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Die Hände der Pilger:innen sind niemals leer, vom Startpunkt bis zu den letzten Metern. Freiwillige drücken ihnen Plastikbecher in die Hand und winken sie zu den Ständen am Wegesrand. Dort gibt es Wasser, Schwarztee, Saft in den grellsten Farben, Safransirup und manchmal sogar Coca Cola. „Tfazal ya zair“ ist der Schlachtruf, mit dem sich die Freiwilligen gegen den Strom aus schwarzen T-Shirts und Ganzkörperschleiern stellen und kostenlose Getränke, Brötchen und Kebabspieße an Millionen Pilger verteilen: „Greif zu, oh Besucher!“.
Zäh, aber hartnäckig bewegt sich der Menschenstrom weiter. Der Pilger:innenweg vom Imam-Ali-Schrein in Najaf zum Imam-Hossein-Schrein in Kerbela in Zentralirak verläuft gerade wie ein Lineal nach Norden, 80 Kilometer, entlang an einer viel befahrenen irakischen Staatsstraße.
Es ist ein Menschenzug biblischen Ausmaßes, darunter Frauen mit Neugeborenen, Greise und kräftige Männer, die kranke Angehörige auf Rollstühlen schieben. Sie kommen aus aller Welt, aus Iran, den USA, Deutschland, Pakistan, Yemen, Australien. „Labaike ya Hossein! Labaike ya Hossein!“ feuern einheimische Kinder die Kohorten aus Pilger:innen an. „Wir stehen bereit für dich, oh Hossein!“ Der schiitische Heilige ist der Grund, warum die Menschen hier sind.
Imam Hossein war der Enkel von Prophet Mohammed. Im Jahr 680 nach Christus zog er mit wenigen Getreuen in den Kampf gegen die übermächtigen Truppen des despotischen Kalifen Yazid. Weil er nicht aus der Familie des Propheten Muhammed stammte, lehnten die Schiit:innen rund um Hossein ihn als rechtmäßigen Kalifen ab. Doch Yazid machte in der Schlacht von Kerbala kurzen Prozess. Hossein wurde geköpft, seine Frauen versklavt. Mit der Niederlage von Kerbala schien das Anliegen der Schiit:innen endgültig gescheitert.
Doch dann geschah das Unerwartete: Die Berichte über Hosseins Tapferkeit veranlassten Tausende Muslim:innen, zu den Schiit:innen überzulaufen. Ausgerechnet ihre größte Niederlage bewahrte die Schiit:innen vor der Bedeutungslosigkeit. Doch auch der Streit, wer die rechtmäßigen Nachfolger des Propheten Mohammed sind, blieb. Er begründet bis heute die Kluft zwischen schiitischen und sunnitischen Muslim:innen, zwischen dem Norden und dem Süden Iraks, zwischen Iran und Saudi Arabien.
Für die Schiit:innen bleibt Hosseins Martyrium bis heute brandaktuell, Kerbela ist ihr großer Gründungsmythos.
Für die Schiit:innen bleibt Hosseins Martyrium bis heute brandaktuell, Kerbela ist ihr großer Gründungsmythos. An Arbaïn, 40 Tage nach Hosseins Todestag, gedenken sie dieser Niederlage. Die Pilger:innen schlagen sich zur Zeichen der Trauer auf die Brust, weinen und schwärmen von Hosseins Güte, als hätten sie ihn persönlich gekannt. Im Jahr 2024, als ich mitgepilgert bin, fiel Arbaïn nach dem islamischen Mondkalender auf den 25. August. 21 Millionen pilgerten zu seinem Grabmal in Kerbala, wie die Schreinverwaltung mitteilte.
Um ihren Helden zu ehren, machen die Pilger:innen und die Freiwilligen das scheinbar Unmögliche möglich. Millionen Menschen, die sich innerhalb weniger Tage an einem Ort versammeln, 80 Kilometer weit gehen und das bei knapp 50 Grad im Schatten. Die Pilger:innenfahrt nach Kerbela ist mehr als zehn Mal so groß wie der Hadsch in Mekka. Dort sind im Juni des letzten Jahres über 1300 Pilger:innen an Hitze gestorben.
