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Teresa Putzer
Veröffentlicht
am 21.12.2023
LebenZwischen festlichem Glanz und psychischer Belastung

„An Weihnachten muss ich so tun, als wäre ich glücklich …“

Veröffentlicht
am 21.12.2023
Hinter den Lametta-Vorhängen: Das Fest der Liebe und Familie reißt bei vielen Menschen Wunden auf, verursacht neue und kann durch und durch belastend sein. Aber warum können diese Tage so erhebliche Auswirkungen auf unsere mentale Gesundheit haben?
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Willkommen im Monat Dezember, dem Monat der sozialen Erwartungen. Während die Weihnachtsbeleuchtung die Straßen in ein festliches Lichtermeer taucht, wächst der Druck, die perfekte Weihnachtsidylle zu schaffen. Die Erwartungen lasten schwer auf den Schultern, Geschenke müssen sorgfältig ausgewählt, das Festessen bis zur Perfektion zubereitet und die heile Familienwelt inszeniert werden. Für so manche stellt die Weihnachtszeit eine ernsthafte psychische Belastung dar, die mit verschiedenen Herausforderungen verbunden ist.

„In der Weihnachtszeit verzeichnen wir eine verstärkte Nachfrage nach psychologischen Erstgesprächen“, sagt Sabine Cagol, die Präsidentin der Psycholog:innenkammer. Sie erklärt, dass die festliche Saison häufig mit Stress und Anspannung einhergeht. Menschen empfinden den Druck, die Erwartungen ihrer Familie und Freunde erfüllen zu müssen, und haben oft die Sorge, Fehler zu machen. Dieser Stress kann zu psychischen Herausforderungen führen, erläutert Cagol.

Das Interesse an psychologischer Unterstützung nimmt bereits im Herbst zu und steigt umso mehr an, je näher das Jahresende rückt. Cagol erklärt: „Wir wissen, dass jedes Jahr in der Winterzeit die Anzahl depressiver Verstimmungen steigt. Viele verspüren erhöhten Stress – in der Schule geht das erste Semester zu Ende, bei der Arbeit bedeutet es den Jahresabschluss, es wird Bilanz gezogen …“           
Damit einher geht automatisch ein Mangel an Ressourcen: „In der Weihnachtszeit können wir leider nicht alle Anfragen unterbringen. Ich versuche, auf alle Anfragen zu antworten, bin mir jedoch bewusst, dass ein Therapieplatz im Moment oft unmöglich ohne Wartezeit zu bekommen ist. Zum Glück gibt es in Südtirol Krisentelefone und Krisendienste im Sanitätssystem, an die man sich teilweise auch rund um die Uhr melden kann.“

„Am 24. feiere ich mit meiner Familie. Danach verschanze ich mich in meine Wohnung und versuche die Gefühle, die Weihnachten mit sich gebracht hat, zu verarbeiten.“

BARFUSS-Leserin

Auch einige Leser:innen von BARFUSS scheinen von der mentalen Belastung in der Weihnachtszeit betroffen zu sein. Sie geben an unter den sozialen Erwartungen an Weihnachten zu leiden und verbinden die Festtage eher mit Stress als mit Ruhe und Entspannung. Laut einer Social-Media-Umfrage freut sich nur etwa die Hälfte der Befragten auf die Weihnachtszeit. Etwa 40 % empfinden die Feiertage als belastend, weshalb sie sich nicht ausschließlich auf das Fest freuen können. Zehn Prozent gaben an, sich überhaupt nicht auf diese Zeit zu freuen. Die Gründe dafür sind vielfältig und reichen von Stress über mentale Gesundheitsprobleme bis hin zur wahrgenommenen Falschheit der festlichen Atmosphäre und Pseudoharmonie in so manchen Familien.

Wenn der festliche Schein sozialen Erwartungen weicht
„Oft melden sich während der Weihnachtszeit ehemalige Patient:innen bei mir zurück, die aufgrund erhöhter Stressfaktoren erneut in eine Krise geraten – oder, wie ich es lieber ausdrücke, eine kleine Ehrenrunde drehen“, erzählt Cagol.

