BARFUSS LogoDas Südtiroler Onlinemagazin
BARFUSS LogoSüdtiroler Onlinemagazin

Support Barfuss

Werde Unterstützer:in und fördere unabhängigen Journalismus

BARFUSS LogoDas Südtiroler Onlinemagazin
Veröffentlicht
am 04.03.2025
LebenStraßenzeitung zebra.

Die vergessene Diskriminierung

Veröffentlicht
am 04.03.2025
Wer schön ist, genießt viele Vorteile – im ganz normalen Alltag aber vor allem auch in der Berufswelt. Wer nicht diesem gesellschaftlichen Ideal entspricht, verdient weniger, bekommt höhere Strafen oder wird seltener gewählt. Die Straßenzeitung zebra. beschäftigt sich in dieser Ausgabe mit dem Phänomen des sogenannten beauty bias.
Damit BARFUSS weiterhin hinterfragen, aufklären, erzählen und berühren kann, brauchen wir DEINE Unterstützung!
Werde Teil unserer Community.
Teile unsere Story

Artikel anhören

elemento 01 – final

Das Gehirn ist unzuverlässig. Es verzerrt die Wahrnehmung, nimmt Abkürzungen, denkt irrational und zieht voreilige Schlüsse. Einer der zähesten Fehler unserer Denkmaschine ist dabei der sogenannte beauty bias, auch bekannt als Attraktivitätsbias oder Schönheitsprivileg. Er beschreibt die Tendenz, attraktive Personen positiver zu beurteilen als sie eigentlich sind, sowohl in Hinblick auf ihre Fähigkeiten als auch auf ihren Charakter. Sie werden als moralischer wahrgenommen, gelten als sozial umgänglicher, ihnen wird mehr Vertrauen und weniger Skepsis entgegengebracht, sie sind begehrter in der Dating-Welt und erfahren mehr Wohlwollen im Alltag. Dies gilt vor allem in Momenten der ersten Begegnung, wo dem Gehirn noch genauere Informationen über die Person fehlen und es deshalb anhand der ersten visuellen Eindrücke ein Gesamturteil zu fällen versucht. Ein kognitiver Kurzschluss also, der dazu führt, dass wir Mitmenschen nicht akkurat beurteilen.

Das klingt sehr oberflächlich, doch die Wurzel des Problems liegt tiefer, als man denkt. Der beauty bias ist eine intuitive Reaktion und betrifft daher jeden einzelnen Menschen, unabhängig von Alter, Geschlecht, Ethnie und Kultur. Es gibt zwar persönliche Geschmäcker und jedes Zeitalter hat seine eigenen Schönheitsstandards, doch bestimmte Aspekte – wie etwa Gesichtssymmetrie oder Jugendlichkeit – gelten universell als attraktiv und führen dazu, dass schönere Menschen allerorts und jederzeit privilegiert werden. Sogar Kleinkinder, die noch keine persönlichen oder kulturellen Vorlieben haben, bevorzugen bereits attraktive Gesichter. Das zeigt: Der beauty bias ist keine Laune der Kultur, sondern fest in unseren Genen verankert.

Jobsuche und Affenorakel
Die Folgen sind weitreichend: „Unattraktive“ Menschen werden in vielen Bereichen des Lebens diskriminiert, im privaten Umfeld sowie im gesellschaftlichen Zusammenleben, in der Wirtschaft und in der Politik. In seinem Buch „Beauty Pays“ zeigt der Ökonom Daniel Hamermesh, dass weniger schöne Menschen in der Arbeitswelt starke Benachteiligungen erfahren. Ihre Gehälter sind im Schnitt niedriger – Stichwort beauty pay gap – und ihre Chancen auf Anstellung sind trotz gleicher Kompetenzen kleiner. Gerade heute, wo weniger Menschen verborgen in Fabriken oder allein auf abgelegenen Feldern arbeiten und der Kontakt zur Kundschaft zentral wird, wächst auch die Bedeutung der Attraktivität in der Arbeitswelt. In einigen Ländern gab es sogar Fälle, wo Menschen wegen ihres Aussehens gekündigt wurden und deshalb vor Gericht geklagt haben – manchmal mit Erfolg, manchmal ohne. Einen rechtlichen Schutz vor solchen Kündigungen gibt es auch hier in Europa meist nicht, während andere Aspekte wie Alter, Religion oder Geschlecht strenger geregelt sind.

