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Eisberge. Große, im Meer schwimmende Eismassen. Abgebrochene Stücke von Gletschern oder Eisschelfen, die frei auf offenen Gewässern treiben. Der größte Teil eines Eisbergs liegt unter Wasser und ist somit für Schiffsführende unsichtbar – sichtbar ist nur die sprichwörtliche „Spitze des Eisbergs“, von der wir in den letzten Wochen öfter gehört haben. Als solche „Spitze des Eisbergs“ betitelte Bischof Ivo Muser nämlich das Gutachten „Sexueller Missbrauch Minderjähriger und erwachsener Schutzbefohlener durch Kleriker im Bereich der Diözese Bozen-Brixen von 1964 bis 2023“, das in Südtirol – und darüber hinaus – große Wellen schlägt. Jetzt wird ordentlich mit dem Finger gezeigt, auf die katholische Kirche. Auf die Geistlichen. Auf das Zölibat. Fakt jedoch ist: Das Problem liegt nicht oberhalb der Wasseroberfläche. Denn sexualisierte Gewalt ist ein gesamtgesellschaftliches Problem – und geht damit uns alle an.
Und ein weiterer Fakt, den vermutlich niemand hören will: Es wird munter missbraucht auf unserer Welt, in unserem Europa, in unserem Staat, und ja: auch in unserer kleinen, idyllischen Bergregion. Und während aktuell alle die Kirche auf dem Kieker haben – was unbestritten und völlig zurecht ein Riesenskandal ist –, wird aber vielleicht auch gerade in unserem Nachbarhaus ein Junge von seinem Onkel angefasst, oder im Bus reibt sich gerade jemand vor den Augen der Mitfahrenden sein Genital. Die Tennislehrerin nähert sich einem ihrer Schüler unangemessen. Auf der Party im Gemeindesaal oder beim Feiern in der Dorfdisko vergewaltigt ein Jugendlicher gerade eine seiner Kolleginnen auf dem Klo.
Schweigen
Ich erzähle die Geschichte einer von ihnen, die Geschichte von Karoline. Karoline heißt nicht wirklich so, sie möchte anonym bleiben. Sehr viele Betroffene von sexualisierter Gewalt möchten ihren Namen nicht nennen – und das ist angesichts dessen, was ich im Zuge meiner Recherchen noch herausfinden werde, auch verständlich. Denn die Betroffenen schwimmen alle unter der Wasseroberfläche, die meisten von ihnen werden nicht gesehen oder wollen nicht gesehen werden, weil ihre eigene Scham und das Victim Blaming (Täter-Opfer-Umkehr) seitens der Gesellschaft zu groß sind.
Karoline wirkt sehr gefasst, ich merke, es ist nicht das erste Mal, dass sie von ihren Erfahrungen berichtet: Die ersten missbräuchlichen Übergriffe erfährt sie durch ihren eigenen Onkel, einen Sommer lang, damals war sie acht oder neun Jahre alt. „Ich wollte das, was mir da gerade passierte, unbedingt meinen Kusinen erzählen“, erzählt Karoline, „und ich erinnere mich noch, wie ich den Mund aufmachte, den Satz anfing, ihn aber dann anders beendete. In dem Moment dachte ich: Ich kann ihnen doch nicht sagen, was ihr Papa macht.“ Sie wusste, dass durch die Wahrheit „in der Familie eine Bombe hochgehen würde“ – also schwieg sie und blieb mit diesem traumatischen Erlebnis alleine. Erst 20 Jahre später vertraute sie sich einer Studienkollegin an, die dasselbe erlebt hatte. Erst dann begann Karoline sich mit dem Thema auseinanderzusetzen, es dauerte nochmal etliche Jahre, bis sie sich zu einer Therapie durchrang. „Ich habe mir lange Zeit eingeredet, dass es nicht so schlimm war und mein Leben trotzdem normal verlaufen würde. Doch es war wie eine Krankheit, die immer wieder auftauchte.“
Der Missbrauch sowie die gesellschaftlichen Anforderungen und Anweisungen an mich als Mädchen haben mich sehr geprägt.
