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Veröffentlicht
am 03.07.2024
LebenDepression

Antidepressiva zum Frühstück

Veröffentlicht
am 03.07.2024
TW: Depression | Über 20 Jahre dauerte es, bis unsere Autorin die Diagnose „rezidivierende Depression“ bekam. Wie es sich anfühlt, depressiv zu sein, erzählt sie in diesem Erfahrungsbericht.
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Ich habe einen Freund und dem geht es nicht gut. Er hat große Zweifel an sich selbst, lässt alle Probleme – die kleinen und die großen – so nah an sich ran, dass sie ihn von innen auffressen. Er hat oft große Ängste und manchmal stößt er mich weg und alle anderen, die ihm nahe stehen. Er sagt dann so Dinge wie: „Ohne mich wären alle besser dran.“ Leider weiß ich genau, was er meint. Denn wenn ich ihn jetzt in seinem emotionalen Tunnel sehe, erkenne ich mich selbst wieder. Mein Freund ist in jeglicher Hinsicht ein Spiegelbild meines Selbst – auch in dieser traurigen: Denn bis vor ein paar Monaten hatte ich denselben leeren Blick, dieselben bösen Gedanken und ja, ein oder zwei Mal habe ich es auch laut ausgesprochen, dass ich mit meinem Auto am liebsten gegen einen Baum oder eine Mauer fahren würde. Egal wogegen, Hauptsache mit genügend Geschwindigkeit und mit der Musik so laut aufgedreht, dass ich all das, wovon ich wegfahre, nicht mehr höre.

Zwischen Marmeladebrot, Escitalopram und „schlechten Phasen“
Meine Kinder und mein Mann sitzen schon am Tisch. Die beiden großen Kids löffeln Müsli, der Kleine beißt von seinem Butter-Marmelade-Brot ab und brabbelt in seiner Kleinkindsprache mal mehr, mal weniger verständliche Worte. „Ladeboot“, sagt er und alle lachen. Bevor ich mich dazusetze, öffne ich die Schublade und pule meine tägliche Tablette Escitalopram aus der Medikamentenpackung. Rein in den Mund. Mit Wasser nachspülen. Dann setze ich mich zum Tisch und hoffe, dass die Stimmung halbwegs gut bleibt. Wenn sie kippt, dann beginnt der Tag anstrengend und jede noch so kleine Streitigkeit bedeutet für mich momentan eine enorm große Belastung. Ich stecke mitten in einer Behandlung gegen die Depression. 

Im Laufe meines Lebens hatte ich immer wieder Phasen, in denen es mir „mal nicht so gut ging“. Schon als Kind verspürte ich den Drang zu verschwinden, von daheim wegzugehen und die familiären Schwierigkeiten hinter mir zu lassen. Meine Eltern, meine Freund:innen und auch ich selbst schoben meine Stimmungslagen auf einschneidende Ereignisse und die hormonelle Umstellung in der Pubertät. Meistens herrschte nur Unverständnis vor, als ich mich im Badezimmer eingesperrte und mich auf dem Boden vor Kummer und emotionalem Schmerz krümmte. Wenn ich kaum Luft bekam und mir vor Schnappatmung fast schwindelig wurde. Ich habe nie darüber nachgedacht, warum ich in meinen Reaktionen so extrem war, in meiner Traurigkeit, meiner Wut, meiner Eifersucht. Ich dachte: So bin ich halt einfach.

Erst als ich älter wurde und begann, mich bewusster mit mir selbst und meinem Umfeld auseinanderzusetzen, mich wegen meiner jahrelangen Alpträume behandeln zu lassen und ich mit dem Begriff Hochsensibilität zum ersten Mal in Kontakt kam, lernte ich mich nach und nach besser kennen. Doch an Depressionen kamen mir nie in den Sinn. Damals galten Depressionen noch mehr als ein gesellschaftliches Tabuthema als heute. Wenn man nie etwas darüber hört, wie soll man dann wissen, dass es diese Krankheit wirklich oft gibt? Dass es nicht nur ab und zu mal jemanden trifft? Und bestimmt auch jemanden aus dem engen Kreis? Und sogar auch einen selbst? Laut WHO sind es weltweit schätzungsweise 350 Millionen Menschen. Und trotzdem fühlt man sich als Betroffene:r doch irgendwie ziemlich alleine.

Der Anblick des Meeres im Sommerurlaub hat rein gar nichts in mir ausgelöst. Dabei liebe ich das Meer.

