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Illustrations by Sarah
Teseo La Marca
Veröffentlicht
am 18.10.2017
LebenBis ans Ende der Straße

Der Aufbruch

„Irgendwann kommt der Moment, wo der Entschluss fällt. Man steht dann da und weiß: Ich muss weg."
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Dass man sich plötzlich entscheidet, kommt eher selten vor. Meistens ist es ein Prozess. Eine plötzliche Idee am Anfang, ein fernes Land, von dem man mal gehört hat und das beginnt, einen zu interessieren. Später ein vernebelter Regentag im November, zwischen Vorlesungssaal und einem unterheizten WG-Zimmer, wenn man anfängt, aus purem Eskapismus Tagträume zu spinnen. Dann ein Text, in dem es ums Aufbrechen geht und den man nur aus Langeweile zu lesen begonnen hat. Oder dieser eine Bekannte, der immer wieder von seinem anderen Bekannten erzählt: der Typ, der einfach abgehauen ist, Rucksack auf den Buckel und weg, per Anhalter. Beeindruckende Sache. Mit dem eigenen Leben hat das ja wenig zu tun. Ich tue mich manchmal schon schwer rauszugehen, um die Nachbarn zu besuchen. Oder zum Lernen in die Bib zu fahren. Doch was eine Idee war, wird mehr und mehr zu einem Plan. Manchmal fällt es leichter, sich zu etwas ganz Großem zu überwinden, als zu den kleinen Alltäglichkeiten. Und zuletzt ist der Rucksack gepackt, man steht vor ihm, so ohnmächtig wie vor dem eigenen Entschluss, der längst schon gefallen ist: Ich muss weg.

Manchmal fällt es leichter, sich zu etwas ganz Großem zu überwinden, als zu den kleinen Alltäglichkeiten.

Allerdings habe ich mich jetzt schon verraten. Musste ich weg? Oder wollte ich? Es ist eine weit verbreitete Annahme, dass die Freude am Reisen in Wahrheit einer starken inneren Unruhe und einem unentschlossenen Charakter entspringen. Wer verreist, der flüchtet doch vor irgendwas. So lautet der Verdacht. Und ich kann ihn kaum widerlegen. Trotzdem finde ich es dumm, sich darüber Gedanken zu machen. Wenn man glücklich dabei ist, in den Tag zu leben, und wenn man eine kindliche Freude an Abwechslung findet, wen kümmert es dann, ob das womöglich an einer Abneigung gegen Sesshaftigkeit liegt? Den Sesshaften könnte man ja genauso vorhalten, ihre Geschäftigkeit zwischen Hauskredit und unbefristetem Vertrag rühre nur von einer tiefen Angst vor Neuem und vor Veränderung. Um nicht von Kontrollzwang zu sprechen (wenn wir schon dabei sind, das ganze Register der Küchenpsychologie zu ziehen). Aber letztendlich hat ja jeder von uns etwas von beiden: etwas von den Sesshaften und etwas von den Getriebenen. Und ja, zum Teil ist es bestimmt auch eine Altersfrage.

Am letzten Tag vor Reisebeginn steht man also vor dem Rucksack. Noch einmal bäumen sich alle Zweifel auf. Der letzte Protest des Sesshaften in uns. Drei Mal hab ich inzwischen so einen Bruch mit dem Alltag erlebt. Das erste Mal, im Herbst 2015, trampte ich von Amsterdam nach Marseille, um dort einen Freund zu besuchen. Das zweite Mal, im vergangenen Herbst, reiste ich mit einem anderen Freund von Südtirol über den Westbalkan und Griechenland bis nach Istanbul. Und im Mai dieses Jahres ging die Reise alleine weiter, von dort, wo sie zuletzt geendet war: von der Türkei über die Kurdengebiete nach Iran und von dort in den Kaukasus, nach Aserbaidschan und Georgien.

Die Unsicherheit ist enorm, die Bandbreite an Möglichkeiten maximal. Die Welt steht völlig offen.

An der Grenze zwischen Bosnien und Montenegro. So sieht Hitchhiken aus.

Ich wusste nicht genau, wann ich zurückkommen würde, und auch nicht, wie weit ich kommen möchte. Meistens war es eh der Kontostand, der entschied, wann die Reise zu Ende ist. Der Zeitpunkt unterlag also nur bedingt meinem Einfluss. Dass Hotels als Unterkunft nicht infrage kommen sollen, war aber nur teilweise auf meine Finanzen zurückzuführen. Zuerst war es die Neugier aufs Abenteuer, die mit einem Hotel schlecht vereinbar gewesen wäre. Doch Neugier erschöpft sich rasch. Was mich stattdessen nicht mehr losließ, war jenes Gefühl der grenzenlosen, absoluten Freiheit, das nur derjenige kennt, der im Augenblick nichts als seinen Rucksack besitzt, weil er im Grunde auch nichts anderes braucht. Das totale Fehlen jegliches Bedürfnisses und jeglicher Verpflichtung. In Anbetracht dieses Freiheitsgefühls ist der Mangel an Komfort ein erträglicher Preis.

