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Dem Dichter Matthias Claudius wird folgende Aussage zugesprochen: „Die Freiheit besteht darin, dass man alles das tun kann, was einem anderen nicht schadet.“ Und ein anderer bekannter Spruch lautet: „Meine Freiheit endet dort, wo die Freiheit des Anderen beginnt.“ Das klingt zunächst plausibel und bringt zum Ausdruck, dass Freiheit nicht ein willkürliches und beliebiges Tun und Lassen bedeutet, sondern immer an soziale Verantwortung gebunden ist, zumindest in dem Sinne, dass ich die Auswirkungen meines Handelns auf andere und die soziale Verantwortung, die ich als Mitglied einer Gesellschaft habe, mit bedenken muss. Dennoch drängt sich mir ein Bild auf: Kommt in diesen beiden Aussagen nicht so etwas wie eine Schrebergarten-Mentalität zum Ausdruck? Jeder hat seinen Schrebergarten, in dem er tun und lassen kann, was er will, solange er nur die Grenzen zum Nachbarn respektiert. Ich möchte ein anderes Bild ins Spiel bringen: den Tanz. Auch beim Tanzen wird ein Paar darauf achten, sich nicht gegenseitig auf die Füße zu treten, aber das allein genügt nicht. Die Tanzpartner müssen sich aufeinander einlassen, sich aufeinander einschwingen, einen gemeinsamen Takt und Rhythmus finden. Die Tanzlehrerin Deborah Weinbuch schreibt: „Miteinander zu tanzen erfordert eine sehr bewusste Wahrnehmung und ein intuitives Erspüren des Anderen. Gleichzeitig ist jeder Paartanz eine ständige Kommunikation – ja, eine Verhandlung zwischen dem, was die Partner am liebsten möchten.“
Der Paartanz als Sinnbild für Freiheit würde bedeuten, dass der Andere nicht die Grenze meiner Freiheit ist, sondern dass ich ohne den Tanzpartner bzw. die Tanzpartnerin meine Freiheit zu tanzen gar nicht verwirklichen könnte. Der Andere grenzt meine Freiheit nicht ein, sondern ermöglicht sie erst. Im folgenden philosophiegeschichtlichen Streifzug von Immanuel Kant bis Emmanuel Lévinas möchte ich diesem Gedanken nachspüren.
Kants kategorischer Imperativ
Kant schlüsselt die Frage „Wer ist der Mensch“ in drei Fragen auf: Was kann ich wissen? Diese Frage beantworten die Erkenntnistheorien. Was darf ich hoffen? Hier kommen die Religionen ins Spiel. Und was soll ich tun? Diese Frage betrifft die Ethik. Hier grenzt sich Kant von zwei Positionen ab: Sittliches Handeln unterscheidet sich davon, dass ich einfach nur meinen Impulsen oder Trieben folge. Das wäre nicht moralisches, sondern triebgesteuertes Handeln. Ebenso sagt er, dass allein das Verfolgen von eigenen Interessen oder von Nutzen nicht moralisch ist, da der Zweck nicht die Mittel heiligt. Moralisches Handeln zeichnet sich nach Kant dadurch aus, dass ich ethische Prinzipien befolge, die ich durch meine Vernunft erkenne, und dass sich der Wille freiwillig den sittlichen Vernunfteinsichten unterordnet. Der deutsche Anthropologe Rudolf Virchow hat es so formuliert: „Die Freiheit ist nicht die Willkür, beliebig zu handeln, sondern die Fähigkeit, vernünftig zu handeln.“
„Die Freiheit ist nicht die Willkür, beliebig zu handeln, sondern die Fähigkeit, vernünftig zu handeln.“
Autonomie im Sinne der sittlichen Selbstgesetzgebung ist also nicht subjektive Beliebigkeit, sondern freiwilliger Gehorsam gegenüber dem Sittengesetz, das jeder in seinem eigenen Gewissen zu erkennen vermag. Im kategorischen Imperativ formuliert Kant zwei formale Kriterien dieses sittlichen Gesetzes: das erste ist jenes, dass jeder Mensch in seiner Würde geachtet werden muss, in den Worten Kants: dass niemand bloß als Mittel verwendet werden darf, sondern jederzeit zugleich als Zweck an sich selbst anerkannt werden muss. Das zweite Kriterium ist die Universalisierbarkeit, d. h. die Probe aufs Exempel bzw. die kritische Prüfung, ob etwas nicht nur für mich richtig ist, sondern auch für andere, sodass es dem objektiven Sittengesetz entspricht und gerade nicht nur persönlicher Neigung und individuellem Belieben. Auf diesem Hintergrund entwickelt Kant eine Staatstheorie, in der einerseits das einzelne Individuum in seiner Selbstzwecklichkeit und in seiner Würde geachtet wird – was in erster Linie dadurch geschieht, dass jedem Bürger und jeder Bürgerin das Recht auf sittliche Selbstbestimmung zuerkannt wird – und in der andererseits die Staatsverfassung aus Regeln und Gesetzen besteht, die nicht von besonderen Personen abhängen, sondern deren Geltung durch eine Art „kollektive Vernunfteinsicht“ begründet ist und die freiwillig aus „Bürgerpflichtbewusstsein“, nicht auf Anordnung befolgt werden.