Ein Meer aus Nichts
Das erste Mal, als ich wirklich merkte: „Ok, irgendwas stimmt nicht mit mir“, war vor etwa eineinhalb Jahren. Zu dem Zeitpunkt verschwand eine Frau und die Suche nach ihr ging landesweit durch die Medien. Ich fieberte mit, hoffte für die Angehörigen, sie mögen sie finden, aber ich dachte auch: „Ich beneide sie. Wie gerne möchte ich auch einfach nur verschwinden und niemand findet mich.“ Warum denke ich so was? Warum möchte ich verschwinden? Ich habe doch gerade mein drittes Kind bekommen und ich habe es sehr lieb. Was ich damals nicht wusste: Ich litt an einer postpartalen Depression. Ich hatte Tage, an denen ich nicht aus dem Bett wollte. Der Anblick des Meeres im Sommerurlaub hat rein gar nichts in mir ausgelöst. Dabei liebe ich das Meer. Ich schwankte zwischen Gefühlstaubheit und extremen Gefühlsausbrüchen, dazwischen gab es nichts. Ich war ein Meer aus Nichts. Keiner hat erkannt, was mit mir los war, nicht einmal ich selbst. Also ist nichts weiter passiert. Kein Anruf bei einer:m Therapeut:in, kein „Wie kann ich dir helfen?“, nur ein „Das wird schon wieder werden“ von meinem Mann. Nichts ist passiert, nur die Zeit, die Tag für Tag verstrich und irgendwann wurde es wieder besser. Ich hatte Glück.

Kraftlos
Doch als sich nach einigen Monaten mehr und mehr Probleme in unsere Beziehung einschlichen, ich kaum noch schlief und ich erneut mit meinem Muttersein innerhalb der Gesellschaft und der Familie anfing zu strugglen, ging es mir wieder schlechter. Meine Vorstellungen vom Familienleben und die Realität waren wie eine Schere, die immer weiter auseinanderklaffte. Das Erstaunliche ist, dass ich es gar nicht mitbekommen habe. Es war mir nicht bewusst, wie nah ich bestimmte Dinge plötzlich an mich rangelassen habe, wie oft ich plötzlich explodierte oder in Tränen ausgebrochen bin. Ich habe düstere Texte geschrieben und sehr traurige, manchmal konnte ich gar nicht mehr schreiben, weil ich so leer war. Ich hatte keine Lust mehr, meine Freundinnen zu treffen – jeglicher sozialer Kontakt war mir zuwider. Wenn mehrere Menschen zusammen kamen, hat mich das komplett überfordert – das tut es heute noch. Der Mental Load hat mich erdrückt, sodass ich immer öfter Dinge vergessen habe, fast täglich bin ich auf dem Sofa eingeschlafen, ich habe auf Whatsapp-Nachrichten nicht geantwortet. Einfache Dinge, wie Einkaufen oder Kochen, überforderten mich. Es war keine Kraft mehr da, mein Körper funktionierte wie auf Autopilot. Ich habe Türen geschlagen, rumgeschrien und meine Kinder dadurch verängstigt. Ich habe mir heimlich gegen den Kopf geschlagen, wenn mir alles zuviel wurde und mir meine Fingernägel in die Arme gedrückt, bis es weh tat. Erst als mein Partner und ich kein normales Wort mehr miteinander wechseln konnten, habe ich den Kontakt zu meiner Psychologin wieder aufgenommen, die ich schon vor ein paar Jahren besuchte. Eine meiner besten Freundinnen hat mich dazu gedrängt. Sie sagte: „Du musst was tun. Ruf eine Therapeutin an oder fahre ins Krankenhaus. Tu irgendwas, aber lass dir bitte helfen.“ Ich musste es ihr versprechen.

Und da saß ich nun wieder im Behandlungsraum und sprach über mich und meine Beziehung und über meine Kinder und über meine Gedanken und mein Gedankenkreisen und hatte nach ein paar Sitzungen das Gefühl, nicht wirklich weiterzukommen. Und ich weiß noch, wie ich dachte: Ich sage dir, dass ich eigentlich tot sein will und wir quatschen hier nur blöd rum? Willst du mich nicht einweisen lassen?

Monatelang fühlte ich mich wie in einer Seifenblase.

