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Sarah Meraner
Veröffentlicht
am 21.06.2023
LebenHochsensible Menschen

Eine andere Art zu fühlen

Veröffentlicht
am 21.06.2023
Mehr fühlen, mehr wahrnehmen, mehr verarbeiten: Victoria Morandell ist hochsensibel – und fühlt sich deshalb jahrelang „anders als alle anderen“. Dabei ist sie nicht alleine – jede:r Fünfte gilt als „Highly Sensitive Person”.
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Für Victoria Morandell aus Kurtatsch ist das Arbeiten im Großraumbüro eine enorme Herausforderung. Im Radio läuft „Counting Stars“ von One Republic. „I see this life, like a swinging vine. Swing my heart across the line…“ Jemand macht Kaffee in der Gemeinschaftsküche. „Tschhhhh“, faucht die Espressomaschine. Die Kollegin am anderen Ende des Raumes telefoniert mit einem Kunden, es scheint sich was Großes anzubahnen. Das hatte Victoria schon vermutet. Die Deckenlampe flackert kaum merkbar. Ein anderer Mitarbeiter kommt gerade zur Tür herein und grüßt. Es scheint ihn etwas zu bedrücken. Vom Fenster herein steigt der Duft von gebratenen Zwiebel aus dem Restaurant gegenüber. Und Zigarettenrauch. „Lately, I’ve been, I’ve been losing sleep. Dreaming about the things that we could be…“ tönt es weiter aus dem Radio. Eine Tasse klirrt, PC-Mäuse klicken um die Wette, die To-do-Liste ist lang, der Kopf voll. Hier ist alles etwas zu viel für Victoria.

Mittlerweile hat sie einen neuen Job, den sie zum Teil auch im Home-Office verrichten darf. „Wünschelruten-Fähigkeiten“ nennt eine ihrer jetzigen Kolleginnen Victoria Morandells Fähigkeiten, die hier geschätzt und gefördert werden – und meint damit vor allem ihr gutes Gespür für Menschen und Befindlichkeiten, ihre Kreativität sowie die rasche Auffassungsgabe und intensive Wahrnehmung für alles um sie herum. Und die 31-Jährige ist noch viel mehr: Sie ist eine Highly Sensitive Person, kurz HSP genannt oder anders ausgedrückt: Sie ist hochsensibel.

Hochsensible Personen nehmen Reize aus der Umwelt, wie Geräusche, Lichter oder Gerüche sowie Sinnesreize bewusster und um ein Vielfaches intensiver wahr als Normalsensible – und verarbeiten sie im Gehirn auch anders. Zudem sind Gefühle wie Freude, Traurigkeit oder Wut stärker ausgeprägt. Hochsensibilität wird durch soziale, emotionale und physische Sensitivität charakterisiert und ist kein Krankheitsbild, sondern ein Persönlichkeitsmerkmal, daher spricht man in diesem Zusammenhang weder von einer Diagnose noch von Symptomen. 

Victoria Morandell fühlte sich schon immer anders als andere.

Die US-Wissenschaftlerin und Psychotherapeutin Elaine N. Aron verwendete den Begriff „Highly Sensitive Person“ (HSP) erstmals 1997 im Rahmen ihrer Forschungsarbeiten zur sensorischen Verarbeitungssensitivität. Dabei fasste sie folgende Merkmale unter dem Akronym DOES zusammen:

D – Depth of Processing (Verarbeitungstiefe von Informationen)

O – Easily Overstimulated (die persönliche Reizschwelle ist schnell erreicht)

E – Emotional Reactivity and High Empathy (Emotionale Berührbarkeit)

S – Sensitivity to Subtle Stimuli (Wahrnehmung und Bewusstsein für unterschwellige Reize und Feinheiten)