Auch in der Politik zahlt es sich aus, schön zu sein. In einer kuriosen Studie aus den USA wurden Affen dazu gebracht, Fotos von Kandidat:innen für Senats- und Gouverneurswahlen zu betrachten. Dabei verbrachten die Tiere mehr Zeit damit, die politischen Verlierer anzustarren – und diese Blickpräferenz sagte nicht nur den Wahlausgang voraus, sondern sogar die jeweiligen Stimmanteile. Die Forschenden fanden heraus, dass die Attraktivität der Gesichter dabei eine entscheidende Rolle spielte. Doch ticken wir Menschen in dieser Hinsicht ähnlich? Professor Sebastian Jäckle von der Universität Freiburg untersuchte den Effekt von Attraktivität auf das Wahlverhalten bei deutschen Bundestagswahlen. Dafür verteilte er Fotos an Testpersonen, die bewerten sollten, welche von zwei politischen Figuren attraktiver, sympathischer und kompetenter erschien.

Die Ergebnisse zeigten klar, dass die Attraktiveren bei der Wahl durchschnittlich 2,5 bis vier Prozentpunkte mehr Stimmen erhalten hatten – und zwar unabhängig von der politischen Einstellung der Testpersonen. Sympathie und wahrgenommene Kompetenz spielten hingegen keine oder nur eine geringere Rolle. In den USA fand Jäckle ähnliche Ergebnisse, allerdings war der Effekt der Attraktivität dort noch größer. Bei Spitzenpositionen sei die Wirkung aber schwächer, meint Jäckle. Über Scholz und Weidel wisse man schließlich mehr als über unbekannte Figuren und könne sich dadurch ein informierteres Bild machen – auch jenseits der (Un-)Attraktivität.

Trotzdem spielt das Aussehen auch bei wichtigen Wahlen eine Rolle, wie der Wahlkampf zwischen John F. Kennedy und Richard Nixon im Jahre 1960 zeigte. Der Republikaner Nixon kam damals beim Radiopublikum gut an, während der junge, charismatische und hübschere Kennedy in den Fernsehdebatten – die damals eine komplette Neuheit waren – punkten konnte. Das Medium bestimmt also auch, wie relevant das Erscheinungsbild bei einer Wahl ist. Und gerade in den heute dominanten sozialen Medien, wo Politikergesichter kurz, aber dafür tausendfach über den Bildschirm huschen, sind wir dem Attraktivitätsbias umso stärker ausgesetzt.

Paradoxon der „Hässlichkeit“
Wir leben in einer Ära der Schönheit. Das Schöne wurde zum ästhetischen Kapital. Es dominiert Werbung, Wirtschaft, Politik und Kultur: Unattraktive Menschen werden kaum repräsentiert und Ausnahmen wie der Film Gummo sind eben deshalb so auffällig, weil sie mit dem Schönheitsregime auf der Leinwand brechen. Das Internet ist da schon weiter. Auf TikTok thematisieren etwa zahlreiche Videos unter dem Hashtag #prettyprivilege die Vorteile attraktiver Menschen. Vor allem junge Frauen scheinen sich mit dem Thema heute vermehrt auseinanderzusetzen.

Doch ein politisches Bewusstsein für den beauty bias fehlt. Es gibt keinen „Aktivismus für Hässliche“, obwohl die Folgen des Vorurteils so viele betreffen. Das liegt wohl auch daran, dass sich niemand angesprochen fühlt und dass das H-Wort zum Tabu wurde: In der gängigen Moral soll niemand als hässlich bezeichnet werden und Unattraktivität wird damit zum verschwiegenen Merkmal. Doch wie die Zahlen zeigen, stehen Ideal und Realität hier im Widerspruch, denn die Ungleichheit bleibt bestehen und die Vorurteile halten sich hartnäckig. Anerkennung und Bewusstsein zu schaffen – wie es etwa bei Rassismus oder Sexismus bereits versucht wurde – wäre hier der erste Schritt.