Nach ein paar Sitzungen meinte die Psychologin, sie könne mir an diesem Punkt nicht mehr weiterhelfen, dass ich mit meinem Partner eine Paartherapie aufsuchen sollte und es mir dann besser gehen würde. Ich fühlte mich im Stich gelassen. Ich stieg ins Auto und machte mich auf den Heimweg, war wütend und traurig und fühlte mich allein auf dieser Welt. Ich sah keinen Ausweg mehr. Und dann hab ich es getan, habe meine Augen während des Fahrens geschlossen, ein paar Sekunden lang. Aber nichts passierte. Meine Augen waren wieder offen. Ich fuhr nach Hause und fiel in mein allertiefstes Loch.

Monatelang fühlte ich mich wie in einer Seifenblase, die – ohne etwas zu berühren oder etwas wahrzunehmen – durch eine kleine beengende Welt flog und die gleichzeitig jeden Augenblick zu platzen drohte und mit ihr all meine unkontrollierten Gedanken und Gefühle. Mein Talent, mir von außen nichts anmerken zu lassen, griff nicht mehr – die, die mich gut kennen, merkten mir an, dass es mir nicht gut ging. Man sah es in meinem Blick. Er war leer und müde. Unzählige Male wünschte ich mir beim Einschlafen, ich möge am kommenden Morgen nicht mehr aufwachen.

Die Diagnose Schwarz auf Weiß
Einige Wochen später. Eine neue Sitzung bei einer neuen Psychotherapeutin, gleichzeitig Psychiaterin. Alles wieder auf Anfang. Ich muss wieder reden und erzählen, alles von vorne. Kindheitsgeschichte, meine Alpträume. Die Beziehung zu meinen Eltern, meinen Geschwistern. Meine Liebesbeziehungen, meine Kinder. Jedes kleinste Detail. Es ist so wahnsinnig anstrengend und eigentlich habe ich gar nicht mehr die Kraft dafür. Sie ist inzwischen die vierte Therapeutin in meinem Leben und ich weiß heute noch nicht, ob ich auf einer Wellenlänge mit ihr bin. Sie wirkt so positiv, immerzu nett, so gefestigt in ihrem Leben, ihrem Glauben. Sie ist alles, was ich nicht bin. Aber: Sie erkennt sofort, wie schlecht es mir geht. Sie verordnet mir ein psychiatrisches Gutachten, bei dem ich nach all der Zeit endlich eine fachärztliche Beurteilung bekomme: „Rezidivierend depressive Störung, derzeit mittelgradige depressive Episode mit Angst und Schlafstörung“. Da steht es nun: Schwarz auf Weiß. Die Buchstaben starren mich gnadenlos an. Ich muss nochmal nachgoogeln, obwohl es mir die Psychologin schon erklärt hat, aber ich muss es nochmal in Ruhe nachlesen, um es zu begreifen: Eine rezidivierende (wiederkehrende) Depression zeichnet sich dadurch aus, dass Betroffene mehrere depressive Phasen im Leben haben, die unterschiedlich lang und schwer sein können. Die Ursachen dafür können seelischer und/oder körperlicher Natur sein, also belastende Lebensereignisse und/oder ein Mangel an bestimmten Botenstoffen im Gehirn. „Das hab ich also“, denke ich. „Deswegen ging es mir schon als Teenager manchmal so. Und als Erwachsene immer wieder. Darum habe ich mein Leben lang schon diese furchtbaren Alpträume, Nacht für Nacht.“ Und ich frage mich, warum ich nicht viel früher darauf gekommen bin. Oder jemand in meiner Umgebung. Immer hieß es: „Dafür, was sie schon alles so mitgemacht hat, ist sie ziemlich resilient.“ Damit meinten sie die schwierigen Familienverhältnisse, in denen ich aufwuchs und alles, was diese im sozialen wie im persönlichen Kontext mit sich brachten. Alles in allem könnte man es so zusammenfassen: In meinem Leben hatte nie etwas wirklich Bestand. Dass ich selbst immer nach alten Mustern handelte und lebte, war mir bis dato nicht wirklich bewusst.

Um nicht in Panik zu geraten, versuche ich, nicht das große Ganze zu sehen, sondern immer nur den nächsten Schritt.