Wie kommt es aber zu dieser ausgeprägten Form der Sensitivität? Eine Studie von Bianca Acevedo von der University of California in Santa Barbara belegt: Bestimmte Hirnareale, nämlich das Epizentrum und der visuelle Kortex sind bei HSP stärker ausgeprägt. Auch die Verarbeitung von Eindrücken geschieht komplexer als im Gehirn eines normalsensiblen Menschen. Der Thalamus, der für die Reizfilterung zuständig ist, stuft bei hochsensiblen Personen zudem viel mehr Informationen als wichtig ein – und lässt sie ins Bewusstsein vor. Das bewirkt, dass sich hochsensible Menschen wie Victoria in stressigen oder reizüberfluteten Situationen schnell überfordert fühlen und sie auf regelmäßige Pausen im Alltag angewiesen sind. Hinzu kommt noch die emotionale Tiefe, die sie verspüren – sei es, was die eigenen Emotionen anbelangt, als auch die Stimmungen und Gefühle anderer. Ein Privileg. Und ein Fluch. So empfindet es Victoria manchmal. „Ich besitze eine hohe Auffassungsgabe und spüre manchmal Dinge, die andere nicht mal annähernd bemerken. Immer zu merken, wie es dem Gegenüber geht und so stark mitzufühlen, ist manchmal auch belastend.“ Trotzdem: Sie ist bei Weitem nicht die Einzige, der es so geht.

Rund jede:r Fünfte ist hochsensibel, neuere Studien vermuten sogar, dass bis zu 30 % der Bevölkerung davon betroffen sind.

Die große Minderheit

Rund jede:r Fünfte ist hochsensibel, neuere Studien vermuten sogar, dass bis zu 30 Prozent der Bevölkerung davon betroffen sind. Aber warum ist der Begriff nach wie vor vielen fremd? Für Brigitte Küster ist Hochsensibilität kein Zeitgeist-Phänomen der letzten Jahre. Küster ist Autorin, psychologische Beraterin, Expertin für Hochsensibilität und außerdem Gründerin und Leiterin des Institutes für Hochsensibilität. Hochsensibilität gab es schon immer, erzählt sie. Aber es verwundert nicht, dass sie in den letzten 20 Jahren eine doch recht große Resonanz erfährt. „Das hat mit dem Wandel der Gesellschaft zu tun, diese Schnelllebigkeit, die weltweite Vernetzung. Viele können da nicht mithalten.“

Küster spricht von drei Typen hochsensibler Menschen, wobei diese sich nicht klar voneinander abgrenzen lassen: Die wohl größte Gruppe ist jene der empathischen Hochsensiblen. Bei ihnen passiert ganz viel auf Beziehungsebene. Die kognitiven Hochsensiblen erkennen schnell Zusammenhänge und den „Fehler im System“. Bei den sensorischen Hochsensiblen sind die Sinne stark ausgeprägt. „Vielfach ist es eine Mischung“, erklärt die Expertin, „außerdem entwickelt man als Erwachsene:r Strategien, um sich zu schützen und beispielsweise die Sensorik etwas zu umgehen.“ Mit gutem Selbstmanagement könne man die eine oder andere Ausprägung etwas abmildern. Ungünstige Rahmenbedingungen können Bestimmtes hingegen auch verstärken, weiß Brigitte Küster: „Hochsensibilität ist keine festgefahrene Eigenschaft, sondern eine dynamische Veranlagung mit vielen Potenzialen und Möglichkeiten zur Veränderung.“ Hier haben äußere Faktoren einen großen Einfluss, zum Beispiel, ob man als Kind ein liebevolles und förderndes Umfeld antrifft oder nicht. Als Erwachsene:r habe es auch damit zu tun, ob man mit seiner Hochsensibilität im Reinen ist und auch die positiven Seiten schätzen lernt.