Es ist nicht „nur“ der Missbrauch
Wellen kommen auf, brechen sich an dem Eis, um dann wieder zur stillen See zu werden. Karoline schweigt 20 Jahre lang. Jahre, in denen sie ständig am Sortieren ihrer Gefühle und Gedanken ist, sich Fragen stellt, wie: Warum haben alle anderen Beziehungen und ich nicht? Werde ich jemals jemandem vertrauen können? „Insgesamt hatte ich ein glückliches Aufwachsen, aber der Missbrauch sowie die gesellschaftlichen Anforderungen und Anweisungen an mich als Mädchen haben mich sehr geprägt.“ Als Mädchen müsse man aufpassen, sagte man ihr immer wieder. Und das tat Karoline auch. Sie dachte: „Wenn ich mehr aufpasse, dann passiert mir das nicht mehr.“ Also lebte Karoline vorsichtig, so vorsichtig, dass sie heute eine Traurigkeit in sich trägt, darüber, was sie alles verpasst hat.
Karolines Geschichte stimmt mich nachdenklich. Es ist nicht nur der Missbrauch. Es ist auch nicht nur das Schweigen. Oder nur die Scham. Es ist das, was eine einzelne Person zerstören kann, wenn sie sexualisierte Gewalt ausübt: die Freiheit, die Leichtigkeit, das selbstverständliche Sein eines Kindes, eines anderen Menschen – und das möglicherweise ein Leben lang. Und es ist das, was die Gesellschaft zulässt: dass solche Dinge überhaupt passieren. Tagein tagaus. Dass Übergriffe bagatellisiert, als „nicht so tragisch“ abgetan werden.
Die Missbrauchsfälle in der Südtiroler Kirche: Spiegel der Gesellschaft?
Johanna Brunner leitet seit 2017 das Amt für Ehe und Familie am Bischöflichen Ordinariat und kümmert sich um die Kinder-, Jugend- und Erwachsenenseelsorge. Beruflich engagiert sie sich unter anderem im Bereich der sexualisierten Gewalt. Sie kennt das Gutachten der Diözese Bozen-Brixen, das ein großes Feld aufrollt – was überaus wichtig sei, so Brunner. „Das Gutachten wurde gemacht, weil der Fachbeirat der Diözese es angeregt hat und der Bischof es selbst als wichtig empfand, sich mit der Thematik auseinanderzusetzen und sie aufzuarbeiten“, erklärt sie. Ein Auszug aus dem Gutachten unterstreicht die Wichtigkeit dieses Schrittes: „[…] soweit ersichtlich, ist dies im Bereich der Italienischen Bischofskonferenz das bislang einzige Projekt zur gänzlich unabhängigen Aufklärung und Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs […]“
Nun werden die nicht wiedergutzumachenden Jahre aufgearbeitet, die Fälle an den noch lebenden Betroffenen geprüft. Brunner findet es sehr positiv, dass die Diözese diesen Schritt gemacht hat, eine nachhaltige Kulturveränderung sei unumgänglich, sagt sie. Sie hofft jetzt, dass die Veröffentlichung des Gutachtens sowie die Aufarbeitung der Missbrauchsfälle ein Anstoß dafür ist, das Thema als das zu betrachten, was es ist: nämlich nicht nur als Problem der Kirche und des Zölibats, sondern auch als gesamtgesellschaftliches Problem.
Die Berichterstatter:innen des Gutachtens sehen in den Missbrauchsfällen innerhalb der Diözese jedenfalls keine bedauernswerte Einzelfälle: „Allein die schiere Menge der Taten wirft jedoch die Frage auf, welche systemischen Defizite für all diese Fälle sexuellen Missbrauchs verantwortlich waren und sind. Die zahlreichen bereits vorliegenden Gutachten, Studien und Berichte zeigen hier eindeutig erkannte und umfangreich beschriebene systemische Defizite auf“, heißt es im Bericht. Systemische Defizite – und das sollten wir an dieser Stelle nicht vergessen – weisen auch jene Missbrauchsfälle auf, die medial nicht ausgeschlachtet werden.
Je brüchiger die Lebenssituation, je vulnerabler eine Person gerade ist, desto höher ist die Gefahr, dass jemand anderes diese Situation ausnutzt.