Irak scheint der letzte Ort zu sein, wo eine Massenveranstaltung dieser Größenordnung reibungslos funktionieren könnte. Die staatlichen Strukturen sind marode, Vettern- und Misswirtschaft endemisch. Laut Korruptionswahrnehmungsindex aus dem Jahr 2023 belegte der Ölstaat Irak Platz 154 von 180 untersuchten Ländern. Doch in Kerbela ist davon kaum etwas zu spüren. Im Gegensatz zum Hadsch in Saudi Arabien gab es hier keine größeren Zwischenfälle.
Die Versorgung scheint lückenlos. Am Straßenrand stehen klimatisierte Hallen, Schlafräume und Toiletten, in regelmäßigen Abständen trifft man auf Arztstationen, wo die Pilger:innen sich checken lassen können, und auf freiwillige Masseur:innen, die verkrampfte Waden durchkneten. All das ist kostenlos.
„Nirgends in der Welt wäre ein Event dieses Ausmaßes denkbar, nicht einmal in den USA“, schwärmt Imran Kazmi, ein pakistanischer Pilger, der seinen ersten Urlaub in mehreren Jahren genutzt hat, um nach Kerbela zu reisen. „Es ist egal, wie arm du bist, die Iraker füttern dich durch.“
„Ich schlafe seit zwei Wochen nur noch vier Stunden am Tag und trotzdem werde ich nicht müde. Weil ich all das für Imam Hossein mache und für mein Leben nach dem Tod“, sagt Alhelo.
Möglich wird das durch den pausenlosen Einsatz Zehntausender Freiwillige. Einer von ihnen ist Haidar Alhelo. Er ist 26 Jahre alt, lebt zwischen Irak und Kopenhagen, wohin seine Familie aus Najaf kurz nach dem zweiten Golfkrieg in den 90ern geflohen ist, und hat im letzten Jahr einen langjährigen Traum verwirklicht. Er hat gemeinsam mit irakischen Freunden ein „Mokeb“ errichtet, einen Stand, in dem sie Pilger:innen versorgen. Das Mokeb besteht aus einem klimatisierten Zelt mit 16 Matratzen und Decken, für die Gäste kochen Alhelo und seine Freunde Fisch, Kebabspieße, Pommes und Fried Chicken.
Motiviert ist die Großzügigkeit im Diesseits durch Eigennutz im Jenseits. „Ich schlafe seit zwei Wochen nur noch vier Stunden am Tag und trotzdem werde ich nicht müde. Weil ich all das für Imam Hossein mache und für mein Leben nach dem Tod“, sagt Alhelo. „Unsere Arbeit ist wie eine große Investition, wir bekommen von Allah alles tausendfach zurück.“
Ein Mokeb, wie Alhelo es führt, kostet umgerechnet um die 10.000 Euro. Das Geld stammt von privaten Spendern in Dänemark. Sie hatten keine Zeit, selbst nach Kerbela zu pilgern, und sorgen auf diese Weise für ihr Seelenheil vor. Etwa 2000 Euro bleiben dieses Mal am Ende übrig. Alhelo und seine Mitstreiter wollen das Geld fürs nächste Jahr aufbewahren. Wenn es für Imam Hossein ist, kommt jeder Cent genau da an, wo er hingehört.
Als Massenphänomen ist die Pilgerung nach Kerbela eine Erfindung der letzten 20 Jahre. Die älteren Iraker:innen, die in Alhelos Mokeb mithelfen, erinnern sich noch gut, wie gefährlich die Wanderung früher war, unter Saddam Hussein.
