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Als Laura* vor etlichen Jahren aus dem Sommerurlaub zurückkehrte, fiel ihr zweierlei auf: Ihre Mutter, die weinte, und diese halszuschnürende Stille. Ihr Bruder, 8, war tot, ein Verkehrsunfall, und ihre Eltern überfordert. „Niemand sprach mit mir und meiner Schwester“, sagt sie, „sie wollten uns beschützen und hielten uns fern, vom offenen Sarg, von der Beerdigung, von der Trauer.“ Der Name des Toten wurde so gut wie nie ausgesprochen, über Gefühle geschwiegen. Selbst Laura sprach selten über ihren Bruder, weil sie es nicht ertrug, ihre Mutter weinen zu sehen. „Wollte ich ihm nahe sein, schlich ich mich in sein Zimmer, in dem alles unverändert blieb, und blätterte in seinen Schulheften“, erinnert sie sich.
Über den Tod zu schweigen, ist fatal, urteilt die Kinderpsychologin Veronika Rottensteiner. Sie arbeitet in einer Privatpraxis in Bozen. Im Regal hinter ihr stehen Rücken an Rücken bunte Bücher, die vom Tod erzählen: Ente, Tod und Tulpe. Die besten Beerdigungen der Welt. Opas Engel. „Es ist wichtig“, so Rottensteiner, „mit Kindern über den Tod eines Angehörigen oder auch eines Haustieres zu sprechen.“ Kindgerecht und unmissverständlich, ohne ihnen das Gespräch aufzudrängen. „Mithilfe von Büchern oder Spielen kann das klappen“, sagt sie. Auf gar keinen Fall solle man Floskeln verwenden. Wird einem Kind beispielsweise gesagt, jemand sei entschlafen, kann es eine panische Angst davor entwickeln, abends einzuschlafen. „Besser ist es da, die biologische Ursache des Todes zu benennen“, empfiehlt Rottensteiner. Jemand sei krank, jemand atme nicht mehr, jemandes Herz habe aufgehört zu schlagen.
„Die Eltern müssen darauf achten, was das Kind will, auch wenn das nicht einfach sein mag.“
Rottensteiner legt sich ungern fest, es gebe keine Richtlinien, an denen man sich in einer solchen Situation orientieren könne: „Ob man das Kind mit ans Krankenbett nimmt, mit an den offenen Sarg, zur Beerdigung, hängt von vielen Faktoren ab. Vom Alter, der Reife, den Erfahrungen, die das Kind bisher mit dem Tod gemacht hat.“ Im Grunde gibt es nur eine einzige Richtlinie, die immer gültig ist: „Die Eltern müssen darauf achten, was das Kind will, auch wenn das nicht einfach sein mag“, sagt sie.
Laura, 37, sitzt in einem Lokal in Bozen, adrett gekleidet, sorgfältig geschminkt, die Finger ineinander verhakt. An der Glasfront vorbei eilen Passanten in luftiger Kleidung, mit Einkaufstüten in den Händen, lächelnd, lachend, nicht ahnend, dass wenige Meter entfernt über etwas gesprochen wird, das selten thematisiert wird: die Endlichkeit des Lebens. Und wie man damit umgeht. „Ich mache meine Eltern keinen Vorwurf“, sagt Laura. Auch wenn sie selbst anders reagierte, Jahre später, als ihre Tochter Sophie an einer Krankheit starb. Ihre Schwester Maja verabschiedete sich von ihr am Krankenbett, die Familie spricht oft über sie, sieht sich alte Fotografien an. „Der Stuhl, auf dem Sophie saß, bleibt leer“, so Laura.
Wichtig ist, dass die Eltern ihre Gefühle nicht verbergen: „Weinen sie nicht, ahmen ihre Kinder sie nach und versuchen selbst, ihre Trauer zu unterdrücken“, sagt Veronika Rottensteiner. Nach außen hin mag es dann so wirken, als komme das Kind gut mit der Situation zurecht, doch so gut wie immer sei das Gegenteil der Fall. Manchmal lassen Kinder auch die eigene Trauer nicht zu, um ihre Eltern zu entlasten – so wie Laura, die den Namen ihres toten Bruders ungern aussprach, um ihre Mutter nicht traurig zu machen. „In so einem Fall kann eine Bezugsperson außerhalb der Familie wichtig sein“, rät Rottensteiner.
Ein Kind kann in einem Moment todtraurig sein und sich wenig später an einem Spiel erfreuen. Manche fallen in Verhaltensmuster zurück, die sie längst abgelegt hatten, wie Bettnässen oder Daumenlutschen, andere lenken sich ab.
Kinder würden, und das betont sie, anders mit dem Tod umgehen als Erwachsene. Ein Kind kann in einem Moment todtraurig sein und sich wenig später an einem Spiel erfreuen. Manche fallen in Verhaltensmuster zurück, die sie längst abgelegt hatten, wie Bettnässen oder Daumenlutschen, andere lenken sich ab. „In einer solchen Situation ist alles erlaubt“, so Rottensteiner. Psychologische Hilfe sei nur dann notwendig, wenn ein Kind über längere Zeit nicht mit der Trauer fertig werde. Und auch dann empfiehlt sie zunächst ein Beratungsgespräch nur für die Eltern.
Die heute sechs Jahre alte Maja wurde nach dem Tod ihrer Schwester anhänglicher, hat Angst davor, alleine zu sein: „Ob ich wiederkomme, fragt sie mich hin und wieder, ehe ich das Haus verlasse“, so Laura. Generell stelle Maja viele Fragen: „Manchmal fragt sie mich noch, ob Sophie nicht mehr komme.“ Es sind unbequeme Fragen, Fragen, die schwierig zu beantworten sind. Und trotzdem Fragen, die beantwortet werden müssen.
Laura tut es gut, über den Tod ihres Bruders und ihrer Tochter zu sprechen; mit der Trauer kommt sie, auch wenn sie nie vollkommen verschwinden wird, mittlerweile gut zurecht. Auch weil – so paradox es sich anhören mag – mit der Trauer ein ungeheurer Hunger nach Leben einhergegangen sei. „Glückliche Momente nehme ich bewusster wahr“, sagt sie. Im Grunde ist es eine Gratwanderung zwischen tiefer Traurigkeit und berstender Lebensfreude, die nur dann gelingen kann, wenn der Tod nicht verschwiegen wird – auch nicht Kindern gegenüber.
*Namen von der Redaktion geändert
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