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Die Interpretationen des Korea-Kriegs haben sich im Verlauf der vergangenen 70 Jahre immer wieder gewandelt. Heute lassen sich nicht nur die Ereignisse von damals besser verstehen – rückblickend bieten sich weit über den Konflikt hinausreichend vertiefte Einsichten in Entstehung, Entwicklung und Eigendynamik von Kriegen im Allgemeinen.
So zeigt das Beispiel des Korea-Kriegs, wie verschiedene Seiten aus ihrer Sicht rational und vermeintlich alternativlos handeln und dabei gemeinsam und weitgehend ohne Absicht einen regionalen Konflikt im Kontext geopolitischer Spannungen eskalieren können. Auch wenn die Katastrophe von niemandem so gewollt war, fehlte doch auf allen Seiten die Vorstellungskraft, die drohende Apokalypse des Krieges zu erkennen. Damit ließen alle Beteiligten letztlich den unbedingten Willen, einen Krieg zu verhindern, vermissen, und nahmen seine Ausweitung billigend in Kauf.
Teil 1
Die Kriegsverantwortung
Wer ist schuld am Ausbruch des Korea-Kriegs?
Im Nachhinein behaupten Konfliktparteien meist, dass sie den Krieg gar nicht wollten. Wer ist also dafür verantwortlich? Die Antwort darauf hängt nicht nur von Fakten, sondern auch von der Weltanschauung ab. Das Beispiel des Korea-Kriegs zeigt eindrucksvoll, wie sich auch die Geschichtsschreibung des Korea-Kriegs in den vergangenen 70 Jahren immer wieder gewandelt hat. Denn abseits einiger rudimentärer Fakten konnten sich die Historikerinnen und Historiker der westlichen Welt lange Zeit nicht auf eine übereinstimmende Sichtweise einigen. Erste Darstellungen, insbesondere aus den USA, waren tendenziell antikommunistisch und standen noch dem Rechtfertigungsdiskurs Washingtons nahe. Ihre Sichtweise wird als Traditionalismus bezeichnet.
Seit den 1960er-Jahren wurde die Rolle der USA zunehmend kritisch gesehen, während die bis dahin relativ unerforschten Motive der UdSSR und Chinas in den Fokus rückten. Diese Interpretation wird als Revisionismus bezeichnet, weil sie eine Revision der bisherigen Darstellung bedeutete. Beide Wahrnehmungen waren ideologisch beeinflusst und sind im Kontext des Kalten Krieges zu begreifen.
Im Zuge der Entspannung zwischen den Weltmächten ab Mitte der 1980er-Jahre etablierte sich mit dem Postrevisionismus eine dritte Sichtweise, die beide Schulen kritisch analysierte, aber eher dem Revisionismus zugewandt blieb. Mit neuen Quellen aus chinesischen und russischen Archiven erhielt die Forschung nach dem Ende des Kalten Krieges einen weiteren Impuls, und die Beschäftigung mit dem Korea-Krieg hat auch in den 2000er-Jahren angehalten und zu weiteren quellenbasierten Modifikationen geführt. Mit den voranschreitenden Historiker-Debatten weitete sich auch der analytische Ansatz der Forschung, so dass mit der Zeit immer neue Aspekte des Krieges und seiner Folgen in den Fokus rückten.
Die Fakten: Welche Erkenntnisse gelten als gesichert?
Am 25. Juni 1950 begann in Korea der erste große Stellvertreterkampf des Kalten Krieges. Nordkoreanische Truppen drangen nach Süden vor, die USA griffen mit UN-Mandat auf Seiten der südkoreanischen Regierung ein, worauf China Truppen nach Korea entsandte, während die UdSSR vor allem Waffen lieferte. Die USA warfen auf Nordkorea mehr Bomben als auf Japan im Zweiten Weltkrieg, und wäre es nach ihrem General Douglas MacArthur gegangen, dann hätten Atombomben den militärischen Sieg gebracht. Doch Präsident Harry S. Truman setzte auf das Konzept des begrenzten Krieges und entließ den General. Trotzdem forderte der dreijährige Konflikt nach wechselseitigen militärischen Offensiven rund viereinhalb Millionen Tote, von denen mehr als die Hälfte Zivilisten waren.
1953 wurde die Grenze wie vor Beginn der Auseinandersetzungen wieder am 38. Breitengrad festgelegt. 70 Jahre später sind die Fronten noch immer dieselben. Doch wer trägt die Verantwortung für das millionenfache Sterben und die Zerstörung vor allem nordkoreanischer Städte? Die Antworten darauf hängen mit der Geschichtsschreibung und den unterschiedlichen Narrativen des Kalten Krieges wie Traditionalismus, Revisionismus und Postrevisionismus zusammen.