„Durch meine Borderline-Erkrankung leide ich an extremen Gefühlslagen. Da ist die Weihnachtszeit besonders schwierig …“

BARFUSS-Leserin

Die Psychotherapeutin berichtet, dass in dieser Zeit verschiedene Stressfaktoren aufeinandertreffen. Cagol betont: „An Weihnachten unterwerfen wir uns alle der Verpflichtung, so zu tun, als ob alles in Butter wäre. Das erlebe ich oft im Gespräch mit Patienten: Nicht die Frage ‘Was koche ich zu Weihnachten?’, sondern ‘Wie viel Anstrengung wird mich das Essen mit der Schwiegermutter kosten?’ oder ‘Wie kann ich das gemeinsame Fest mit dem Vater meiner Kinder überleben, der auch noch seine nächste neue Flamme dabei hat?’ – das ist für die Menschen eine große Herausforderung.“

Der gesamte Weihnachtsrummel erzeugt demnach einen erheblichen Druck: „Sind die Geschenke gerecht verteilt?“ oder „Wurden meine Wünsche berücksichtigt?“ Geschenke können sogar zu Verwicklungen führen, wenn sich jemand nicht genug wertgeschätzt fühlt oder Erwartungen enttäuscht werden.

„Ich hoffe einfach, dass bald nach Weihnachten die Weihnachts-Deko abgebaut wird und mich nicht jede Straßenlaterne an dieses bescheuerte Fest erinnert.“

BARFUSS-Leserin

Festliche Spannungen: Familie und Konflikte
Es gibt unterschiedliche Arten von familiären Konflikten, die beim Zusammenkommen der Familie auftreten können, verrät Sabine Cagol. Oft handelt es sich um jene, die nicht angemessen verarbeitet wurden und daher erneut aufflammen. Bei lang andauernden, älteren Konflikten ist es natürlich schwierig, sie an den Weihnachtsfeiertagen zu lösen. Cagol ist mit dem zweischneidigen Schwert der Weihnachtsfeiertage vertraut: „Auf der einen Seite steht die Sehnsucht nach einer heilen Familie und all den schönen Erinnerungen an vergangene Weihnachten. Auf der anderen Seite liegt eine tiefe Anspannung durch ungelöste Konflikte. Es lohnt sich, diese Konflikte anzusprechen und nach Möglichkeit zu vertagen. Man kann beispielsweise sagen: ‘Wir haben uns letzthin viel gestritten. Lass uns heute zusammen ein friedliches Weihnachtsfest haben. Trotzdem wäre es mir wichtig, dies zu einem anderen Zeitpunkt mit dir zu klären.’“ Die Klärung von Konflikten bei gleichzeitig harmonischem Zusammensein sei kein realistisches Ziel.

„An Weihnachten spielt die Großfamilie heile Welt und ich muss so tun, als wäre ich glücklich. Alles, was mich ausmacht, muss ich vertuschen: meine lesbische Beziehung, meine mentale Gesundheit, meine feministische Grundeinstellung.“

BARFUSS-Leserin

Die Psychologin betont, dass die Kindheit oft von positiven Assoziationen mit Weihnachten geprägt ist, wodurch hohe Erwartungen an das Fest entstehen. Sie rät dazu, sich von dieser Erwartungshaltung zu lösen und Weihnachten als ein Ritual zu erleben, auf das man sich immer wieder besinnt. Menschen, die feste Weihnachtstraditionen pflegen, fühlen sich oft mit ihren Wurzeln verbunden, was zu einem Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit führen kann.

