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Die EU-Wahlen stehen bevor und bieten Millionen europäischen Bürger:innen die Chance, ihre Stimme zu erheben und die Zukunft der Europäischen Union mitzugestalten. Diese Wahlen sind ein Ausdruck der demokratischen Werte und der Vielfalt Europas sowie von entscheidender Bedeutung für die künftige Ausrichtung der Europäischen Union. Trotzdem wird die Wahl der Vertreter:innen für das Europäische Parlament oft als „zweitrangig“ betrachtet; ein weitverbreiteter Irrtum, wie der österreichische Politikwissenschaftler Peter Filzmaier betont. Im BARFUSS-Interview spricht der Experte darüber, warum weniger Geld in den EU-Wahlkampf fließt als in nationale Wahlen und erörtert die aktuellen und zukünftigen Herausforderungen der EU sowie mögliche Wahlbeteiligung und Wahlmotive.
BARFUSS: Herr Filzmaier, wie schätzen Sie die zu erwartende Beteiligung der Bürger:innen an dieser Europawahl im Vergleich zu früheren Wahlen ein und welche Faktoren könnten die Wahlbeteiligung beeinflussen?
Peter Filzmaier: EU-Wahlen gelten als „Wahlen zweiter Ordnung“ oder auch Nebenwahlen, weil die Parteien sich davon machtpolitisch wenig versprechen. Dementsprechend geben sie im EU-Wahlkampf viel weniger Geld aus als für eine nationale Parlamentswahl. Das senkt die Wahlbeteiligung und so erscheint den Bürger:innen die EU-Wahl oft als zweitrangig. Das ist ein Defizit Politischer Bildung, weil die Meinung „Die EU betrifft mich nicht“ einfach falsch ist. Wer von den Entscheidungen der EU gar nicht betroffen ist, der ist tot. Die niedrige Wahlbeteiligung liegt aber auch am Versagen der EU, die eigene Arbeit gut zu kommunizieren.
Wer von den Entscheidungen der EU gar nicht betroffen ist, der ist tot.
-Peter FilzmaierInwiefern?
Beispielsweise werden fast alle Bürger:innen die Abschaffung von Roaminggebühren als positiv empfinden, weil ja niemand beim Telefonieren oder Internetsurfen im Ausland eine Handyzusatzrechnung von hunderten oder sogar tausenden Euros bezahlen will. Doch hat die EU versagt ausreichend zu vermitteln, dass das auf eine Entscheidung ihres Parlaments zurückgeht. Die Wahlbeteiligung nach Ländern ist sehr unterschiedlich, doch verallgemeinernd erwarte ich für heuer: Dort wo die Wahlbeteiligung steigt, hat das mehr einerseits mit nationalen Themen und andererseits einer Polarisierung bei internationalen Themen – Stichwort Ukraine – zu tun. Denn wir wissen aus Studien, dass gerade heftige Konflikte zu einem Anstieg der Wahlbeteiligung führen können, weil sich das Gefühl „Auf meine Stimme kommt es an!“ steigt.
Wir wissen aus der Wahlmotivforschung, dass sehr oft nationale Themen ein Einflussfaktor für Wahl sind, obwohl häufig keine oder wenig Zuständigkeit besteht.
-Peter FilzmaierViele Bürger:innen wählen bei übernationalen Wahlen wie der Europawahl oft die gleiche Partei wie bei lokalen Wahlen. Was denken Sie, worauf sollte die Wahlentscheidung bei einer Europawahl im Vergleich zu nationalen oder kommunalen Wahlen basieren?
Ja das stimmt, aber es gibt auch das andere Phänomen des sogenannten Split-Ticket-Votings, bei dem Bürger:innen auf lokaler, regionaler oder einzelstaatlicher Ebene eine ganz andere Partei wählen als für das EU-Parlament. Der entscheidende Unterschied ist die Wahlbeteiligung. Jede kandidierende Partei sorgt sich zumeist weniger um Wechselwähler:innen als um den Austausch mit dem Nichtwählerlager, also dass die eigene Anhängerschaft schlicht zuhause bleibt. Was die Wahlentscheidung betrifft, so gibt es in der Politikwissenschaft verschiedene Theorieansätze: von der ideologischen Verbundenheit mit einer Partei über emotionale Faktoren wie die Sympathie der Spitzenkandidat:innen bis hin zu einer Rational-Choice-Theorie, bei der man jene Partei wählt, deren Programm einem im Alltagsleben konkrete Vorteile bringt.
Sympathie, Rationalität oder Ideologie: Gibt es eine Wahlintention, die besser ist als die andere?
Alle Wahlmotive sind zulässig. Beim Rational-Choice-Ansatz sollte ich mich allerdings danach richten, wofür die EU tatsächlich zuständig ist. In der Steuer- und Sozialpolitik ist das beispielsweise kaum der Fall, weil hier die Nationalstaaten nur wenige Kompetenzen abtreten wollten. In der Umweltpolitik gehen hingegen bis zu 40 Prozent der national geltenden Gesetze direkt oder indirekt auf EU-Entscheidungen zurück. Bei Themen wie Zöllen oder Handelsabkommen ist die EU hingegen fast ausschließlich allein zuständig.
Inwieweit könnten aktuelle geopolitische Ereignisse wie der russische Angriff auf die Ukraine, der Nahost-Konflikt und globale wirtschaftliche Herausforderungen die Dynamik dieser Europawahl beeinflussen?
