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Seit kurzem ist der neue Roman „Ein Hund kam in die Küche“ von Sepp Mall im Handel verfügbar. Was das Endloslied mit dem neuen Buch des Südtiroler Schriftstellers zu tun hat und welche Parallelen sich zur NS-Euthanasie bei Kindern und der Option ergeben, verrät der Autor im Interview mit BARFUSS.
BARFUSS: Worum geht es in deinem neuen Buch?
Sepp Mall: Es ist eine Familiengeschichte mit historischem Hintergrund. Die zwei geschichtlichen Bezugspunkte sind dabei zum einen die Option und zum anderen die schreckliche Kinder-„Euthanasie“ im Nationalsozialismus. Das Geschichtliche rückt im Roman aber eher in den Hintergrund, da aus der Perspektive des elfjährigen Jungen Ludi aus Südtirol erzählt wird. Das Buch handelt davon, was Ludi in dieser Zeit erlebt und wie er historische Themen – wie die Option, also das Verlassen der Heimat, das Zurücklassen seines behinderten Bruders Hanno in einer Kinderfachabteilung in Nordtirol, das Neuankommen in Oberösterreich, der Tod/die Ermordung von Hanno und die Frage nach Heimat und Zuhause – wahrgenommen hat.
Das Schicksal der behinderten Kinder, die von den Nazis getötet wurden, hat mich sehr bewegt – ihr Verlassen-Sein, ihre Einsamkeit durch das plötzliche Losreißen aus ihrer Familie und der gewohnten Umgebung, das Ausgeliefert-Sein an grausame medizinische Versuche.
Warum greifst du das Thema gerade jetzt auf? Was war der Anlass für dein neues Buch?
Da gibt es zwei Gründe. Zum einen interessiert mich als Schriftsteller das Einwirken von Geschichte auf das Individuum. Es war und wird mir immer ein Anliegen sein, diesem Aspekt eine Stimme zu geben. Zum anderen bin ich aus reinem Zufall auf zwei Bücher gestoßen, die für die Entstehung der Geschichte wesentlich waren: Das Buch von Josef Feichtinger „Flucht zurück. Eine Auswandererkindheit“, in welchem er seine Erinnerungen an die Option niedergeschrieben hat und „Agnes, Ida, Max und die anderen“, eine Sammlung von Aufsätzen zur NS-Kinder-„Euthanasie“ in Südtirol. Beide Bücher haben mein Interesse geweckt, mehr zur Option und NS-„Euthanasie“ zu erfahren …. und irgendwann ist eine eigene Geschichte daraus entstanden. Das Schicksal der behinderten Kinder, die von den Nazis getötet wurden, hat mich sehr bewegt – ihr Verlassen-Sein, ihre Einsamkeit durch das plötzliche Losreißen aus ihrer Familie und der gewohnten Umgebung, das Ausgeliefert-Sein an grausame medizinische Versuche. Kurz gesagt, das Buch ist aus tiefem Mitleid für das Schicksal dieser Kinder entstanden.
Hast du einen persönlichen Bezug zur Option durch deine Familiengeschichte?
Kaum. Einer meiner Großväter hat, wie 70 % der Südtiroler und -innen, optiert, aber ist letztlich – wie so viele andere Bauern – nicht ausgewandert. Ich erinnere mich, dass es bei uns zu Hause noch lange Zeit diese Holzkoffer gab, die sich Optanten haben anfertigen lassen. Meine Familie hat diese Auswanderung aber hinausgezögert. Mit dem Einmarsch der Nazis 1943 war diese Entscheidung dann ohnehin hinfällig. Ein anderer, weiter entfernter Teil meiner Verwandtschaft ist im Zuge der Option tatsächlich ausgewandert. Erst in den letzten Jahren aber habe ich diese Schicksale verfolgt und darüber auch zu recherchieren begonnen.
Im Roman erzählst du aus der Perspektive des Kindes, warum?