Gefährliches Abhängigkeitsverhältnis
So wie Karolines Geschichte, die mit den sexuellen Übergriffen ihres Onkels noch nicht zu Ende ist. Als Jugendliche nahm sie an einem Jugendausflug außerhalb Südtirols teil, der von einer christlichen Bruderschaft organisiert wurde. „Es gab da diesen einen Bruder, der stark meine Nähe gesucht hat. Er hat wohl irgendwie gemerkt, dass ich eine schwierige Zeit durchmachte – jedenfalls hat er immer wieder das Gespräch mit mir gesucht, mir zugehört und ich hatte das Gefühl, endlich von jemandem gesehen zu werden.“ Karoline erhoffte sich im Austausch mit dem Geistlichen Antworten auf ihre Lebensfragen zu bekommen, die sie damals beschäftigten. Sie vertraute sich ihm an, er überredete sie zu heimlichen, abendlichen Treffen, doch die versprochenen Antworten blieben aus. Karoline konnte nicht wirklich einordnen, was damals passierte. In ihr: Verwirrung, Chaos. „Es hat eine Weile gedauert, bis ich begriffen habe: Es ging ihm nie darum, mir zu helfen.“ Erst, als der Bruder eines Abends körperliche Annäherungsversuche machte, gingen bei der Jugendlichen die Alarmglocken los. „Das Ganze war dann zum Glück zu Ende … Der Bruder ist aus seiner Gemeinschaft ausgetreten und ich habe ihn nie wieder gesehen.“
Seelsorgerin Johanna Brunner weiß: „Je brüchiger die Lebenssituation, je vulnerabler eine Person gerade ist, desto höher ist die Gefahr, dass jemand anderes diese Situation ausnutzt. Wir sind in solchen Lebensphasen darauf angewiesen, dass wir jemandem vertrauen können. Die Täter:innen nutzen diese Abhängigkeit zu ihren Gunsten und auf Kosten der Betroffenen aus.“
Aufgrund dieser Erfahrungen lebte Karoline viele Jahre in einer, so sagt sie, „emotionalen Dauerschleife. Es war sehr schwierig für mich, das alles aufzuarbeiten.“ Zehn Jahre später brachte sie den Vorfall bei der betreffenden Bruderschaft zur Sprache . Mit der Reaktion hatte sie nicht gerechnet: „Das war ganz klar missbräuchlich. Sie müssen das sofort melden“, sagte man ihr. Karoline weiß, dass sie großes Glück gehabt hatte: Erstens, weil nach dem körperlichen Übergriff nicht noch mehr passierte und zweitens, weil ihr sofort Glauben geschenkt wurde. Und das ist – obwohl es das sein sollte – nicht selbstverständlich.
Sexualisierte Gewalt und Missbrauchsfälle sind nur möglich, wenn das Umfeld wegschaut. Und genau das macht uns alle zu Mittäter:innen.
„Wir leben in einer täter:innenschützenden Gesellschaft“
So wie es nun die Missbrauchsfälle in der Kirche hierzulande tun, brachte vor Monaten auch der Fall von Gisèle Pelicot weltweit die Frage des gesellschaftlichen Umgangs mit sexualisierter Gewalt wie einen gewaltigen Stein ins Rollen. Auch meine Gedanken kreisen viel um das Thema. In meiner journalistischen wie auch meiner kreativen Arbeit beschäftige ich mich immer intensiver mit den Themen der körperlichen Selbstbestimmung, der sexualisierten Gewalt und der Auseinandersetzung bzw. Nicht-Auseinandersetzung der Gesellschaft. Ich hole Luft und tauche unter, um nachzusehen, wie tief der Eisberg in die dunkle Meerestiefe ragt. Die vielen Erfahrungsberichte in den Medien, auf Social Media und Co. prasseln auf mich ein – und ich merke, wie viele andere Menschen neben mir schwimmen, der Diskurs ist am Laufen wie vielleicht noch nie zuvor.
Vor einigen Monaten riefen einige Frauen auf Instagram und Facebook die Seite „Basta Südtirol“ ins Leben. Betroffene können hier in anonymisierter Form von ihren Erfahrungen bezüglich sexualisierter Gewalt berichten. Das Ziel der Seite: aufzuzeigen, dass es sexualisierte Gewalt auch in Südtirol zuhauf gibt, in einer so dörflich und christlich geprägten Region. „Die Ausgangsidee der Seite war eigentlich die, dass immer ,nur‘ die eklatanten Fälle mediale Aufmerksamkeit bekommen, es aber sehr viel unterschwellige sexualisierte Gewalt gibt“, erzählt Julia Cappelletto von „Basta Südtirol“. „Viele schreiben uns, dass sie zum ersten Mal über ihre Erfahrungen berichten und vielen Leserinnen ist erst durch unsere Postings bewusst geworden, dass sie Ähnliches erlebt haben.“
Jedes Mal, wenn neue Inhalte auf der Seite gepostet werden, bin ich erneut geschockt und traurig darüber, was Frauen und Mädchen über sich ergehen lassen müssen, bin erstaunt, wie oft es den Betroffenen häufig gar nicht bewusst ist, dass ein Verhalten grenzüberschreitend war. Und ich bin fassungslos, wenn ich lese, wie oft sie mit diesen Erfahrungen alleine gelassen werden. Weil das Umfeld wegschaut. Weil das Umfeld mehr die Schuld bei der Betroffenen sucht. Weil das Umfeld Täter:innen schützt. Über dieses Thema spreche ich mit Maria Reiterer. Sie ist Sozial-, Sexual- und Traumapädagogin und traumazentrierte Fachberaterin.