Natürlich ist die Frage einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik objektiv ein wichtiger Punkt. Wir wissen allerdings aus der Wahlmotivforschung, dass sehr oft nationale Themen ein Einflussfaktor sind, obwohl häufig keine oder wenig Zuständigkeit besteht. Zudem sind die Reaktionsweisen der einzelnen Mitgliedstaaten auf den russischen Angriffskrieg in der Ukraine sehr unterschiedlich: In Finnland und Schweden hat der Krieg zum NATO-Beitritt geführt, weil sowohl die eigene Neutralität als auch die Rolle der EU als sicherheitspolitischer Akteur für ungenügend erachtet wurden. Das teilen sicher auch mehrere langjährige NATO-Mitglieder. In Österreich wiederum steigt die Neutralitätsbefürwortung. Bei den Wirtschaftssanktionen gegen Russland wiederum stellt sich die Frage, wie lange diese einheitlich aufrechterhalten werden können. Und es gibt bei rechtspopulistischen kandidierenden Parteien sogar die etwas kuriose Sichtweise, man müsse nur lieb zu Russland sein und schon wären alle Probleme, inklusive der Teuerung, gelöst. Das bietet also genug Stoff für den Wahlkampfstreit, aber auch darüber hinaus.
Wenn grundsätzlich abgelehnt wird, dass die EU irgendetwas entscheidet, und Populist:innen stattdessen immer alleinige Entscheidungen der Nationalstaaten fordern, so stellt man unabhängig von Sachfragen die Sinnhaftigkeit jener Organisation in Frage, in der man selber sitzt: das EU-Parlament.
-Peter FilzmaierInwiefern werden populistische Bewegungen und euroskeptische Parteien voraussichtlich das Ergebnis dieser Europawahl beeinflussen und welche Folgen könnte dies haben?
Gewinne von Populist:innen und expliziten Skeptiker:innen oder Gegner:innen der EU werden die Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit im Parlament erschweren: Man kann und darf natürlich EU-kritisch sein. Doch wenn grundsätzlich abgelehnt wird, dass die EU irgendetwas entscheidet und Populist:innen stattdessen immer alleinige Entscheidungen der Nationalstaaten fordern, so stellt man unabhängig von Sachfragen die Sinnhaftigkeit jener Organisation in Frage, in der man selber sitzt: das EU-Parlament.
Wie wirken sich nationale politische Entwicklungen und innenpolitische Ereignisse in den Mitgliedstaaten auf die Dynamik und die Ergebnisse der Europawahl aus?
Finden – wie etwa in Österreich im Juni und September – die EU-Wahl und nationale Wahlgänge zeitnah statt, so wird die EU-Wahl oft zur Testwahl hochstilisiert. Es geht nicht mehr darum, ob eine Partei eine:n Abgeordnete:n mehr oder weniger im Europäischen Parlament stellt – was den Parteien machtpolitisch vergleichsweise weniger wichtig erscheint -, sondern nur noch darum, sich strategisch in der Öffentlichkeit die bestmögliche Ausgangsposition für die nationale Parlamentswahl zu sichern, wo es um mögliche Regierungsbeteiligungen und somit um viel mehr Macht geht.
Vor welchen Herausforderungen wird die EU in den nächsten fünf Jahren stehen und welche möglichen Szenarien erscheinen Ihnen wahrscheinlich?
Es findet die EU-Parlamentswahl statt, also ist für mich eine entscheidende Zukunftsfrage, wie stark oder schwach die Position des Parlaments im Vergleich zum Rat der Fachminister, der ja allen Richtlinien und Verordnungen ebenfalls zustimmen muss und auch zur Kommission, die das Vorschlagsrecht für Gesetzentwürfe hat, sein wird. Im Laufe der Geschichte der EU wurde die Position des Parlaments rechtlich in Richtung eines gleichberechtigten Partners gestärkt. Infolge der fortschreitenden Nationalisierung vermute ich jedoch massive Versuche des Rates der Europäischen Union, wieder mehr Macht an sich zu reißen. Das bedeutet eine stärkere Rolle nationalstaatlich und oft weniger gesamteuropäisch denkender Regierungsmitglieder.
Angesichts der Komplexität der EU: Wie realistisch ist es, präzise Vorhersagen zum Wahlausgang zu treffen?
Wer meint, die Wahlen in 27 Ländern – mit 24 verschiedenen Sprachen – prognostizieren zu können, dem wünsche ich viel Glück. Ich kann das nicht und es ist auch schwierig, von außen die Seriosität von öffentlich zugänglichen Umfragen in all diesen Ländern zu beurteilen. Als grober Trend ist jedoch durchaus ein Ansteigen der Stimmen für Rechtspopulist:innen zu erwarten.
Wie sieht die Zukunft der EU-Erweiterungspolitik aus und wie kann die EU den Balanceakt zwischen nationaler Souveränität und supranationaler Integration erfolgreich meistern?
Die zentrale Frage lautet, ob die EU eher als Lösung oder als Teil des Problems betrachtet wird. Wenn man der politikwissenschaftlichen Theorie des Realismus folgt – im Gegensatz zum Internationalismus -, und Nationalstaaten als entscheidende Akteure betrachtet, könnten einer weiteren Integration und Vertiefung der EU enge Grenzen gesetzt sein. Die Betonung nationalstaatlicher Zuständigkeiten anstelle der supranationalen Ausweitung einer wachsenden EU ist zweifellos ein legitimier Standpunkt. Allerdings hat das Konzept der Nationalstaaten im 20. Jahrhundert zu zwei Weltkriegen geführt. Immerhin basiert die Gründung der EU auch auf der Idee, diesen Entwicklungen als übergeordnete Friedensorganisation entgegenzuwirken.
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