Verschiedene Autoren[1] der unterschiedlichen Schulen konnten sich über die Jahre nur auf wenige Kernbereiche einigen. Allgemein anerkannt war, dass der Krieg am 25. Juni 1950 durch nordkoreanische Truppen in Gang gesetzt worden war, dass die USA mit UN-Mandat interveniert hatten, dass China inoffiziell auf Seiten Nordkoreas in den Krieg eingetreten war und dass die Sowjetunion vor allem Lieferant von neuester Waffentechnologie war. Fakt war auch, dass die Fronten nach wechselseitigen Offensiven wieder entlang des 38. Breitengrads zum Stillstand gekommen waren, dass sich die Waffenstillstandsverhandlungen zwei Jahre in die Länge gezogen hatten und dass kein Friedensvertrag zustande gekommen war.
Das klingt lapidar, doch angesichts von ideologisch eingefärbten Interpretationen darüber, wer für den Korea-Krieg verantwortlich war – was meist bedeutete, gleichzeitig die Verantwortung für den Kalten Krieg insgesamt zu diskutieren[2] –, stellte dies den kleinsten gemeinsamen Nenner dar. Auf die Opferzahlen konnte man sich hingegen lange nicht einigen, hier gibt es erst in der jüngsten Forschung einen Konsens. Doch ob Nordkorea angesichts der Grenzüberschreitung vom 25. Juni 1950 gleichzeitig auch die Verantwortung für den Kriegsausbruch oder gar für die folgenden Kriegsereignisse trüge, wurde von Traditionalisten und Revisionisten diametral entgegengesetzt beantwortet.
Angesichts der ideologischen Gegensätze des Kalten Kriegs wurde auch in den Analysen der westlichen Geschichtsschreibung der deskriptive Bereich von normativen Überlegungen beeinflusst. Deshalb wird hier nochmals in gekürzter Form auf eine nützliche Chronologie zurückgegriffen, die der Postrevisionist Max Hastings1987 für seine Darstellung des Korea-Krieges erstellt hat:[3]
Die Chronologie: Wichtige Kriegsereignisse in zeitlicher Abfolge
Die Interpretation: die Narrative Traditionalismus, Revisionismus und Postrevisionismus
Die jüngere Geschichtsschreibung des Korea-Krieges zeigt, wie die Geschichtsforschung in der Interpretation der Ereignisse insbesondere hinsichtlich der Verantwortungsfrage in den Kontext des Kalten Krieges eingebettet war und sich mit den gesellschaftlichen Entwicklungen und mit der größeren zeitlichen Distanz veränderte.
Während in den 1950er-Jahren im Kontext des McCarthyismus in den USA und Westeuropa eine antikommunistische Interpretation dominierte, der zufolge die Hauptverantwortung für den Krieg in Moskau und eine Nebenverantwortung in Beijing lagen, während die Rolle USA positiv interpretiert wurde, veränderte sich diese Sichtweise in den 1960er-Jahren und verkehrte sich nahezu ins Gegenteil. Mit zeitlicher Distanz rückten die Absichten der Herrschenden in Nord- und Südkorea stärker in den Blickpunkt, und unter dem Eindruck neuer Archivquellen wird der Korea-Krieg nun seit den 1980er-Jahren vor allem als Bürgerkrieg interpretiert, der zum Stellvertreterkampf ausartete.
Die erste quellenbasierte Interpretation wird in der Geschichtswissenschaft als Traditionalismus oder traditionelles Narrativ bezeichnet. Sie weist nicht selten eine hohe argumentative Übereinstimmung mit den Handelnden einer Seite auf.[4] Mit zeitlicher Distanz und nicht selten unter dem Eindruck veränderter gesellschaftlicher und ideologischer Verhältnisse beschäftigt sich dann meist eine jüngere Historikergeneration mit der Thematik. Gelangt diese quellengestützt zu einer anderen Interpretation, so wird dieselbe als Revisionismus oder revisionistisches Narrativ bezeichnet.
Zu guter Letzt ergibt sich nach dem Ablauf der Archivsperren meist eine weitere Möglichkeit, die bisherigen, auf dem jeweils zugänglichen Quellenmaterial beruhenden Analysen und Interpretationen der Historikerinnen und Historiker durch neue Quellen zu erweitern. Bestätigt diese Forschung eher den Revisionismus (wie im Fall des Korea-Kriegs), spricht man von Postrevisionismus oder postrevisionistischem Narrativ. Möglich wäre auch ein Posttraditionalismus. Mit dieser wissenschaftlichen Vorgehensweise kann auch die Geschichtsforschung zu einer neuen, vertieften und differenzierten Geschichtsschreibung werden.