Schönheit zahlt sich also aus. zebra. hat deshalb mit dem Wirtschaftspsychologen und Attraktivitätsforscher Martin Gründl über ein Privileg gesprochen, das die meisten Menschen auch heute noch nicht auf dem Schirm haben.

zebra.: Was genau versteht man unter beauty bias?
Martin Gründl: Der beauty bias ein neumodischer Begriff, genauso wie pretty privilege – das Privileg der Schönen. Das Phänomen ist aber schon lange bekannt, seit über 50 Jahren. Die erste systematische Untersuchung aus dem Jahr 1972 hat herausgefunden, dass attraktiven Menschen positivere Charaktereigenschaften zugeschrieben werden. Sie werden für freundlicher, zuverlässiger, intelligenter, geselliger und verträglicher gehalten. Umgekehrt werden unattraktiven Menschen entsprechend negativere Eigenschaften zugeschrieben. Seitdem gab es eine Fülle von Studien, die das Phänomen untersucht und bestätigt haben.

Man sagt: Schönheit liegt im Auge des Betrachters. Was halten Sie von dieser Redewendung?
Es gibt einen Konsens innerhalb der Attraktivitätsforschung, dass dieses Zitat so nicht stimmt. Es gibt Merkmale, die objektiv dazu führen, dass Gesichter als attraktiv bewertet werden – also eine Basis, von der man sagen kann: Das macht Schönheit aus. Bestimmte Präferenzen – etwa Jugendlichkeit, Gesundheit und geschlechtstypisches Aussehen – sind universell und angeboren. Das steckt in unseren Genen drin. Es ist in allen Kulturen und war zu allen Zeiten so. Ein Stückchen Wahrheit ist am Zitat aber dran, denn es findet nicht jeder genau das gleiche attraktiv. Ich würde sagen, circa die Hälfte ist zurückzuführen auf den shared taste – den geteilten Geschmack, wo sich die Leute einig sind – und die andere Hälfte auf den private taste, also auf den individuellen Geschmack. Wenn dieses Sprichwort richtig wäre, würde das bedeuten, dass wir keine gemeinsame Basis hätten, um Schönheit zu bewerten. Und wenn die Beurteilung komplett individuell wäre, dann könnte es auch keine Vor- und Nachteile geben.

Martin Gründl

Sie sind nicht nur Attraktivitätsforscher, sondern auch Wirtschaftspsychologe. Welche Effekte hat der beauty bias in der Arbeitswelt?
Man kann ihn zum Beispiel im Bewerbungskontext untersuchen. Bei Studien wurden Bewerbungsschreiben vereinheitlicht und mit unterschiedlich attraktiven Gesichtern als Antwort auf echte Stellenausschreibungen versendet. Hier kann man feststellen, dass attraktivere Bewerber häufiger zu Gesprächen eingeladen werden. Wenn sogar erfahrene Arbeitgeber darauf reinfallen, dann ist das natürlich noch interessanter und aussagekräftiger, als wenn man das nur im Labor-Setting untersucht. Natürlich spielen auch die anderen Infos im Bewerbungsschreiben eine entscheidende Rolle. Doch bei gleicher Qualifikation beobachtet man: je attraktiver das Gesicht, desto höher die Chancen bei der Bewerbung.

