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„Bald wirst du im Rollstuhl landen“, „Ich kenne jemanden, der daran gestorben ist“ oder „Das sieht man dir gar nicht an!“ – Mit derartigen Vorurteilen sehen sich Menschen mit der chronischen, noch unheilbaren Krankheit Multiple Sklerose tagtäglich konfrontiert. Auch Sophie Huber kennt diese Vorbehalte nur allzu gut. Die 28-jährige Südtirolerin teilt ihre Erfahrungen mit der Krankheit auf den sozialen Medien, um Bewusstsein zu schaffen und mit den weitverbreiteten Missverständnissen über MS- Multiple Sklerose aufzuräumen.
BARFUSS: Sophie, wie und wann hat sich bei dir die Diagnose Multiple Sklerose gestellt?
Sophie Huber: Bis zur Diagnose war es ein langer Prozess. Nach meinem Abschluss an der Oberschule im Jahr 2014 bemerkte ich, dass ich meine rechte Hand nicht mehr richtig spüren konnte. Trotzdem habe ich mir nicht allzu viele Gedanken darüber gemacht, da ich mich auf meinen Studienplatz in Wien freute und voller Vorfreude war, endlich Südtirol zu verlassen und das Studentenleben zu beginnen.
Als ich schließlich einen Handorthopäden aufsuchte, wurde mir gesagt, dass ich das Karpaltunnelsyndrom habe und so dachte ich nicht weiter darüber nach. Wenige Monate später verlor ich das Gefühl in beiden Füßen. Ich erinnere mich daran, Witze darüber gemacht zu haben, dass man mir einen Nagel durch die Füße schlagen könnte und ich es nicht spüren würde … Da es nicht besser wurde, fuhr ich in die Notaufnahme.
Es war mir immer wichtig, die Kontrolle über mein Leben zu haben, aber die Krankheit hat mir einen Teil davon genommen, denn jeder Tag kann alles verändern.
Und dort wurde dir die Diagnose gestellt?
Nein. Der Neurologe vor Ort schien nervös und telefonierte ununterbrochen, um herauszufinden, ob es irgendwo ein freies Zimmer für mich gab. Als er den Raum verließ, fragte ich die Krankenschwester, was sie glaube, was mit mir los sei. Sie meinte, ich könnte möglicherweise an ALS leiden und in wenigen Stunden überhaupt nichts mehr spüren (Anm. d. Red.: ALS ist eine unheilbare, schwere Erkrankung des Nervensystems). Sie riet mir, draußen zu warten. Also saß ich draußen, als meine Mama nichtsahnend mit frischen Gipfelen zurückkahm. Ich erinnere mich noch genau daran, wie ich zu ihr sagte, dass ich vielleicht in ein paar Stunden gar nichts mehr spüren würde und daher das Gipfele jetzt richtig genießen werde … Dort wurden dann viele weitere Untersuchen durchgeführt und ich wurde ohne eine klare Diagnose wieder nach Hause geschickt. Nach einigen Wochen erhielt ich einen Brief, in dem stand, dass ich keine MS hatte. Wenige Stunden später rief das Krankenhaus jedoch an und teilte mit, dass sie mir versehentlich den falschen Brief geschickt hatten und bei mir doch MS diagnostiziert wurde.
Wie hast du dich nach all dem Hin und Her gefühlt, als du die richtige Diagnose bekommen hast?
Ich habe mich schon während meiner Zeit im Krankenhaus wie in einem schlechten Film gefühlt. In solchen Momenten sieht man sich von außen und kann sich dadurch auch selbst beobachten. Daher habe ich versucht, mich auf andere Dinge zu konzentrieren. Außerdem habe ich sofort nach Lösungen und Maßnahmen gesucht, auch wenn ich damals natürlich gehofft habe, manche davon nie nutzen zu müssen. Zum Beispiel habe ich zu meiner Mutter im Krankenhaus gesagt, dass wir, falls es sich um etwas Ernsthaftes handelt, in die Schweiz gehen sollten, da dort Sterbehilfe erlaubt ist. Es war mir immer wichtig, die Kontrolle über mein Leben zu haben, aber die Krankheit hat mir einen Teil davon genommen, denn jeder Tag kann alles verändern. Ich könnte aufwachen und meine Beine nicht mehr spüren oder nichts mehr sehen. Das Einzige, was ich in Bezug auf die Multiple Sklerose kontrollieren kann, ist der Umgang mit der Krankheit, und hier habe ich mich dafür entschieden, positiv in die Zukunft zu blicken. Ich konzentriere mich auf das Gesamtbild und gehe erst dann aktiv auf Probleme ein, wenn sie auftreten.
Ich erinnere mich daran, wie ich in meiner Wohnung im vierten Stock in Wien aufwachte und meine Beine nicht mehr spüren konnte.
Wie ging es nach der Diagnose weiter?