Auf die Frage, ob bestimmte Persönlichkeitstypen anfälliger für stressbedingte Probleme in der Weihnachtszeit sind, antwortet die Expertin mit „Ja“. Laut ihr sind insbesondere Perfektionist:innen, aufgrund ihres hohen Anspruchs an sich selbst, häufig von stressbedingten Symptomen betroffen. Aber nicht nur: Menschen mit einer starken sozialen Orientierung, die gerne in Gesellschaft sind, können ebenfalls besonders von Weihnachten betroffen sein, da plötzlich alle sehr beschäftigt sind. Fehlt ihnen während der Feiertage ausreichend soziale Interaktion, können sie sich einsam und isoliert fühlen. Emotionale Menschen, die ihre Gefühle intensiv erleben, können während der Festtage, wenn viele Emotionen aufkommen, stark gestresst sein. Menschen mit einem hohen Kontrollbedürfnis, die gerne die Kontrolle über ihr Leben haben, leiden, wenn sie während der Feiertage das Gefühl haben, die Kontrolle zu verlieren.

„Zu Weihnachten kehre ich in mein Heimatdorf zurück, in welchem ich Mobbing und Gewalt erlebt habe. Ich habe Angst vor den Gefühlen, die dabei wieder hochkommen werden.“

BARFUSS-Leserin

Zwischen besinnlicher Stille und stiller Einsamkeit
Während für viele Menschen Weihnachten ein Fest der Liebe und Gemeinschaft ist, erleben andere in den kalten Monaten tiefe Einsamkeit. Nicht jeder hat die Möglichkeit, die Feiertage im Kreise von Familie oder Freund:innen zu verbringen.„Menschen, die in dieser Zeit Einsamkeit empfinden, können mit negativen Emotionen wie Traurigkeit, Wut und Verzweiflung konfrontiert sein. Diese Gefühle können zu Depressionen, Angstzuständen und Suizidalität führen“, erläutert die Psychologin. Die Feierlichkeiten verstärken oft das Gefühl der Isolation, wenn leere Plätze am Tisch schmerzhaft auffallen.

„Ich habe mich vor Jahren mit meiner Familie zerstritten. Seit damals herrscht Funkstille zwischen uns … Ich habe niemanden, mit dem ich feiern kann.“

BARFUSS-Leser

In diesem Zusammenhang betont Cagol klar, dass allein zu sein nicht zwangsläufig Einsamkeit bedeutet: „Als einsam gilt nur jemand, der das Alleinsein als schmerzhaft empfindet, sich isoliert oder nirgendwo zugehörig fühlt.“ Die Psychologin erklärt, dass das Gefühl der Einsamkeit nicht grundsätzlich negativ ist; es ist sogar lebenswichtig. Einsamkeit motiviert uns dazu, uns neu zu organisieren und sozialen Kontakt zu suchen. Wer Weihnachten allein verbringt, sollte dennoch das Fest aktiv vorbereiten und im Voraus Pläne schmieden. Dies kann beispielsweise ein Buch sein, das man schon lange lesen wollte, oder ein Film. Auch ein geschmückter Weihnachtsbaum oder ein besonderes Essen können hilfreich sein. Dadurch entsteht ein aktives Gefühl, das der Einsamkeit entgegenwirkt. Es kann auch heilsam sein, sich der Einsamkeit zu stellen. In einigen Fällen erkennen die Betroffenen dann, dass das Alleinsein keine Katastrophe ist, berichtet die Psychologin.

Ein festlich-emotionaler Hindernislauf
Die Weihnachtszeit ist auch eine Periode erhöhter finanzieller Belastungen. Geschenke, Festessen, Dekorationen und Reisen können zu erheblichen Ausgaben führen, was bei vielen Menschen zu Geldsorgen und finanziellen Engpässen führt. Der Druck, in der festlichen Saison großzügig zu sein, kann nicht nur den Geldbeutel belasten, sondern auch erheblichen Stress verursachen.