Der Begriff des Revisionismus, wie ihn z. B. Wilfried Loth für den Korea-Krieg verwendet[5] und wie er hier übernommen wird, ist in der Geschichtsschreibung des Kalten Kriegs der Fachbegriff für eine dem Traditionalismus entgegengesetzte, auf Fakten beruhende Interpretation. Im Unterschied dazu ist Revisionismus in Bezug auf die Geschichte des Nationalsozialismus der Begriff für den Versuch, weniger die Wahrheitssuche auf Basis von Quellen denn die Relativierung der deutschen Verantwortung für den Zweiten Weltkrieg zu betreiben.
Im Weiteren geht es hier um die westliche Geschichtsschreibung des Korea-Kriegs und um deren unterschiedliche Interpretationsansätze. Die offizielle nordkoreanische, chinesische und sowjetische Geschichtsschreibung hat die Verantwortung für die Eskalation von vornherein und ohne Selbstkritik den USA zugeschrieben, sie war also ein gespiegelter Traditionalismus. Auch Analysen aus der DDR[6] gingen noch zu einem Zeitpunkt in diese Richtung, als im Westen bereits postrevisionistische Ansätze entstanden. Allerdings veränderte sich auch die Geschichtsschreibung der UdSSR – in den 1960er-Jahren wurde die Sicht sowjetischer Forscher auf Nordkorea kritischer, wobei diese Perzeption mit der außenpolitischen Annäherung von Pjöngjang an Maos China zusammenhängt, das mit Moskau im Streit lag.[7]
Eine Geschichtsforschung, welche die Rolle des eigenen Landes im Kontext von Krieg vorurteilsfrei herausarbeitet, ist in autoritären Staaten kaum und in totalitären Staatswesen nicht möglich. Insofern stellte der Kampf um die Deutungshoheit hinsichtlich des Korea-Kriegs, wie er in den USA und in Westeuropa geführt werden konnte, bereits das Mögliche an Diskursfreiheit dar, unabhängig von der Tatsache, dass in den 1950er-Jahren eine Position, die dem Kommunismus Verständnis entgegenbrachte, auch im Westen und insbesondere in den USA einen sehr schweren Stand hatte.
[1] Lange Zeit publizierten zum Korea-Krieg nur männliche Historiker. Analysen von Frauen, wie die Dissertation aus russischer Geschichte von Kathryn Weathersby über sowjetische Motive im Korea-Krieg, erforscht auf der Grundlage neuer russischer Quellen 1990, waren selten, vgl. Kathryn Weathersby, Soviet Policy Toward Korea, 1944-1946, Univ.-Diss., Indiana University 1990. Ausnahmen bilden das in der Manchester University Press 2001 erschienene Buch von Jennifer Milliken, The Social Construction of the Korean War: Conflict and Its Possibilities, Manchester 2001, oder eine Arbeit der Historikerin Gabriele Sinigoj, die zwischen 1995 und 2006 am Institut für Ostasienwissenschaften Sinologie an der Universität Wien lehrte. Vgl. Gabriele Sinigoj, Kalter Krieg in Ostasien: Der Korea Krieg, in: Sepp Linhart / Susanne Weigelin-Schwiedrzik (Hg.), Ostasien im 20. Jahrhundert. Geschichte und Gesellschaft, Wien 2006, S. 77-97.
[2] Vgl. dazu stellvertretend eine ältere Darstellung aus dem Jahr 1980 und eine jüngere von 2008, Robert Jervis, The Impact of the Korean War on the Cold War, in: Journal of Conflict Resolution 24 4/1980, S. 563-592; Bernd Stöver, Globalität versus Regionalität. Was zeigt der Koreakrieg für die Geschichte des Kalten Kriegs?, in: Christoph Kleßmann / Bernd Stöver (Hg.), Der Koreakrieg: Wahrnehmung-Wirkung-Erinnerung, Köln / Weimar 2008, S. 211-217.
[3] Max Hastings, The Korean War, London / New York 1987, S. 345 ff.
[4] Ein jüngeres Beispiel dafür ist die deutsche Forschung zum Kosovo-Krieg, die in den ersten Nachkriegsjahren eine hohe argumentative Nähe zur Position der Bundesregierung aufwies, vgl. Kurt Gritsch, Balkan-Geschichtsbilder. Westliche Interpretationsmodelle der jugoslawischen Kriege zwischen 1991 und 1999, in: zeitgeschichte 1-2/2010, S. 41-61.
[5] Wilfried Loth, Die Teilung der Welt 1941 – 1955, München 1980, S. 257.
[6] Vgl. Olaf Groehler, Der Koreakrieg 1950 bis 1953: das Scheitern der amerikanischen Aggression gegen die KDVR, Militärverlag der Dt. Demokrat. Republik, 1982.
[7] Eugene Bazhanov/Natasha Bazhanov, Soviet Views on North Korea. The Domestic Scene and Foreign Policy, in: Asian Survey 31 12/1991, S. 1123–1138, S. 1125, S. 1127, zit. nach www.jstor.org/stable/2645394, 10.1.2021.
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