Expertin Brigitte Küster: „Hochsensibilität gab es schon immer.“

„Warum fühle ich so?“
Victoria Morandell kam im Rahmen eines Resilienz-Seminars vor sechs Jahren erstmals mit dem Begriff Hochsensibilität in Berührung. Der Referent, selbst hochsensibel, berichtete damals von seinen Erfahrungen. „Ich konnte mich sofort damit identifizieren, begann, mich einzulesen und machte einen Selbsttest. Meine Therapeutin bestätigte schließlich meine Annahme. Seitdem ich weiß, dass ich hochsensibel bin, ist ein enormer Leidensdruck weg.“ Seit Victoria zurückdenken kann, fühlt sie sich immer anders als andere, unter Gleichaltrigen nie besonders wohl und auch nirgends richtig zugehörig. Sie hatte ständig das Gefühl, zu viel zu sein und vor allem, dass sie anderen zu viel ist. Von ihrem Umfeld bekam sie Sätze zu hören, wie: „Du musst dich anpassen!“, „Das darfst du dir nicht so zu Herzen nehmen“, „Leg dir eine dickere Haut zu!“ oder „Du bist viel zu sensibel.“

„In ihren Augen war ich viel zu empfindlich und viel zu schnell beleidigt – dabei war ich einfach nur sensibel und oft verletzt, weil meine Gefühle nicht ernst genommen wurden.“

Die hochsensible Anita (Name von der Redaktion geändert) berichtet von ähnlichen Erfahrungen – sie bekommt vor allem von ihrer Mutter wenig Verständnis. „In ihren Augen war ich viel zu empfindlich und viel zu schnell beleidigt – dabei war ich einfach nur sensibel und oft verletzt, weil meine Gefühle nicht ernst genommen wurden.“ Das Gefühl, anderen zu viel und nicht in der Norm zu sein, brachte beide Frauen dazu, sich zurückzunehmen und abzuwerten. Brigitte Küster bezeichnet Millennials wie Victoria und Anita in einer „ungünstigen Zwischenposition“, die den Übergang von der noch wenig sensibilisierten und deshalb zu wenig verständnisvollen Eltern- in die Folgegeneration bildet. „Diese Generation muss sich die Sensibilisierung noch hart erarbeiten, die heutigen Kinder haben es irgendwann leichter.“

Hochsensible Kinder – hochsensible Erwachsene
Victoria und Anita sind sich einig: Wäre Hochsensibilität in ihrer Kindheit bereits ein Begriff gewesen und hätten Sie von ihrem Umfeld in Bezug dessen mehr Unterstützung bekommen, wären sie heute emotional vermutlich gefestigter. Denn Hochsensibilität ist eigentlich keine Schwäche, sondern in vielerlei Hinsicht eine Bereicherung. Anita berichtet davon, dass sie ihre hohe Emotionalität besonders für kreative Prozesse nutzen kann. Gleichzeitig merkt sie, wie emotionsgeladen sie ist, wenn sie mal nicht kreativ sein kann. „Ich bin dann extrem unausgeglichen. Ich merke das auch bei meinem Sohn, der vermutlich auch hochsensibel ist. Er benötigt ständig irgendwelche Stimuli, bei ihm sind es vor allem kognitive.“ Doch was brauchen hochsensible Kinder sonst noch? Und wie lässt sich das Persönlichkeitsmerkmal überhaupt erkennen? Grundsätzlich lasse sich Hochsensibilität erst ab etwa fünf, sechs Jahren feststellen, so Küster. Dafür gibt es eigene Fragebögen. „Eltern sollten ihre hochsensiblen Kinder in ihrer Gefühlslage ernst nehmen, beobachten und auf einen stimmigen Rhythmus achten. Diese Kinder haben meist vielseitige Interessen, trotzdem dürfen sie nicht überbeansprucht werden, sprich: lieber weniger außerschulische Aktivitäten, als zu viele.”

Hochsensible Menschen benötigen Auszeiten, um sich von den vielen Eindrücken zu erholen.

