Werde Unterstützer:in und fördere unabhängigen Journalismus
Als das Südtiroler Wochenmagazin ff diese Woche auf seiner Facebook-Seite die allwöchentliche Umfrage mit dem Satz „71 Prozent unserer Leser lehnen eine Wiederkandidatur von Landeshauptmann Kompatscher ab“ postet, entsteht im Kommentarbereich eine Diskussion. Nicht nur das Ergebnis, auch die Herangehensweise der Umfrage wird in Frage gestellt, doch das Ergebnis der Diskussion sind verhärtete Fronten – wie so oft in den sozialen Medien. In einer Zeit, in der es zu einer Glaubensfrage geworden ist, was Wahrheit und was Unwahrheit ist, wird eine Information je nach vorheriger politischer Einstellung interpretiert. Diejenigen, die Kompatschers Wiederwahl ablehnen und sich bestätigt sehen, glauben an das Ergebnis. Diejenigen, die Kompatschers Wiederwahl befürworten, sagen sich: Glaube keiner Statistik, die du nicht selbst gefälscht hast – ein Zitat übrigens, das fälschlicherweise Churchill zugeschrieben wird und wahrscheinlich Goebbels Churchill unterjubelte.
Dass Fakten zu einer Glaubensfrage geworden sind, ist spätestens seit Trump publikumsfähig. Der Ursprung dieser Entwicklung liegt im Wandel der Medien. Früher wurden Informationen über gedruckte Bücher und Zeitschriften verbreitet, nachdem sie (größtenteils) nicht nur von einer Person geschrieben, sondern im Anschluss von einem Team überarbeitet und bestätigt wurden. Heute kann hingegen jeder Einzelne schreiben und verbreiten, was er möchte. Ob es Wahrheit oder Lüge ist, macht dabei keinen Unterschied. Durch das Internet ist die Kontrollschranke zwischen Gedanke und Publikation, zwischen Idee und Fakt aufgehoben worden. Die positive Seite dieser Entwicklung ist klar: Während früher Medien Fakten schufen – auch unter Einfluss von Politik und Wirtschaft – ist heute Informationsbeschaffung basisdemokratischer. Doch durch dieses dazugewonnene Recht erweitert sich auch die Anforderung an den Einzelnen, zwischen Wahrheit und Unwahrheit differenzieren zu können. Das Filtern der Informationen wird dem Einzelnen überlassen.
Durch das Internet ist die Kontrollschranke zwischen Gedanke und Publikation, zwischen Idee und Fakt aufgehoben worden.
Schulen müssen heute deshalb nicht nur vermitteln, wie man seriöse von unseriösen Quellen unterscheidet, sondern auch ihren Mathe-Unterricht ausbauen. Schüler sollten nicht nur beigebracht bekommen, wie man Statistiken berechnet, sondern auch und vor allem, wie man Statistiken auf ihre Wertigkeit prüft: Wie viele Personen haben an der Umfrage teilgenommen? Wie wurden die Befragten ausgewählt? Ist das Ergebnis auf seine Signifikanz geprüft worden?
Wendet man diese Fragen auf die Umfrage des Wochenmagazins ff an, dann zeigt sich ihre Schwäche deutlich. Wie viele Personen an der Umfrage teilgenommen haben, ist nirgends ersichtlich. Sind es zehn, hundert, tausend Leute? Die Befragten werden nicht stichprobenartig ausgewählt, sondern können selbst entscheiden, ob sie an der Umfrage teilnehmen möchten. Es ergibt sich also nicht nur dadurch eine statistische Verzerrung, dass hauptsächlich jene an der Umfrage teilnehmen, die sich dafür interessieren. Auch gegenüber systematischer Einflussname ist sie nicht geschützt.
Christoph Franceschini beschreibt beispielsweise in seinem Artikel „Konzertierte Aktion” auf salto.bz genau diese Einflussname vonseiten der Schützen auf ebendiese Umfrage mit dem Hinweis darauf, dass nach einem SMS-Aufruf des Vereins (mit der Aufforderung, auf die Frage „Soll Landeshauptmann Kompatscher nochmal kandidieren?“ Nein zu antworten) vier Mal mehr Personen ihre Stimme abgegeben haben, als es sonst üblich ist. Durch ihre verzerrte Grundgesamtheit und der unklaren Teilnehmerzahl ist diese Umfrage also nicht aussagekräftig, das Ergebnis ist wertlos. In einer wissenschaftlichen Publikation würde stehen: Das Ergebnis ist nicht interpretierbar. Dennoch wird ab nun das Gespenst der 71 Prozent durch die Medien und das Bewusstsein der Südtiroler geistern, oder zumindest die vage Erinnerung: War da nicht was? Die meisten Südtiroler waren ja gegen eine Wiederkandidatur von Kompatscher?
Doch nicht nur der Einzelne ist durch bessere Statistik-Kenntnisse gefragt. Es ist auch der Journalismus gefordert. Der italienische Pressekodex sieht in Artikel 10 vor, dass Journalisten sich „dafür einsetzen sollen“, dass bei Veröffentlichungen von Umfragen Informationen zur Datenerhebung und Auswertung beigefügt werden. Abgesehen davon, dass die geforderten Informationen über das Ziel hinausschießen, die Interpretierbarkeit der Statistik einschätzen zu können, wäre es sinnvoll, wenn sich ein Journalist nicht nur dafür „einsetzen“ soll, sondern diese Vorschläge auch in seiner Arbeit umsetzt – konkret bei Statistiken und indirekt in der Berichterstattung. Wenn das Südtiroler Wochenmagazin ff in Zukunft also auch methodische Hinweise bei ihren Umfragen mitveröffentlicht. Oder beispielsweise die Dolomiten, wenn sie in ihrer Berichterstattung zur Gewalt die Relationen erklären würde. Dass man also nicht weiß, ob es in Südtirol gefährlicher geworden ist, weil die aktuellsten Zahlen aus dem Jahr 2012 stammen – es aber so wirkt, weil sie seit der Stopp-der-Gewalt-Aktion jede einzelne Gewalttat medial aufarbeiten, anstatt wie früher bei wenigen besonderen Fällen einen Artikel zu veröffentlichen (= statistische Verzerrung!).
Schon in der Antike wurden Volkszählungen durchgeführt. Später wurden Erhebungen als Staatsgeheimnis verschlossen gehalten und erst seit dem 19. Jahrhundert sind amtliche Erhebungen öffentlich, sodass sowohl die Regierung, als auch Bürger ihre politischen Entscheidungen nicht nur aufgrund ihres Gefühls, sondern auf Basis von Fakten treffen können. Heute haben wir eine unglaubliche Vielfalt an Statistiken, die oft klar aufzeigen, wie die Realität tatsächlich aussieht. Wir müssen nur lernen, einzuschätzen, ob eine Statistik aussagekräftig ist oder nicht. Nach dem Motto: Glaube jener Statistik, die du selbst geprüft hast.
Support BARFUSS!
Werde Unterstützer:in und fördere unabhängigen Journalismus:
https://www.barfuss.it/support