Arbaïn zu feiern war bis zu seinem Sturz im Jahr 2003 streng verboten. Der sunnitische Diktator fürchtete, dass die Schiit:innen, die im Irak rund 63 Prozent der Bevölkerung ausmachen, die Veranstaltung zu politischen Zwecken nutzen könnten. Nur wenige Tausend hartgesottene Gläubige stapften durch den Schlamm des Euphrats, versteckten sich hinter Palmen und Gebüsch. Wer erwischt wurde, behauptete, dass er für einheimische Bauern auf dem Feld arbeite. Manche kamen für Jahre ins Gefängnis, andere wurden auf der Stelle erschossen.
Nehmt euch in Acht, Sunniten, wir Schiit:innen sind viele – und wir halten zusammen.
Nach Saddams Sturz haben sich die zunächst marginalisierten Schiit:innen in den Bürgerkriegen gegen Al-Qaida, den Islamischen Staat und die amerikanischen Besatzer behauptet und bilden heute das Rückgrat der irakischen Elite. Noch im Jahr 2003 nahmen Hunderttausende Schiit:innen an der ersten legalen Arbaïn-Pilger:innenwanderung teil. Seitdem sind die Pilger:innenzahlen rasant angewachsen.
Die Bilder von den Massen in Kerbela sind heute auch eine Machtdemonstration. Die Botschaft geht vor allem an die einstigen Herren im Land: Nehmt euch in Acht, Sunnit:innen, wir Schiit:innen sind viele – und wir halten zusammen.
Der erste große Test dieser schiitischen Einheit kam vor knapp zehn Jahren, als die sunnitischen Extremisten des Islamischen Staats (IS) den Norden des Landes eroberten und schon kurz vor Baghdad standen. Ali Al-Sistani, das religiöse Oberhaupt der Schiit:innen im Irak, rief damals mit einer Fatwa zum Dschihad gegen den IS auf. Hunderttausende Kämpfer und Freiwillige folgten seinem Ruf. Abbas Majed-Khorshid, ehrenamtlicher Mitarbeiter des Imam-Hossein-Schreins, berichtet, dass es vor allem fromme Arbaïn-Pilger:innen waren, die sich damals freiwillig meldeten. „Wer für Imam Hossein bereitstand, stand nun auch für den Kampf gegen den IS bereit“.
Die Stärkung der schiitischen Identität ist der Grund, warum aus Arbaïn, ursprünglich einer eher unbekannten irakischen Volkstradition, innerhalb von wenigen Jahren ein Großevent von globaler Bedeutung geworden ist. Ein Akteur hat besonders stark in diese Entwicklung investiert: das iranische Regime in Teheran.
Ayatollah Ali Khamenei, der Oberste Führer der Islamischen Republik Iran, nannte die Pilgerung in einer Rede 2019 eine „riesige und erstaunliche Demonstration der Einheit“ unter den Schiit:innen. Allein 2024 gab Iran nach Angaben des Innenministeriums umgerechnet 230 Millionen Euro aus, um die Pilgerung logistisch zu unterstützen. Iraner klagen dieser Tage über geschlossene Bäckereien, da ihre Regierung große Mehlmengen nach Irak geschickt hat, um die Pilger:innen zu versorgen.
Wenn die Hizbollah im Libanon zum Krieg gegen Israel ruft, würde sich die schiitische Einheit noch einmal bewähren. Radikale irantreue Milizen in der Region, von Syrien bis Yemen, würden nicht zögern, ihrem Ruf zu folgen.
Die Islamische Republik hat dabei ganz irdische Ziele im Blick. Einerseits ist Kerbela auch für die Islamische Republik eine Gelegenheit, seine Macht zu demonstrieren. Die Botschaft geht, ähnlich wie im Irak, an die Gegner im eigenen Land: Nehmt euch in Acht, Säkulare, wir Strenggläubigen, das Rückenmark des islamischen Regimes, sind viele.