Reiterer arbeitet im Bereich der Gewaltprävention bei Forum Prävention, insbesondere der Prävention von sexualisierter Gewalt, und bestätigt mir: „Ich habe auch den Eindruck, dass wir in einer täterschützenden Gesellschaft leben, in der eher auf die Betroffenen und weniger auf die Täter:innen gezeigt wird. “ Das bedeutet konkret: Die Ursachen oder gar die Schuld wird bei der betroffenen Person gesucht: Vielleicht hat sie sich falsch verhalten? Hat sie sich „nicht passend“ gekleidet? „Es wird wenig nachgefragt, wer die Täter:innen überhaupt sind und was sie dazu veranlasst, so stark grenzüberschreitend bzw. übergriffig zu handeln“, so Reiterer. „Sexualisierte Gewalt und Missbrauchsfälle sind nur möglich, wenn das Umfeld wegschaut. Und genau das macht uns alle zu Mittäter:innen.“ Und wenn Täterpersonen noch dazu keine rechtlichen Konsequenzen erfahren oder sogar geschützt werden, begünstigt das sexualisierte Gewalt auf struktureller Ebene enorm.
Das Kennen des Täters bzw. der Täterin führt zu Druck und schürt – wie auch bei Karoline – die Furcht vor möglichen Konsequenzen. Das Problem: Missbrauch findet vor allem im nahen sozialen Umfeld (Quelle: https://beauftragte-missbrauch.de/themen/definition/wo-findet-missbrauch-statt) statt – und die Täter:innen handeln strategisch. Expert:innen wie Reiterer wissen: Diese Täter:innenstrategien funktionieren. Sie liegen darin, in ihrem eigenen Umfeld, aber auch in jenem der Betroffenen, Beziehungen und Vertrauen aufzubauen. „Die Täterpersonen machen sich zum Beispiel unentbehrlich, das sind oft die coolsten Kolleg:innen, die sehr hilfsbereit sind. Sie kreieren sich ein Umfeld, in dem sie sich gut geschützt fühlen, um ihre Tat umzusetzen.“ Deshalb ist es für Menschen oft unvorstellbar, dass so eine vertrauenswürdige Person zu einer solchen Tat überhaupt fähig ist. Aber wer sind diese Täter:innen überhaupt?
Die Gründe, warum Täter:innen missbrauchen, seien unterschiedlich. Ein wesentliches Motiv: Macht- und Gewaltausübung.