Ich habe eine Therapie mit Spritzen begonnen, bei der ich mir selbst regelmäßige Injektionen verabreichen musste. Leider sind mir diese nie gut bekommen, da sie immer grippeähnliche Symptome ausgelöst haben. Das führte zu einem weiteren Schub in meinen Beinen. Ich erinnere mich daran, wie ich in meiner Wohnung im vierten Stock in Wien aufwachte und meine Beine nicht mehr spüren konnte. Zuerst wollte ich es nicht wahrhaben und überredete mich selbst, dass sie vielleicht nur eingeschlafen seien. Ich bat dann meine Freundin, ein Stückchen mit mir zu gehen. Danach habe ich es fast nicht mehr geschafft, in den vierten Stock zurückzukehren, also musste ich zurück ins Krankenhaus. Seit diesem Schub wird meine Krankheit mit Infusionen behandelt. Inzwischen habe ich über 70 Infusionen erhalten. Die Krankheit wird nicht umsonst, als die „Krankheit der 1.000 Gesichter“ bezeichnet, da sie bei jedem individuell verläuft und sehr viele Therapiemöglichkeiten bereithält.
Welche Herausforderungen stellen sich dir im Alltag und wie gehst du damit um?
Mir geht es im Moment zwar gut, aber die Krankheit ist definitiv ein Vollzeitjob. Vollzeit zu arbeiten, neben einer chronischen Krankheit, ist für viele gar nicht möglich. Immer wieder komme ich in Situationen, in denen ich erkennen muss, dass ich viele Dinge anders machen muss als andere. Das zu akzeptieren, fällt mir schwer. Zusätzlich gibt es den permanenten Vergleich mit nicht chronisch kranken Menschen. Ob es beim Yoga oder anderen Sportarten ist, ich merke, dass ich bestimmte Bewegungen meiden muss. Wenn neben mir eine 50-jährige Person zehnmal fitter als ich ist, demotiviert mich das immer wieder aufs Neue.
Wie zeigen sich sonst die Symptome deiner Krankheit? Leidest du unter anhaltenden Schmerzen?
Es gibt einerseits Schübe bei der Krankheit, andererseits gibt es individuelle Symptome, die die Krankheit mit sich bringt oder Nebenwirkungen von Medikamenten. Bei mir sind das zum Beispiel Fatigue, also chronische Müdigkeit und Brain Fog, bei dem ich nicht mehr klar denken kann und Dinge vergesse. Nervenschmerzen in den Füßen und Zittern in den Beinen begleiten mich ebenfalls. Zusätzlich bin ich mir oft nicht sicher, was wirklich die Krankheit ist und was nicht. Wann habe ich zum Beispiel nur einfache Kopfschmerzen und wann hängt es mit meiner Krankheit zusammen? Das ist schwierig zu unterscheiden. Das „Schlimmste“ an meiner Krankheit ist/war zu sehen, wie stark mein Umfeld darunter gelitten hat und immer noch leidet.
Wie gehst du damit um?
Ich versuche mittlerweile viel mit mir selbst auszumachen, denn wenn es nur mir schlecht geht, habe ich das unter Kontrolle. Mit einigen meiner Freundinnen treffe ich mich mittlerweile nicht mehr so gerne, weil sie fast jedes Mal anfangen zu weinen, wenn sie mich sehen. Das ist dann schwierig für mich, denn ich kann nicht noch mehr Kraft aufwenden, um auch noch andere zu trösten.
Leider sind wir oft unsichtbar, aber das möchte ich ändern.
Auf deinem Instagram-Account teilst du offen und ehrlich deine Erfahrungen mit Multiple Sklerose. Was hat dich dazu motiviert, deine Geschichte öffentlich zu teilen?
Ich habe lange darüber nachgedacht, ob ich’s tun soll oder nicht: Was könnten andere denken? Das war meine größte Sorge. Allerdings wurde mir schnell klar, dass ich sowieso nichts mit Leuten zu tun haben möchte, die das als eigenartig, negativ oder beängstigend empfinden würden. Auch in Südtirol gibt es viele Menschen, die an MS oder anderen chronischen Krankheiten leiden. Zu Beginn meiner Diagnose hätte ich mich über ein solches Profil, die Möglichkeit zum Austausch usw. gefreut. Daher möchte ich jetzt Menschen, die in einer ähnlichen Lage wie ich sind, Mut zusprechen und ihnen zeigen, dass es viele Betroffene gibt. Leider sind wir oft unsichtbar, aber das möchte ich ändern. Zusätzlich kursieren viele Fehlinformationen zur Krankheit und Vorurteile gegenüber Betroffenen. Das war auch einer der Gründe, warum ich meine Geschichte aus meiner Perspektive auf Instagram teile. So können die Menschen die richtigen Informationen erhalten, anstatt sich etwas auszudenken und Vermutungen anzustellen.
Wie hat deine Online-Community auf deine Krankheit und deine offene Art damit umzugehen, reagiert?
Ich bekomme viel positives Feedback und Dankbarkeit. Mehrere Betroffene haben sich bei mir gemeldet und sich dafür bedankt, dass ich so offen über die Krankheit spreche. Mit einigen von ihnen habe ich bereits telefoniert und über ihre Geschichten gesprochen. Natürlich bin ich keine Ärztin und kann nicht immer die richtigen Antworten geben, aber ich kann ihnen mit meiner eigenen Erfahrung helfen.