Andererseits ist der Irak eine unverzichtbare Säule der sogenannten „Achse des Widerstands“, jenem transnationalen Netzwerk schiitischer Gruppen, durch die das iranische Regime seinen Einfluss in der Region ausgebaut hat und den Erzfeind Israel bekämpfen will. Al-Sistanis Fatwa, gruppenübergreifend gegen den IS zu kämpfen, hat Iran genutzt, um im Irak Dutzende irantreue Milizen aufzurüsten. Heute sind sie als Teil des Milizen-Bündnisses Hashd al-Shaabi in den irakischen Staat integriert. Viele hier glauben: Wenn die Hizbollah im Libanon zum Krieg gegen Israel ruft, würde sich die schiitische Einheit noch einmal bewähren. Radikale irantreue Milizen in der Region, von Syrien bis Yemen, würden nicht zögern, ihrem Ruf zu folgen.
Und doch hat die „Achse des Widerstands“ ein Problem, zumindest im Irak. Die irantreuen Milizen erfreuen sich keiner großen Beliebtheit. 2019 protestierten Zehntausende gegen den iranischen Einfluss. Außerdem folgen die meisten irakischen Schiit:innen in politischen Fragen noch immer ihrem religiösen Oberhaupt Ali al-Sistani, der als Bollwerk gegen eine Theokratie und ein militantes Schiit:innentum iranischer Prägung gilt. „Solange ich am Leben, wird das iranische Experiment im Irak nicht wiederholt“, sagte Al-Sistani noch im Jahr 2004.
Das iranische Bemühen, dieses schlechte Image aufzupolieren, ist während Arbaïn allgegenwärtig. Wer den Weg von Najaf nach Kerbela geht, wandert drei Tage lang pausenlos an politischen Symbolen vorbei. Fans schmiegen sich an eine lebensgroße Pappfigur von Qassem Soleimani, dem 2020 durch die USA getöteten Architekten des iranischen Einflusses im Irak, und machen Selfies. Pavillons der Hashd al-Shaabi preisen den iranischen Beitrag im Kampf gegen den IS und am Wegesrand stehen Mülleimer mit aufgemalten Zionisten-Sternen. Einige Pilger:innen tragen auf ihren T-Shirts die Aufschrift: „Kerbela ist überall, Arbaïn ist jeden Tag.“ Wenn man sie fragt, wer der „Yazid“ der Gegenwart ist, ist die Antwort immer dieselbe: Israel. Manche nennen auch die amerikanische Regierung – „nicht das Volk“, präzisieren sie.
Den Schrein zu berühren, so glauben viele Pilger, bringt sie ihrem Seelenheil ein großes Stück näher.
Erst in der Moschee des Imam-Hossein-Schreins reißt die Flut der politisch-religiösen Propaganda ab, Fahnen und Banner müssen draußen bleiben. Der Schrein, ein mit silbernen Reliefs dekorierter Sarkophag unter einer goldenen Kuppel, ist das große Ziel der tagelangen Arbaïn-Wanderung. Hunderte Gläubige drängen dicht an dicht und mit aller Kraft zum Schrein. Wer breite Ellenbögen hat, nutzt sie gegen die Schwächeren. Den Schrein zu berühren, so glauben viele Pilger:innen, bringt sie ihrem Seelenheil ein großes Stück näher.
Die Atmosphäre vor dem Schrein ist entrückt. Die Gläubigen rufen „Labaike ya Hossein“ – wir sind bereit für dich, Hossein. Andere stimmen Trauerlieder für Imam Hossein an. Doch auch hier hält die Politik Einzug. Einer der Sänger trägt das Konterfei Hassan Nasrallahs auf seinem T-Shirt, des Anführers der Hisbollah, der wenige Wochen darauf von Israel getötet werden würde. Als würde er schon ahnen, was passieren wird, legt ein vorbeigehender Pilger seine Hand auf die Brust des Sängers, auf Nasrallahs aufgedrucktes Gesicht, und streichelt es zärtlich.
Hinweis: Diese Reportage wurde finanziell durch den Medienfonds ‹real21 – die Welt verstehen› unterstützt.
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