Laut der Website der Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, dem zentralen Portal der deutschen Bundesregierung zum Thema sexualisierte Gewalt gegen Kinder und Jugendliche, „stammen Täter:innen aus allen sozialen Schichten, leben hetero- oder homosexuell und unterscheiden sich durch kein äußeres Merkmal von nicht missbrauchenden Männern oder Frauen. Sexueller Missbrauch wird in etwa 90 Prozent der Fälle durch Männer oder männliche Jugendliche ausgeübt, zu etwa zehn Prozent durch Frauen und weibliche Jugendliche.“ Sowohl Täter als auch Täterinnen üben also sexualisierte Gewalt aus. Es ist davon auszugehen, dass sexueller Missbrauch durch Frauen seltener entdeckt wird, weil ihnen solche Taten weniger zugetraut werden, so der Wortlaut. Die Gründe, warum Täter:innen missbrauchen, seien unterschiedlich. Ein wesentliches Motiv: Macht- und Gewaltausübung. Im Falle von sexualisierter Gewalt bei Kindern komme bei einigen Tätern und wenigen Täterinnen eine sexuelle Fixierung auf Kinder hinzu (Pädosexualität). Die verbreitete Annahme, dass alle Menschen, die Kinder oder Jugendliche sexuell missbrauchen, psychisch krank sind, sei falsch und kann zu einer ungerechtfertigten Verantwortungsabnahme für die verübte Gewalt führen. (Quelle: https://beauftragte-missbrauch.de/themen/definition/wer-sind-die-taeter-und-taeterinnen)
Sexualisierte Gewalt umfasst drei Formen, so Reiterer: „Erstens gibt es sexuelle Grenzverletzungen, die meist aus Unabsichtlichkeit, Unwissenheit oder Überforderung entstehen. Werden die Personen, die diese Grenzen verletzt haben, darauf hingewiesen, entschuldigen sie sich in der Regel und passen ihr Verhalten an, um die Grenzen anderer künftig zu respektieren. Das ist der große Unterschied zu sexuellen Übergriffen.“ Bei letzteren handelt es sich um bewusst geplante, durchgeführte Handlungen, bei denen die Täterpersonen ihre Macht-, Autoritäts- oder Vertrauensposition ausnutzen. Die dritte Form ist die strafrechtlich relevante Form, die das Gesetz definiert, wenn Übergriffe passieren.
„Wenn es sich komisch anfühlt …“
Es vergeht viel Zeit. Zeit, in der Betroffene still und leise leiden, mit Selbstvorwürfen und der Schuldfrage hadern. Fast 30 Jahre nach dem sexuellen Missbrauch durch ihren Onkel, kurz bevor sie ihre erste Therapie beginnt, spricht Karoline mit ihren Eltern darüber, was geschehen ist. „Sie fühlen sich damit bis heute überfordert. Aber ich kann das gut so stehen lassen“, erzählt mir Karoline. „In mir steckt noch ganz viel vom Kind von damals, das nicht will, dass es den Eltern schlecht geht. Je erwachsener ich wurde, desto mehr habe ich gemerkt: Es ist völlig ok, wenn ich mir meine Unterstützung andernorts hole.“ Ich merke, wie reflektiert meine Gesprächspartnerin nach all diesen Jahren ist … und kann mir wohl nur im Ansatz vorstellen, wie viel Energie sie diese Aufarbeitung gekostet haben mag. Was sie Betroffenen aufgrund ihrer eigenen Erfahrungen heute gerne sagen möchte, frage ich sie. „Wichtig ist, aufs eigene Tempo zu schauen, was in diesem Moment gerade für einen selbst möglich ist. Aber ich möchte sie auf jeden Fall zum Sprechen ermutigen, sich an Menschen zu wenden, die ihnen Glauben schenken – das müssen nicht immer Fachpersonen sein. Und: den eigenen Gefühlen vertrauen. Wenn es sich komisch anfühlt, dann ist etwas nicht in Ordnung.“
Sexuelle Bildung ist ein wichtiger Schutzfaktor.
Gute Geheimnisse, schlechte Geheimnisse
Maria Reiterer setzt in ihrer Präventionsarbeit vor allem auf Bildungsarbeit und Wissensvermittlung, in Form von Vorträgen und Workshops für Kinder, Jugendlichen, sowie Eltern und pädagogische Fachkräfte von der Kita bis hin zur Oberschule, aber auch Fachpersonen aus diversen sozialen Einrichtungen sowie Unternehmen und Vereinen, die sich mit dem Thema Prävention von sexualisierter Gewalt, sexueller Belästigung aktiv auseinandersetzen möchten. Außerdem begleitet sie Einrichtungen und deren Fachkräfte, Kinder und Eltern, die sich auf den Weg machen, Gewaltschutzkonzepte auszuarbeiten. „Es ist wichtig, eine Kultur der Achtsamkeit zu entwickeln, das heißt zum Beispiel, auch alltägliche Grenzverletzungen zu erkennen und zu stoppen.“
In Südtirol gibt es sehr viele engagierte Menschen, die das Thema vorantreiben, ist Maria Reiterer überzeugt. Das Wichtigste sei die Förderung und Umsetzung von sexueller Bildung – und das von der Kita bis ins Altersheim. „Sexuelle Bildung ist ein wichtiger Schutzfaktor.“ Zwar sei diese so wie auch die emotionale Bildung in Südtirols Schulen Teil des Bildungsplanes, allerdings entscheidet jede Schule selbst, wie viel und was sie diesbezüglich umsetzen. Die meisten holen sich Sexualpädagog:innen in den Unterricht, aber es fehlt die systematische Abdeckung. Und auch was das Ehrenamt anbelangt, gibt es im Bereich Prävention von sexualisierter Gewalt noch Luft nach oben, sagt die Sexualpädagogin. „Viele Vereine, in denen zum Teil patriarchale Strukturen vorherrschen, machen sich schon auf den Weg.“
Ein Kind, dessen Grenzen von klein auf akzeptiert und geachtet wurden, wird ein Erwachsener, der die Grenzen anderer leichter respektiert und wahrnimmt.