Man sieht mir eben nicht gleich an, dass ich krank bin. Natürlich ist das in vielen Situationen ein riesiger Vorteil, aber das Verständnis vieler Menschen gegenüber Personen mit unsichtbaren Krankheiten ist oft sehr gering.
Neulich hast du ein MS-Bullshit-Bingo auf Instagram geteilt. Wirst du oft mit Vorurteilen konfrontiert, wenn es um deine Krankheit geht?
Das ist einer der Nachteile, wenn man eine chronische Krankheit hat, die nicht sofort erkennbar ist. Man sieht mir eben nicht gleich an, dass ich krank bin. Natürlich ist das in vielen Situationen ein riesiger Vorteil, aber das Verständnis vieler Menschen gegenüber Personen mit unsichtbaren Krankheiten ist oft sehr gering. Rücksicht und Empathie sucht man hier vergebens. So entstehen viele Annahmen und Vorurteile wie: „Mir kommt vor, so schlecht geht es ihr gar nicht, ich sehe sie immer überall unterwegs.“ oder: „Ja, man hat ihr schon immer angesehen, dass sie komisch geht oder etwas hat.“
Ist unsere Gesellschaft zu wenig sensibilisiert für chronische Krankheiten?
Ja. Die Gesellschaft weiß zu wenig über MS. Oft höre ich Aussagen wie: „Ah, das ist die Krankheit mit Muskelschwund!“ oder „Ich kenne jemanden, der daran gestorben ist.“ Man fragt sich dann, was die Leute mit solchen Äußerungen bezwecken. Zum einen ist es falsch, weil man nicht an MS selbst stirbt, sondern an anderen Ursachen, die dazu beitragen und zum anderen ist es auch nicht gerade ermutigend. Viele sind auch fest davon überzeugt, dass man definitiv im Rollstuhl landet, obwohl sich die Krankheit auch auf andere Nerven auswirken kann und man beispielsweise blind werden kann, andere vielleicht nur einmal einen Schub bemerken und bei wieder anderen die Krankheit unerkannt bleibt. Generell ist die Angst vor dem Rollstuhl in unserer Gesellschaft riesig. Natürlich wünsche ich mir das auf keinen Fall, aber sollte es bei mir eintreffen, muss ich einen Weg finden, damit klarzukommen.
Wenn es auch unfair erscheint, dass ich das jetzt durchmache, habe ich mir trotzdem immer gesagt: „Komm, Sophie, wenn das jemand schafft, dann du!“.
Inwiefern hat die Krankheit deine Perspektive auf das Leben verändert, und gibt es positive Aspekte, die du durch deine Erfahrungen gewonnen hast?
Das ist eine Frage, die ich mir selbst schon oft gestellt habe. Ich weiß nicht, wer ich jetzt wäre und was ich jetzt machen würde, wenn ich die Krankheit nicht hätte. Eines ist klar: Natürlich hätte ich sie lieber nicht! Aber ich war immer schon positiv eingestellt und hatte eine optimistische Sicht aufs Leben. Ich habe aber gelernt, direkter zu werden und klarere Grenzen zu setzen. Früher konnte ich nie Menschen absagen oder mir mal Zeit für mich gönnen, das musste ich lernen. Zudem glaube ich, dass ich mehr Verständnis und Empathie für bestimmte Situationen entwickelt habe.
Welchen Rat würdest du anderen Menschen geben, die selbst von Multiple Sklerose betroffen?
Es ist besonders wichtig, sich bei vertrauenswürdigen Quellen zu informieren. Die Suche nach Vorbildern, die stark und positiv mit ihrer Situation umgehen, kann hilfreich sein. Mir persönlich hat es sehr geholfen, darüber zu reden, aber das ist sicherlich bei allen anders. Es kann helfen, positiv in die Zukunft zu blicken. Ich bin nicht gläubig, aber als ich einmal im Krankenhaus war, habe ich einen Spruch gelesen: „Gott gibt dir nur das, was du selbst ertragen kannst.“ Wenn es auch unfair erscheint, dass ich das jetzt durchmache, habe ich mir trotzdem immer gesagt: „Komm, Sophie, wenn das jemand schafft, dann du!“. Auch wenn man sich manchmal Dinge nur einredet, kann das helfen. In solchen Situationen braucht man irgendeine Art von spirituellem Halt.
Weiterführendes …
Zur Krankheit:
Multiple Sklerose (MS) ist eine entzündliche Erkrankung des Zentralen Nervensystems, die Gehirn und Rückenmark betrifft und in der Regel im frühen Erwachsenenalter beginnt. Die Krankheit wirft noch viele Fragen auf und Verlauf, Symptome und Erfolg der Therapie können bei jedem/r Patient:in so unterschiedlich sein, dass es schwer ist, allgemein gültige Aussagen zu machen. Daher wird MS auch oft als die „Krankheit mit den 1.000 Gesichter” bezeichnet.
Weitere Infos zur Krankheit: Was ist MS? | DMSG
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