Diskursethiken
Auf dieser Basis der Anerkennung des einzelnen Individuums mit seinem Recht auf sittliche Autonomie und der Notwendigkeit, die Regeln des gesellschaftlichen Zusammenlebens nicht nur individuell, sozusagen „jeder für sich“ und „im stillen Kämmerlein“, zu entwerfen, sondern gemeinsam auszuverhandeln, wurden unterschiedliche Modelle von Diskursethiken entfaltet. Zu nennen sind besonders die Philosophen Karl-Otto Apel und Jürgen Habermas. Sie schlagen ein formales Procedere vor mit dem Ziel, dadurch Regeln ausverhandeln zu können, die gerecht sind und deshalb die zumindest potentielle Zustimmung aller Beteiligten erhalten können. Für unser Thema entscheidend ist, dass die Garantie von Freiheit in diesem Diskurs unlöslich verbunden ist mit der Anerkennung des Anderen und – über Kant hinausgehend – mit einem kommunikativen Freiheits- und Vernunftverständnis.
Hans-Joachim Höhn erläutert diesbezüglich: „Die wachsende Selbstbestimmung des Individuums ist verschränkt mit der zunehmenden Integration in soziale Bezüge und Abhängigkeiten. Daraus erklärt sich die gleichsam konstitutionelle Verletzbarkeit der Identität und Integrität von Person und lebensweltlichem Beziehungsgefüge. Ihr Schutz ist stets nur gemeinsam und gleichzeitig zu gewährleisten. Er muss der Integrität der einzelnen Person gelten und ebenso dem Geflecht gegenseitiger Anerkennungsverhältnisse, in denen Personen ihre Identität und Freiheit nur wechselseitig stabilisieren können.“[*]
Relationale Autonomie und Dialogphilosophie
Die Einbindung des autonomen Subjekts in ein Geflecht gegenseitiger Anerkennungsverhältnisse bedeutet, dass Autonomie nicht im Sinne von Autarkie missverstanden werden darf, sondern dass die relationale Dimension der Autonomie zu berücksichtigen ist. „Relationale Autonomie“ besagt also, dass ein Mensch seine Fähigkeit zu sittlicher Selbstbestimmung schon rein biographisch und empirisch nur entwickeln kann als ein Mensch, der eingebettet ist in soziale Kontexte wie Familie, Schule und andere Gruppen. Die Entwicklung der Befähigung zur Freiheit ist sozial, kulturell und historisch bedingt. Ebenso kann sittliche Autonomie nur wahrgenommen werden von Menschen, die in Beziehungsgeflechte integriert sind und die im Kontext von persönlichen Beziehungen und sozialen Gefügen ihre Autonomie wahrnehmen.
Das Stichwort der „relationalen Autonomie“ stellt aber auch ein philosophisches Korrektiv dar zu Kants Vorstellung des souveränen und unabhängigen Subjekts, das dank seiner Vernunftnatur seine eigene Identität entdeckt und nach den eigenen Prinzipien – wenn auch unter dem formalen Anspruch ihrer theoretischen Universalisierbarkeit – lebt. Der Mensch kann nicht anders denn in Beziehung und Gemeinschaft leben. Die soziale Bezogenheit ist der Ort der Identitätsfindung und der Verwirklichung der Freiheit, ein Aspekt, den besonders Martin Buber u. a. in der Dialogphilosophie herausgearbeitet haben.