Und wie können wir als Einzelne, als Teil der Gesellschaft präventiv mitwirken? „Im Kleinen anfangen. Auf sexistische Witze aufmerksam machen, sich in einer Gruppe mit Gleichgesinnten solidarisieren. Dinge ansprechen, reflektieren.“ Zu Hause sollte eine Vorbildfunktion gelebt werden, und die persönlichen Grenzen des Kindes sollten akzeptiert werden. Denn ein Kind, dessen Grenzen von klein auf akzeptiert und geachtet wurden, wird ein Erwachsener, der die Grenzen anderer leichter respektiert und wahrnimmt – im Gegensatz zu jemandem, dessen Grenzen nicht akzeptiert wurden. Den Kindern beibringen, was gegenseitiger Konsens bedeutet und ihnen den Unterschied zwischen guten und schlechten Geheimnissen, sowie angenehmen und unangenehmen Gefühlen und Berührungen vermitteln, damit sie sich ihren Eltern bestenfalls anvertrauen, falls ihnen etwas zugestoßen ist. Und natürlich: Rollenbilder aufbrechen. „Wir Erwachsene müssen aufmerksam und sensibel sein, die Kinder und Jugendlichen schaffen das nicht von alleine. Und wir brauchen eine Kultur des Hinschauens und Eingreifens, sprich: Zivilcourage.“
Was hätte Karoline damals gebraucht? Ein starkes System. Mehr Bewusstsein für die Thematik und eine Gesellschaft, die Kindern mehr vertraut. „Ich dachte immer, ich hätte alles falsch gespürt“, sagt sie und für einen Moment spüre ich ihre kindliche Hilflosigkeit von damals. „Ich wünsche mir von Menschen, die so etwas nicht erlebt haben, dass sie verstehen und dazulernen wollen.“
Wenn ich an meine eigene Lebensgeschichte denke, dann bin ich froh, dass es sich auf die wenigen Vorfälle beschränkt hat, die mir passiert sind. Auf den Kerl in der Disco, der mir beim Vorbeigehen vorne zwischen die Beine gegriffen und mich dann noch beschimpft hat, als ich ihm auf sein Grabschen hin in den Hintern gestoßen habe. Oder auf die vielen anderen Typen, die mir ungefragt auf den Hintern oder den Busen gegriffen haben. Oder auf den Ehemann einer Bekannten, der aus Versehen ins Badezimmer gekommen ist, als ich – natürlich nackt – unter der Dusche stand und der dann nicht sofort wieder hinausgegangen ist. Der dann anschließend mit mir am selben Tisch gegessen hat. Da war ich 12 oder 13. Und auf den schon sehr reifen Mann, der immer am Tresen der Bar stand, in der meine Mama gearbeitet hat. Der anzügliche Bemerkungen gemacht und mir dann auf dem Handy sogar geschrieben und mich angerufen hat. Mir geschmeichelt hat. Und ich habe nicht mal gemerkt, was da passiert, ich, mit meinen naiven 15 oder 16 Jahren. Ich frage mich, wie viele Situationen es im Leben einer Frau gibt, in denen sie die Grenzüberschreitungen selbst nicht mal erkennt.
Südtirol: Auf einem guten Weg?