Durch die Kind-Perspektive kann man vieles ganz anders und viel naiver erzählen. Ein Erzählen ohne Anhäufung von Fakten und historischem Wissen wird möglich und das verändert die Perspektive auf die Dinge. Eine Geschichte, die aus Kinderaugen erzählt wird, arbeitet viel stärker mit Emotionen, ist direkter und so werden die Erfahrungen spürbarer.
Es geht mir ja beim Schreiben nicht ausschließlich um den Inhalt, sondern vielfach auch um das ästhetische Spiel mit der Sprache.
Zum Beispiel?
Das Thema der Option und die politischen Entwicklungen und Entscheidungen dahinter sind sehr komplex. Würde man von einer erwachsenen Person aus dieses historische Ereignis beschreiben, müssten viele Punkte – wie Argumente für oder gegen die Option, also auch Streitereien im Dorf usw. – berücksichtigt werden, da diese die Person sicher betroffen hätten. Anhand von Ludis kindlicher Perspektive erfahren die Leserinnen und Leser nur das, was Ludi einmal zufällig bei einem Streit zwischen seinem Vater seinem Onkel mitgehört hat, nämlich, dass es sich beim Weggehen um eine Entscheidung für das „deutsche Blut“ handle. Das versteht Ludi aber natürlich mit seinen elf Jahren noch nicht, weshalb er im Buch dann seine ganz eigenen Zusammenhänge zum „deutschen Blut“ herstellt .
„Ein Hund kam in die Küche“: Was hat es mit dem Titel auf sich?
Der Titel kommt vom gleichnamigen Endloslied. Im Roman kommt es zu einem Schlüsselmoment, wo die Kinder einmal beobachten, wie ein Hund erschlagen wird. In diesem Titel stecken viele Bezüge zum Erzählten: Hanno, also der behinderte Bruder von Ludi, der wie der Hund getötet wird. Auch die Tatsache, dass der Hund im Lied immer wiederkehrt, da es sich um diesen Endlosreim handelt, und das Weiterleben von Hanno in der Phantasie von Ludi, stellt eine Parallele dar.
Es geht um das Abschiednehmen und das Finden von etwas Neuem.
Bevor die Geschichte beginnt, startet dein Buch mit dem Novalis Zitat: „Wo gehen wir denn hin? Immer nach Hause.“
Das Zitat hat für mich etwas mit der Heimatsuche und diese wiederum mit der Option zu tun. Es geht um das Abschiednehmen und das Finden von etwas Neuem. Die Mutter im Buch spricht immer wieder davon, nach Südtirol zurückzukehren, während Ludi im Buch lange Zeit sagt, dass es „egal sei, wo wir hingehen, weil wir immer bei uns sein werden“. Es geht also um die Frage, wo und was eine Heimat ist und sein kann. Ein weiterer Bezug zum Zitat findet sich im Tod von Hanno, weil das Sterben oft als Nach-Hause-Kommen bezeichnet wird. Das wird auch darin deutlich, dass die Mutter schlussendlich den Namen von Hanno, der ganz woanders begraben liegt, auf das Grabkreuz ihres Südtiroler Familiengrabes schreiben lässt. Man merkt: Ich spiele sehr gerne mit Motiven, die deutig sind und immer wiederkommen. Es geht mir ja beim Schreiben nicht ausschließlich um den Inhalt, sondern vielfach auch um das ästhetische Spiel mit der Sprache.
Ist es wichtig, heute noch Romane über die NS-Verbrechen zu schreiben?
Mein Schreiben ist nicht unbedingt geleitet von der Idee, dass das unablässig sei. Trotzdem bin ich der Überzeugung, dass das Nachdenken über NS-Verbrechen, genauso wie über andere Verbrechen der Menschheitsgeschichte, unglaublich wichtig und wertvoll ist. Zusammenhänge, Folgen und Ursprünge von Vergangenem müssen der jetzigen und den zukünftigen Generationen greifbar gemacht und aufgezeigt werden. Damit verbindet sich die Hoffnung, dass ähnliche Verbrechen in Zukunft verhindert werden können.
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