Den richtigen Rhythmus an An- und Entspannung sollten übrigens auch hochsensible Erwachsene finden – den Tag in Sequenzen einteilen oder sich für ein paar Minuten mehrmals über den Tag zurückziehen und sich auf sich selbst konzentrieren, empfiehlt die Psychologin. Diese Auszeiten benötige der Organismus von HSP, um sich von den vielen Eindrücken zu erholen. Ist der Organismus über einen längeren Zeitraum zu vielen Reizen ausgesetzt, kann das schädlich für ihn sein – und auch für den Geist. Im Alltag Pausen zu finden, scheint manchmal gar nicht so einfach zu sein. Aber Küster ist überzeugt: „Eine positive Einstellung ist alles. Irgendwo findet jede:r Drehschrauben zum Regulieren: In der Früh vielleicht zehn Minuten früher aufstehen, eine kurze Atemübung im Badezimmer und ganz wichtig: Gewohnheiten ablegen, die einem eigentlich gar nicht gut tun.“ Meditationen, kreatives oder musisches Schaffen können hierbei großartige Ventile sein.

Zwischen Pausen und der Suche nach dem Sinn
Situationen, die für die meisten Menschen ganz normal sind, sind für Victoria jedes Mal aufs Neue eine große Herausforderung: Das Arbeiten im Großraumbüro, Bus- oder Zugfahren, soziale Interaktionen. „Ich muss mir vorher immer gut überlegen, ob ich zum Beispiel zu einer Familienfeier oder auf ein Fest gehe. Ich brauche dann immer zwei Tage, um mich von sowas zu erholen.“ Auch Veränderungen sind für sie sehr schwierig, die Leichtigkeit fehlt häufig. Vor zwei Jahren rutscht die Kurtatscherin in ihren zweiten Burn Out und entscheidet sich daraufhin – um sich langfristig vor Überreizung und Stress zu schützen –, beruflich kürzer zu treten. „Ich habe immer wieder gemerkt, dass mein Körper immer sehr sensibel auf Stress reagiert: Schwindel, Kopfschmerzen, Verdauungsprobleme.“ Gepaart mit einigen negativen Erfahrungen aus der Kindheit und Jugend, begleiten Victoria eine Zeit lang auch Angststörungen. Heute arbeitet sie Teilzeit und nutzt ihre beiden freien Tage zur kreativen Entfaltung. Sie schreibt, malt, regeneriert und ist ganz bei sich. 

„Hochsensibilität ist immer eine Mischung aus Veranlagung und dem, was das Umfeld daraus macht.“

Neigen hochsensible Menschen eher zu psychischen Erkrankungen? Brigitte Küster sagt: „Ja, durch die erhöhte Vulnerabilität ist das so.“ Das hätte aber auch damit zu tun, wie ihre Bezugspersonen in der Kindheit mit der Charaktereigenschaft umgegangen sind. „Hochsensibilität ist immer eine Mischung aus Veranlagung und dem, was das Umfeld daraus macht“, betont Küster und unterstreicht, dass Hochsensible im Grunde auch sehr starke Personen seien – gerade in Anbetracht dessen, was sie emotional alles leisten. Trotzdem empfiehlt sie jeder HSP eine bewusste Auseinandersetzung: „Lesen Sie Bücher zum Thema, beobachten Sie sich selbst und lernen Sie sich kennen. Halten Sie Ihre Beobachtungen fest. Und ganz wichtig: Sprechen Sie mit einer Fachperson – das gibt Ihnen emotionale Ordnung und klärt wichtige Fragen.“

Auch Victoria und Anita haben klare Botschaften an andere Hochsensible: „Zweifelt nicht an euch – ihr seid nicht ‚zu viel’. Findet Wege für euch und sagt auch mal ‚Nein‘, wenn euch etwas nicht gut tut.” Und: „Hochsensibel sein bedeutet, intensiver zu leben – das ist im Grunde ein Geschenk. Macht was draus.“

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