Aktuell laufen zwei wichtige Studien: zum einen die Studie „Sexualisierte Gewalt in Südtirol“ unter Berücksichtigung der drei Sprachgruppen unter der Leitung des Center Interdisziplinäre Geschlechterforschung CGI der Uni Innsbruck , zum anderen „traces“, eine feministisch-partizipative Aktionsforschung zu den Langzeitfolgen sexualisierter Gewalt gegen Frauen und Mädchen in Südtirol. Derzeit wird die Datenerhebung zur transgenerationalen Weitergabe dieser Langzeitfolgen im Vinschgau ausgewertet. „Es ist wichtig, die Prävention von sexualisierter Gewalt nachhaltig zu denken und langfristig anzulegen. Wir sind aktuell dabei, hier ein ganzheitliches Präventionskonzept auszuarbeiten”, erklärt dazu Christa Ladurner, Soziologin im Forum Prävention. (Quelle: https://www.forum-p.it/de/forschung-traces–1-4307.html) Solche Forschungen sind wichtige Schritte – aber es braucht fortwährende Gewaltschutzkonzepte und die Ausbildung von Fachpersonal sollte sexuelle Bildung als Kernthema beinhalten, so Maria Reiterer. Was in Südtirol außerdem noch fehlt, seien konkrete Unterstützungsmaßnahmen für männliche Betroffene sowie die Arbeit mit Täter:innen. Und es bräuchte eine traumasensible, psychosoziale Begleitung für Betroffene im Zuge einer möglichen Gerichtsverhandlung – eine solche zu gewährleisten wäre eine konkrete Aufgabe der Politik, ist die Expertin überzeugt und betont: „Nur so kann einer möglichen Traumatisierung wirksam entgegengewirkt werden.“
Passiert auf politischer Ebene bereits etwas? 2022 brachte das Team K im Südtiroler Landtag einen Beschlussantrag ein, bei dem die Frage aufgeworfen wurde: Welche Verantwortung tragen Gesellschaft und Politik? Daraufhin entstanden zwei Arbeitsgruppen – nun ist ein Gesetzesvorschlag ausgearbeitet. Dieser sieht vor, dass beim Südtiroler Landtag eine Ombudsstelle mit einem/einer unabhängigen Beauftragten eingerichtet wird, bei der Betroffene Information und Unterstützung erhalten sowie die gesellschaftliche Sensibilisierung vorangebracht werden soll. Weiters soll es eine unabhängige Kommission geben, die die Aufarbeitung stärkt und Fälle von sexualisierter Gewalt erhebt und zusammenfasst. Als dritte Maßnahme ist ein Betroffenenrat vorgesehen. „Der Gesetzestext ist ausgearbeitet und ich finde, es ist ein sehr guter Text,“ so Brunner, „jetzt muss das Gesetz noch die politischen Hürden nehmen.“ Sie hofft, dass es daran nicht scheitern wird und es nicht mehr lange dauert, bis diese Ombudsstelle aktiv ist und Betroffene bessere Hilfen finden. Und noch wichtiger: „Dass wir als Gesellschaft handlungsfähig werden und wir nicht länger in einem Nebel zwischen Ohnmacht und Verdrängung stecken bleiben.“
Ein Nebel zwischen Ohnmacht und Verdrängung. Ist es dieser Nebel, der uns als Gesellschaft daran hindert, uns diesem „Eisberg“ sexualisierter Gewalt zu stellen? Aber irgendwann bäumt er sich doch vor uns auf. In Form von den Medien ausgeschlachteten Vergewaltigungen und Missbrauchsfällen. Die gigantische Spitze, die uns erschreckt, mal kurz aufweckt, uns dann aber wieder zurückrudern lässt. „Es braucht mehr Wissensvermittlung, eine Haltung, die anerkennt, dass sexualisierte Gewalt auch im engen sozialen Umfeld vorkommen kann, und vor allem ein stärkeres Bewusstsein dafür. Nur wenn sich alle damit auseinandersetzen, können Phänomene sexualisierter Gewalt erkannt und gestoppt werden – und nur dann kann sich wirklich etwas verändern“, so Maria Reiterer, weiß aber: „Ein kultureller Wandel findet nicht von heute auf morgen statt.“ Auch Johanna Brunner ist überzeugt, dass das Thema immer und unbedingt Präsenz in der Gesellschaft braucht: „Es ist Aufgabe von uns Mitmenschen, Betroffenen Glauben zu schenken und da zu sein.“ Und sie zitiert Kerstin Claus, die deutsche Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, die sagt, dass das Thema alle angehen muss, damit es aufhört. „Wir müssen in diesem Sinne“, so Brunner, „alle zu Betroffenen werden.“
Eisberge. Große, im Meer schwimmende Eismassen, deren größter Teil unter Wasser liegt. Der in horizontaler Richtung ausgedehnt sein kann, was zu Fehleinschätzungen von Schiffsführenden führen kann. Weshalb Schiffe einen deutlichen Sicherheitsabstand einhalten müssen. So wie es unsere Gesellschaft bisher in Bezug auf sexualisierte Gewalt getan hat und noch immer tut. Ein kurzer Aufschrei, ein Kirchenskandal ist zu wenig. Es ist Zeit, sich dem Eisberg anzunähern und sich mit ihm in all seiner Größe zu beschäftigen. Denn im Gegensatz zur Titanic, werden wir als Gesellschaft nicht daran untergehen, sondern helfen Betroffenen bestenfalls nicht zu ertrinken.
