfen können, organisieren von Zuhause aus Essensvorräte, kochen sie vor und füllen sie in Gläser, die dann zu den Menschen gebracht werden. Um die richtigen Hilfsgüter zu besorgen, mussten sich die Aktivist:innen zudem in alte Bücher aus dem Ersten Weltkrieg einlesen.

Wieso das?
Viele Flüchtlinge haben aufgrund der feuchten Gegebenheiten im Wald und Moor eine Krankheit, bei der sich die Haut von den Füßen löst. Für diese Krankheit findet sich in den aktuellen Lehrbüchern keine medizinische Versorgung, weil es die Krankheit eigentlich nicht mehr gibt. Im Ersten Weltkrieg war die Krankheit aber weit verbreitet, weil die Soldaten im Schützengraben auch mehrere Tage und Wochen im Wasser standen und die Haut zu faulen begann. Durch dieses alte Wissen kann man helfen.

Die Fluchtroute durch den Wald klingt wie ein einziger Überlebenskampf …
Leider ist die Route für viele der sichere Weg in den Tod. Mehrere hundert Menschen haben im Wald bereits ihr Leben verloren. Oftmals finden die Aktivist:innen nur noch ihre Skelette, da die Feuchtigkeit den menschlichen Körper schnell zersetzt. Oftmals platzieren die Flüchtlinge Gegenstände wie Uhren auf einem Ast oder Baum, wenn sie merken, dass sie sterben werden – damit man später weiß, wo man nach ihren Überresten suchen muss.

Krieg, Abtreibungsgesetze und Versammlungsverbote: eine schreckliche Lage für die Frau in Polen. Welche Hoffnung haben sie?

Wir dürfen nicht vergessen, dass die Frauen dank dieser schrecklichen Situation in Polen noch aktiver geworden sind. Durch diese Umstände wurden die Streiks zu einer Massenbewegung, und der Aktivismus breitete sich auf alle Gruppen und Generationen von Frauen aus. Wir Polinnen sind sehr engagiert, aktiv, demokratisch, reflektiv, sehr gut organisiert und sehr mutig. Wir sind laut, werden lauter und bleiben es!

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