Schritt für Schritt
Mit der Diagnose und einer Verschreibung für ein leichtes Antidepressiva gehe ich also an jenem Abend Ende Januar nach Hause – mit diesem Zettel in der Hand, der mir verrät, was los ist mit mir. Ich versuche zu verstehen, wie ich so lange auf diese Weise leben konnte. Seither nehme ich jeden Morgen das Medikament zum Frühstück. Eine kleine weiße Tablette. Am Anfang war es seltsam, aber ich versuchte es als medizinische Behandlung, die es ja auch ist, zu betrachten: Der Wirkstoff des Antidepressivums blockiert gezielt und mit hoher Potenz die Wiederaufnahme von Serotonin aus dem synaptischen Spalt (Anmerkung d. Red.: Serotonin ist ein Neurotransmitter, der an der Regulierung von Stimmung, Appetit und Schlaf beteiligt ist). Dadurch kann das Serotonin an der postsynaptischen Membran eine längere Wirksamkeit entfalten, sagt Doktor Google, den ich natürlich auch diesbezüglich genau um Rat gefragt habe. Heißt: Das Antidepressiva sorgt dafür, dass ich im Großen und Ganzen stabiler bin, ich emotional nicht mehr so schnell in ein Loch falle. In Kombination mit der psychologischen Behandlung merke ich schon nach ein paar Wochen, dass die Therapie anschlägt, dass ich nicht mehr so schnell in Tränen ausbreche, mich in Dinge nicht mehr so stark hineinsteigere. Ich lerne meine persönlichen Triggermomente kennen, wie ich besser mit ihnen umgehe und wie ich sie kommunizieren kann. Trotzdem dauert es. Es dauert noch immer. Ich kann nicht verhindern, dass schlimme Dinge passieren und natürlich treffen sie mich trotzdem, sie treffen mich tief. Und ja, dann falle ich mal wieder in ein Loch, aber irgendwie schaffe ich es dann trotzdem immer wieder raus. Vielleicht besitze ich ja wirklich diese Resilienz, von der die anderen immer reden …

Aber Angst habe ich weiterhin. Angst, dass ich aus zukünftigen Gefühlskarussellen nicht mehr rauskomme. Dass Probleme, die auf mich zukommen werden, mich mit ihren Klauen zu Boden reißen. Dass sie mich dort festhalten und ich nicht mehr die Kraft habe, mich von ihnen zu lösen. Dass ich nicht die Mutter sein kann, die sich meine Kinder verdienen und nicht mehr die Frau, in die sich mein Mann mal verliebt hat. Ich habe Angst, nie mehr ganz zu mir selbst zurückzufinden. Meine medikamentös-therapeutische Behandlung wird noch viele Monate dauern und wie es dann sein wird, weiß ich nicht. Um nicht in Panik zu geraten, versuche ich, nicht das große Ganze zu sehen, sondern immer nur den nächsten Schritt.

Ich habe einen Freund und dem geht es nicht gut. Er hat noch immer große Zweifel an sich selbst, lässt alle Probleme – die kleinen und die großen – so nah an sich ran, dass sie ihn von innen auffressen. Er zieht sich zurück, unterdrückt seine Gefühle. Er weint und schreit nicht, sondern sagt Dinge wie: „Augen zu und aus, das wäre das Beste.“ Ja, das hier ist auch die Geschichte meines Freundes und auch all jener, die gerade eine diagnostizierte oder nicht diagnostizierte Depression erleben. Und ich weiß, sie wünschten – so wie ich – sie hätten schon als Jugendliche mehr über Depressionen gewusst, darüber, dass es jede:n treffen kann. Sie wünschten – so wie ich – die mentale Gesundheit würde der körperlichen gleichgestellt werden. Dass negative Gefühle genauso Platz haben dürfen in unser aller Leben. Und sie wünschen sich – so wie ich – eine Entstigmatisierung und dass Floskeln, wie „Die (jungen) Menschen von heute sind nicht mehr belastbar“ oder „Der ist nicht ganz normal“ endlich aus dem gesellschaftlichen Vokabular gestrichen werden. Durch diese Akzeptanz würde es uns Betroffenen vielleicht leichter fallen, uns zu öffnen und wir würden uns vielleicht trotzdem noch ganz ok finden, auch wenn wir uns gerade nicht so fühlen. Denn – und das möchte ich noch sagen – eine psychische Erkrankung bestimmt am Ende niemals, wer wir sind.

Wenn du Hilfe brauchst, zögere nicht!

Hilfreiche Links:
Du bist nicht allein – Psychologische Hilfe in Krisenzeit
Psychologischer Dienst | Bezirk Bozen (sabes.it)
Seelische Not – Caritas Diözese Bozen-Brixen – Südtirol
Hilfe und Beratung (forum-p.it)

Psychologischer Dienst (24 h):
Bozen 0471 435001
Meran 0473 251000
Brixen 0472 813100
Bruneck 0474 586220

Telefonseelsorge der Caritas
0471 052 052

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