Auch auf öffentliche Verkehrsmittel wollte ich möglichst verzichten und es stattdessen mit Autostopp versuchen – man nennt diese Art zu reisen „trampen“ oder „hitchhiken“. Wenn im täglichen Leben bereits das Erkundigen nach dem richtigen Weg eine große Herausforderung darstellt, weil man so ungern Fremde anspricht und Hilfe von ihnen annimmt, dann muss man das mit dem Hitchhiken unbedingt mal probiert haben. Wo und mit wem man den Abend verbringen wird, liegt am Morgen selbstverständlich noch in den Sternen. Die Unsicherheit ist enorm, die Bandbreite an Möglichkeiten maximal. Die Welt steht völlig offen. Da bleibt einem dann nichts mehr übrig, als ihr entgegenzugehen. Am Rand einer Straße, bis jemand anhält und einen mitnimmt.

Ich erwachte zwischen ein paar Zuggleisen und einem alten, verlassenen Güterwaggon, neben dem ich wie ein Penner auf meiner Luftmatratze geschlafen hatte.

Es ist nicht leicht, bis zu diesem Gefühl der Freiheit vorzudringen. Solange man zwischen den alten vier Wänden sitzt, reicht die menschliche Phantasie nicht aus, es sich vorzustellen. Wozu sie ausreicht, sind tausend Sorgen. Im Moment des Aufbruchs überhaupt keine Angst zu empfinden, das geht wohl nur, wenn man apathisch ist.

Ich erinnere mich zum Beispiel an meine letzte Reise, die im vergangenen Mai begann. Es war schon meine dritte Reise dieser Art, aber der schwierigste Aufbruch. Die erste Nacht in der Türkei war grauenvoll. Ich erwachte zwischen ein paar Zuggleisen und einem alten, verlassenen Güterwaggon, neben dem ich wie ein Penner auf meiner Luftmatratze geschlafen hatte. In Kayseri, der hässlichen, sterilen Stadt, wo ich gestrandet war, schien kein Mensch Englisch zu verstehen. Geschlafen hatte ich vielleicht zwei Stunden. Zum Teil lag es an irgendwelchen Riesenmücken, die nachts vor meinem Gesicht vorbeischwirrten, und wenn es nicht die waren, dann weckten mich die Züge, die jede halbe Stunde vorüberrauschten. Warum sich ein scheinbar vernünftiger und im Hirn recht gesunder Mensch all das antut, sollte ich vielleicht erklären. Weil das jetzt aber zu sehr vom Thema abweichen würde, gehe ich darauf lieber in einem der nächsten Texte ein.

Jedenfalls wollte ich diese grauenvolle Stadt so schnell wie möglich verlassen. Als ich einen Busfahrer fand, der nach seinen fünf Jahren in Deutschland ein paar Brocken Deutsch sprach („Was du machen hier? Was machen alleine?“) konnte mir schließlich endlich jemand den Weg weisen, wie ich von hier ins nahe Kappadozien kam, meinem eigentlichen Ziel vorerst. Doch inzwischen erschien mir der beste Weg, die Stadt wieder zu verlassen, einen Direktflug zurück nach Hause zu buchen. Das war der Augenblick, der wohl jeden Reisenden einmal ereilt. Wenn man sich fragt: Was mache ich hier eigentlich für einen Schwachsinn? Der Busfahrer hatte doch völlig recht, allein in der türkischen Provinz, unter fremden Menschen, von denen niemand mich verstand, ohne Plan, ohne Ziel – wonach suchte ich? Der einzige Grund, warum ich diesen Rückflug nicht sofort buchte, war, dass es ein Scheitern bedeutet hätte.

Ich wollte Dinge erleben, die man sonst nur aus Drehbüchern kennt, und Dinge, die wirklich erzählenswert sind.

Inmitten dieser Gedanken erreichte mich die Nachricht einer Freundin, die zuvor von meinem Reisevorhaben erfahren hatte. Als hätte sie etwas von den Schwierigkeiten geahnt, in denen ich mich gerade befand, schrieb sie unter anderem: „Du machst das sicher. Wer, wenn nicht du? Und wer kann dich schon abweisen?“ Es war ein ungewöhnlicher Text, nicht die üblichen gut gemeinten Worte. Später begriff ich, dass diese Worte sich gar nicht an mich persönlich richten mussten, sondern im Grunde jedem gelten, der sich gerade im Aufbruch befindet, zu welcher Reise, welchem Unternehmen auch immer: Wer kann dich schon abweisen?

Die Freundin von mir hat übrigens Recht behalten. Bald wurde mir wieder bewusst, warum ich diese Reise angetreten war. Ich wollte dem Leben näherkommen. In Situationen geraten, die mich verändern. Ich wollte Dinge erleben, die man sonst nur aus Drehbüchern kennt, und Dinge, die wirklich erzählenswert sind. Heute, wieder inmitten eines routinierten Studien- und Arbeitslebens, kann ich eindeutig sagen: Das hat geklappt. Übrigens glaube ich auch, dass der ruhelos Reisende vor etwas flüchtet. Aber bedeutet das, dass er, wie man gerne vermutet, vor sich selbst flüchtet? Ich glaube, eher flüchtet man vor all dem, was einen eben davon abhält, man selbst zu sein.

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