Für andere löst die Weihnachtszeit schmerzhafte Erinnerungen aus, insbesondere wenn geliebte Menschen fehlen oder schwierige Lebenssituationen vorliegen. Die Diskrepanz zwischen der allgemeinen Feststimmung und persönlichen Herausforderungen kann zu emotionaler Belastung und führen. Die fröhliche Welt draußen steht im krassen Kontrast zu persönlichen Kämpfen, die in all der festlichen Vorfreude oft übersehen werden.

„Es ist für mich hart zu Weihnachten meine älteren Verwandten zu sehen, die krank, gebrechlich und schwach sind und sich immer mehr dem Tod nähern …“

BARFUSS-Leserin

Um unangenehmen Gefühlen vorzubeugen und auf bestimmte Situationen vorbereitet zu sein, empfiehlt Cagol, das Weihnachtsfest im Voraus zu reflektieren. So kann man bereits im Vorfeld nach individuellen Lösungen für die eigene Stressregulation suchen oder Strategien für Situationen mit erhöhtem Konfliktpotenzial planen. Oft haben Menschen außerhalb von Stresssituationen viel bessere Ideen. Allein die Vorbereitung auf mögliche kritische Momente entspannt oft schon sehr, verrät die Pschotherapeutin.

Die Therapeutin fügt hinzu, dass gesellschaftliche Erwartungen und Traditionen die emotionale Gesundheit während der Weihnachtszeit aber auch positiv beeinflussen können. Die Weihnachtszeit ist eine Zeit des Zusammenkommens und des Gefühls der Zugehörigkeit, was sich positiv auf die emotionale Gesundheit auswirken kann. Festliche Dekorationen, Geschenke und die Zeit mit den Liebsten können positive Gefühle wie Freude, Glück und Dankbarkeit auslösen.

„In Zukunft möchte ich meiner „Wahlfamilie“ an Weihnachten einen Raum der Offenheit bieten. Ich bin es satt, bei meiner Familie an Heiligabend auf heile Welt spielen zu müssen, während mich alles nur schmerzt und triggert.“

BARFUSS-Leserin

Verkürzt kann man also behauptet, dass es inmitten der Weihnachtszeit eine unterschätzte Dunkelheit gibt, die viele durchleben. Während die meisten Menschen Weihnachten mit Freude und Liebe verbinden, ist es wichtig anzuerkennen, dass dies nicht für alle gleichermaßen gilt. Die festliche Saison kann für einige eine echte Herausforderung darstellen, sei es aufgrund sozialen Drucks, Einsamkeit, finanzieller Belastung oder schmerzhafter Erinnerungen. Das Bewusstsein dafür kann dazu beitragen, mehr Unterstützung für diejenigen zu schaffen, die die festliche Saison mit gemischten Gefühlen erleben. Denn manchmal ist das größte Geschenk, das wir geben können: Verständnis.


Ratschläge von Psychotherapeutin Sabine Cagol für die Selbstfürsorge während der Weihnachtszeit:

Setzen Sie sich realistische Erwartungen

Versuchen Sie nicht, alles perfekt zu machen.
Es ist in Ordnung, wenn nicht alles nach Plan läuft.

Nett sein zu sich

Nehmen Sie sich Zeit für sich selbst, für Aktivitäten, die Ihnen Spaß machen und die Sie entspannen.

Sprechen Sie mit jemandem, dem Sie vertrauen

 Wenn Sie sich gestresst fühlen, sprechen Sie mit Freund:innen, einem Familienmitglied oder einem/r, Therapeut:in.

Wertschätzung für die kleinen Dinge

Menschen, die in ihrer Kindheit gelernt haben, die kleinen Dinge im Leben zu schätzen, sind eher dazu geneigt, die Weihnachtszeit mit Dankbarkeit zu verbinden. Dies kann zu einem Gefühl der Zufriedenheit und Erfüllung führen.

Weiterführende Links und Telefonnummern:

Psychologische Hilfe in Krisenzeiten

Psychologischen Dienst 24h
Bozen 0471 435001, Meran 0473 251000, Brixen 0472 813100 und Bruneck 0474 586220

Telefonseelsorge der Caritas 0471 052 052

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