Diese soziale Dimension ist nicht nur der konkrete Kontext, innerhalb dessen Autonomie gelebt wird, sondern Autonomie im Sinne von Selbstentfaltung verwirklicht sich konstitutiv in Beziehung mit den anderen. Das bedeutet für unser Thema, dass die Verantwortung füreinander und Solidarität miteinander Erfordernisse jener Verantwortung sind, die sich aus der Beziehungsnatur des Menschen ergibt, und dass soziale Verantwortung und Solidarität wesentliche Bestandteile, nicht nur Eckpfeiler der Verwirklichung von Freiheit sind. Beziehungen grenzen meine Freiheit nicht ein, sondern ermöglichen sie erst, da ich ohne den Anderen wohl Wahlfreiheiten, aber nicht den tieferen Sinn von Freiheit verwirklichen kann, nämlich als Entfaltung meiner menschlichen Qualitäten und Potentialitäten. Das bedeutet, dass der Andere nicht nur eine Grenze meiner Freiheit darstellt im Sinne von: „Meine Freiheit endet dort, wo die Freiheit des Anderen beginnt“, sondern dass sich Freiheit nur verwirklichen lässt in Beziehung zum Anderen und gemeinsam mit dem Anderen. Wenn wir in die Beziehung die sozialen Asymmetrien, Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse und daraus sich ergebende Vulnerabilitäten hineinnehmen, dann legt sich der Schritt nahe hin zu einem Freiheitsverständnis, das wir etwa beim jüdischen Philosophen Emmanuel Lévinas finden.
Wer sich mit dem Werk von Lévinas auseinandersetzt, erfährt, dass er seinen philosophischen Ansatz in strikter Abgrenzung von und als Kritik an abendländischen Konzepten des autonomen Subjekts entfaltet hat. Ich versuche, das Wesentliche seines Denkens auf den Punkt zu bringen: Nach ihm ist das autonome, unabhängige Subjekt, das sich im Denken selbst erfährt und seine Identität denkerisch in freier Selbstentfaltung entwirft, eine Art Illusion und Entfremdung von sich selbst. Vielmehr betont Lévinas, dass ich mir meiner selbst immer erst durch die Begegnung mit dem Anderen bewusst werde und dass ich meine Identität in dem Maße entdecke, indem ich mich durch die Begegnung mit dem Anderen aus meiner Selbstbezogenheit herausreißen lasse. Dieses Herausgerissen-Werden aus der Selbstbezogenheit bedeutet für ihn, den Anderen in seiner Andersheit anzuerkennen, dass ich ihn also nicht vereinnahme oder mir aneigne.
Ob ich es will oder nicht – der Andere nötigt mich dazu, mich zu ihm zu verhalten: entweder übergriffig, ihn mir aneignend bzw. seine Andersheit zerstörend – oder seine Alterität bewahrend!
Lévinas spricht genau in diesem Sinn von Verantwortung: den Anderen in seiner Alterität zu wahren und mich für den Schutz des Anderen verantwortlich zu wissen. Ob ich es will oder nicht – der Andere nötigt mich dazu, mich zu ihm zu verhalten: entweder übergriffig, ihn mir aneignend bzw. seine Andersheit zerstörend – oder seine Alterität bewahrend! Und genau hier öffnet sich nach Lévinas der Raum zur Verwirklichung von Freiheit: wie ich mich zu dieser mir vorausgehenden Erfahrung der unausweichlichen Verantwortung für den Anderen verhalte! Dass ich dem Anderen begegne, darüber kann ich nicht frei entscheiden, das ereignet sich, das liegt meiner Freiheit voraus. Aber wie ich dem Anderen begegne, darüber habe ich frei zu entscheiden – und in diesem Sinne ermöglicht der Andere überhaupt erst meine Freiheit bzw. setzt mich in meine Freiheit ein. Ich verdanke dem Anderen meine Freiheit, der Andere begrenzt nicht meine Freiheit, sondern beim Anderen beginnt meine Freiheit.