Hat das mit Geschlechterstereotypen zu tun und gibt es einen Unterschied zwischen Männern und Frauen im Bewerbungskontext?
Es gibt allgemein Unterschiede zwischen Männern und Frauen. Geschlechterstereotype übertreiben diese kleinen Unterschiede aber und tun so, als wären diese Unterschiede riesig und als würden sie für jedes Mitglied der Gruppe gelten. Dadurch entstehen bestimmte Erwartungshaltungen an das jeweilige Geschlecht: Wärme oder Hilfsbereitschaft werden zum Beispiel eher weiblich assoziiert, Härte und Durchsetzungsvermögen eher männlich. Mit zunehmender Attraktivität wachsen dann auch diese stereotypischen Erwartungshaltungen – allerdings nur indirekt und mit einem kleinen Effekt. Das hat mit dem sogenannten sexuellen Dimorphismus zu tun, der in der Attraktivitätsforschung ein wichtiges Kriterium ist: Eine Frau gilt als attraktiver, wenn sie typisch weiblich aussieht – ein Mann, wenn er typisch männlich aussieht. Dementsprechend erscheint uns ein attraktiverer Mann mit einem markanten Unterkiefer zum Beispiel als maskuliner und durchsetzungsfähiger. Eine sehr attraktive Frau hingegen weist mit größerer Wahrscheinlichkeit auch mehr typisch feminine Merkmale auf, so dass ihr auch eher typisch feminine Charaktereigenschaften zugeschrieben werden.

Im Bereich Gender Studies wird dann beispielsweise untersucht, ob hochattraktive Frauen deshalb als weniger geeignet für Managementpositionen wahrgenommen werden, wo man sich stark durchsetzen muss. Diese These gibt es also. Grundsätzlich würde ich aber sagen, dass die allgemeine Schönheit im Fokus steht. Das Geschlecht der beurteilenden Person spielt dabei kaum eine Rolle. Beim Attraktivitätsbias werden weniger die Geschlechter gegeneinander ausgespielt, sondern es gibt Ungleichheiten innerhalb eines Geschlechts: Attraktive Frauen haben einen Vorteil gegenüber unattraktiven Frauen, innerhalb der Gruppe der Männer gilt dasselbe analog. Das ist etwas, worüber man eher selten spricht und was aber in der Praxis ein viel stärkerer Effekt ist. Ein attraktives Gesicht ist immer positiv – egal ob Mann oder Frau. Da kann man nicht schön genug sein.

Was kann man tun, um dem beauty bias gesellschaftlich entgegenzuwirken?
Die Vorteile attraktiver Menschen – oder umgekehrt die Nachteile von Unattraktiveren – sind immer noch zu wenig bekannt. Im Vergleich zu anderen Faktoren, wie Geschlecht oder ethnische Gruppe, wird über Attraktivität zu wenig gesprochen. Es gibt ganze Lobbys, die darauf spezialisiert sind, für die Interessen von Frauen einzutreten, aber bei den Interessen von Hässlichen, da fühlt sich niemand angesprochen. Es sagt ja keiner von sich: Ich bin hässlich und werde diskriminiert. Unattraktivere Menschen sehen sich nicht als Teil einer Gruppe, die benachteiligt wird. Umgekehrt, zum Beispiel beim Geschlecht, ist das so: Frauen sagen eher, dass sie einer Opfergruppe angehören. Obwohl ich jetzt nicht sagen würde, dass sie in der mitteleuropäischen Kultur heute noch – ich formuliere es vorsichtig – gravierend benachteiligt werden. Kleine Unterschiede kann man sicherlich nachweisen. Doch ich würde sagen, dass das Aussehen da einen größeren Effekt hat. Ich bin jetzt aber nicht derjenige, der nach gesellschaftlichen Konsequenzen ruft. Ich finde es eher spannend, das Phänomen sauber zu untersuchen und zu beschreiben, was ist. Und das ist erstmal schwierig genug.

Professor Martin Gründl forscht seit 25 Jahren zum Thema Attraktivität. Er habilitierte im Fach Psychologie und untersucht Merkmale sowie Einflussfaktoren für die Attraktivität des Gesichts. Seit 2017 arbeitet er als Professor für Wirtschaftspsychologie an der Hochschule Harz in Deutschland.

Text undInterview: Matthias Fleischmann

Text und Interview erschienen erstmals in der Straßenzeitung zebra. (03.03.2025–01.04.2025 | 104)

Dienste

  • News
  • Wetter
  • Verkehrsbericht

BARFUSS


Support BARFUSS!
Werde Unterstützer:in und fördere unabhängigen Journalismus:
https://www.barfuss.it/support

© 2023 SuTi GmbH
© 2023 SuTi GmbH . Rennstallweg 8 . 39012 Meran . MwSt: 02797340219
DatenschutzNetiquetteCookiesImpressum