ANLAUFSTELLEN:
– Notruf 112
– Young & Direct: 0471 1551551 / WhatsApp: 345 0817 056 / Website: https://www.young-direct.it/de/ / E-Mail: online@young-direct.it
– Forum Prävention: 0471 324 801 / Website: https://www.forum-p.it/de
– „Zimmer für sich allein“ / in den Carabinieri-Stationen in Meran und Bruneck. Opfer von Misshandlung, Stalking, Aggression und Vergewaltigung können in einem geschützten Rahmen leichter über die erlittene Qual sprechen: http://bit.ly/2RlZRJo
– Kinder- und Jugendanwaltschaft: 0471 946050 / Website: https://www.kinder-jugendanwaltschaft-bz.org/ / E-Mail: info@kinder-jugendanwaltschaft-bz.org
– Frauenhäuser in Bozen, Meran, Brixen und Bruneck: http://www.casadelledonnebz.it/146d195.html / Bozen: Haus der geschützten Wohnungen: 800 892 828 Frauenhaus und Beratungsstelle: 800 276 433 / Meran: Frauenhaus und Beratungsstelle: 800 014 008 / Brixen: Frauenhaus und Beratungsstelle: 800 601 330 / Bruneck: Geschützte Wohnungen und Beratungsstelle: 800 310 303
– Landesweite Notrufnummer bei Gewalt und Stalking: 1522 / Website: https://www.1522.eu/#
– „Frauen helfen Frauen“ Website: www.frauenhelfenfrauen.it / Bozen: Tel.: 0471 973 399 / Meran: Tel.: 0473 211 611 / Bruneck: Tel.: 0474 410 303
– Beratungsstelle für Frauen in Gewaltsituationen – Frauenhaus Verein „GEA“: 0471 513399 / Grüne Nummer: 800 276433 / Website: http://www.casadelledonnebz.it / E-Mail: mailto:frau.gea@virgilio.it
– Geschützte Wohnungen – Verein „Haus der geschützten Wohnungen des KFS“: 0471 970350 Grüne Nummer: 800 892828 / Website: http://www.hdgw.it / E-Mail: info@hdgw.it
– BrixenBeratungsstelle für Frauen in Gewaltsituationen – Frauenhaus der Bezirksgemeinschaft Eisacktal: 0472 820587 / Grüne Nummer: 800 601330 / Website: http://www.bzgeisacktal.it / E-Mail: frauen.bzgeisacktal@gvcc.net
– Bruneck Beratungsstelle für Frauen in Gewaltsituationen – Geschützte Wohnungen der Bezirksgemeinschaft Pustertal: 0474 410252 / Grüne Nummer: 800 310303 / Website: http://www.bezirksgemeinschaftpustertal.it / E-Mail: frauenhausdienst@bzgpust.it
– Meran Beratungsstelle für Frauen in Gewaltsituationen – Frauenhaus
Verein „DONNE CONTRO LA VIOLENZA – FRAUEN GEGEN GEWALT – ONLUS“: 0473 222335 / Grüne Nummer: 800 014008 / Website: https://www.frauengegengewalt.org/de / E-Mail: info@donnecontrolaviolenza.org
– Il Germoglio – Der Sonnenschein (La Strada – Der Weg): 0471 061400 / E-Mail: germoglio@lastrada-derweg.org
Anlaufstellen speziell für Männer in Gewaltsituationen oder für Männer, die zu Gewalt neigen:
– Landesweite Notrufnummer bei Gewalt und Stalking: 1522 / Website: https://www.1522.eu/#
– Caritas Männerberatung: 0471 324 649 / Website: http://bit.ly/2rsdv35 / E-Mail: mb@caritas.bz.it / „Von Mann zu Mann“: Beratung und Begleitung für Männer in schwierigen Lebenssituationen und Anti-Gewalt-Training für Männer
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