Hier eröffnet sich eine interessante Parallele zu Kant: Die ethische Verantwortung ist bei Kant wie bei Lévinas etwas, was mir als Subjekt vorausgeht, und die Entdeckung dieser Verantwortung konstituiert mich als moralisches Subjekt. Freiheit steht nicht zur Disposition, ich bin frei, ob ich will oder nicht, und das nötigt mich, Freiheit wahrzunehmen. Nach Kant werde ich dem Anspruch gerecht, indem ich mich freiwillig den sittlichen Vernunftprinzipien unterordne, nach Lévinas, indem ich mich für den Anderen verantwortlich erweise und mich gerade dadurch als Subjekt entfalte. Bei beiden ist es so, dass mir diese Entscheidung niemand abnehmen kann, sondern ich habe sie in meiner radikalen Einsamkeit und Selbstverantwortung zu treffen.
Ich danke Ihnen für die Geduld, mit der Sie mir bisher gefolgt sind. Ich bin mir bewusst, dass es eine kleine Zumutung ist, sich in pointierter und verkürzter Form mit sehr unterschiedlichen Konzepten von Freiheit auseinanderzusetzen.
„Niemand hat bei Kant das Recht zu gehorchen.“ (Hannah Arendt)
Abschließen möchte ich mit einem Zitat von Hannah Arendt, das zuletzt – m. E. missbräuchlich und sinnverstellend – auch bei Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen zu lesen war und das in Südtirol auch deshalb bekannt ist, weil es das Mussolini-Relief am Gebäude der Finanzämter am Bozner Gerichtsplatz durchkreuzt und auf diese Weise historisieren soll – allerdings wird es dort (wie meistens) verkürzt wiedergegeben: das „bei Kant“ wird unterschlagen. „Niemand hat bei Kant das Recht zu gehorchen.“
Mit diesem Satz, den Hannah Arendt in einem Interview über den Eichmann-Prozess formuliert hat, unterstreicht sie die nicht delegierbare Bedeutung, die bei Kant die Letztverantwortung des Subjekts hat. Das Subjekt muss gehorchen, aber nicht äußeren Autoritäten, sondern dem, was es selbst als gut und richtig erkennt. Darin besteht letztlich die Würde des Gewissens. Bedeutet dies nun einen Freibrief, staatlichen Gesetzen einfach nicht zu gehorchen, wie dies von manchen Demonstranten als Protest gegen die Corona-Maßnahmen mit den Beschränkungen von Freiheitsrechten verlangt worden ist? Nein, denn Arendt hat sich konkret dagegen ausgesprochen, dass der Gehorsam gegenüber ungerechten Gesetzen und gegenüber menschenverbrecherischen Befehlen in einem faschistoid-totalitären System von der persönlichen Letztverantwortung entbinde.
Die Einhaltung der Maßnahmen war umgekehrt gerade ein Akt der Verantwortung zum Schutz von einzelnen Personen sowie des Gesundheitswesens.
Im Rahmen der Covid-Pandemie haben die Maßnahmen inklusive der Einschränkung von persönlichen Freiheitsrechten nicht die aktive Verletzung von Menschenrechten bedeutet; das wäre dann geschehen, wenn sie Menschen genötigt hätten, gegen ihr Gewissen zu handeln und anderen aktiv Schaden zuzufügen. Die Einhaltung der Maßnahmen war umgekehrt gerade ein Akt der Verantwortung zum Schutz von einzelnen Personen sowie des Gesundheitswesens.
Das bewusste Mittragen der Einschränkungen war deshalb aktive Verwirklichung von Freiheit im Sinne sozialer Verantwortung, nicht nur passiv erlittene Einschränkung. Dies gilt natürlich nur in dem Maß und solange, wie die Maßnahmen zum Schutz Dritter und des Gesundheitswesens notwendig waren und die Nebenfolgen oder Konsequenzen dieser Maßnahmen nicht mehr Schaden anrichten, als man durch sie zu vermeiden versucht. Die Unsicherheit in Bezug auf einige dieser Fragen hat jedoch zur Folge, dass die Einschränkungen auf Dauer rechenschaftspflichtig bleiben, dass umgekehrt aber gesetzlicher Ungehorsam nicht gerechtfertigt ist, solange die Sinnhaftigkeit der Maßnahmen nicht evident zu hinterfragen ist und niemand gezwungen wird, dezidiert gegen das eigene Gewissen zu entscheiden.
Text: Martin M. Lintner
Dieser Text ist Teil einer Trilogie zum Thema “Freiheit und Ethik”. Teil eins erschien gestern (19.5.2022).
[*] Höhn Hans-Joachim: Diskursethik, II. Sozialethisch (22.10.2019), in: Staatslexikon 8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Diskursethik (27.04.2022).
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