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Sarah Meraner
Veröffentlicht
am 26.09.2024
LabernTheaterrezension

Raus aus der Theater-Komfortzone

Veröffentlicht
am 26.09.2024
Ab ins Theater bedeutet bei „Die 7 Tage von Mariahaim“: rein in die Geschichte. Das immersive Stück des Wiener Theaterensembles Nesterval und der Vereinigten Bühnen Bozen lockt das Publikum aus der Reserve und legt, eingebettet in historisches Ambiente, die Wunden der Vergangenheit offen.
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Ela Lankes (Cilli Stanger)©Tiberio-Sorvillo

„Rein da, hab ich gesagt. Und hinsetzen“, schreit Christl (Laura Athanasiadis) meine Gruppe an, der ich gerade im Gasthaus zugeteilt wurde. Wir seien Gäste des Bräutigams, hat man uns gesagt, hat uns ein Schnapsglas umgehängt und eine Blume angesteckt. Und nun sitzen wir in einem fast dunklen Raum mit einem Licht, das eine Tafel und ein paar alte Fotos schwach beleuchtet. Von draußen vernimmt man ein paar Geräusche. Wo sind die anderen Zuschauer:innen hin? Was machen wir hier? Wo sind wir? Das sei die Schule, sagt uns Christl, gekleidet in langem, schwarzen Gewand und ebenso düsterer Aura, fast widerwillig. Mit apathischem Blick sitzt sie eine gefühlte Ewigkeit vor uns. „Es ist schon richtig so, was passiert ist“, sagt sie plötzlich. Was genau passiert ist, verrät sie nicht, aber der Giovanni habe das Unheil in die Stadt gebracht. Und der Rest „geat eich goa nix on!“

Das Theaterstück „Die 7 Tage von Mariahaim“ ist … Ich will es mal so ausdrücken: Noch nie zuvor habe ich mich im Theater so unwohl gefühlt. Zumindest die erste Stunde. Aber davon sollte man sich keinesfalls abschrecken lassen, denn Ziel des Nesterval-Ensembles ist es, die Zuschauenden die Stimmung des Dorfes spüren zu lassen – und die ist zunächst nun mal gedrückt, unheimlich und beengend. Sprich: Eigentlich möchte man nichts anderes, als die ungemütlichen Situationen aufzulösen und Fragen auf seine Antworten zu bekommen. Aber es braucht Geduld und Aufmerksamkeit, denn die Geschichte wird rückwärts erlebt – der siebte Tag von Mariahaim ist also der erste, den die Zuschauer:innen erleben.

Das klingt alles konfus? Ist es auch. Darum hier erstmal der Plot.

Willy Mutzenpachner als Husso Nesterval

Die Story
Bozen im Jahr 1964: Bauerstochter Anna-Lisa (Lisa Laner) befindet sich gerade mitten in den Vorbereitungen für ihre Hochzeit mit dem Knecht Giovanni (Frederick Redavid), einem „Dosigen“, also einem Nicht-Mariahaimer. Doch als zwei ungebetene Gäste im Dorf erscheinen, wird sie von ihrer Vergangenheit eingeholt. Ein grauenvolles Verbrechen, das sie begangen und versteckt hat und damit ihre Schuld holen sie ein. Innerhalb einer Woche zerfällt die Idylle, das generationenlange Schweigen bricht mit Gewalt und Hass über die Bewohner:innen herein. Giovanni wird zum Sündenbock auserkoren, der das „Unheil in die Stadt gebracht hat“ und für die Fehler und dunklen Geheimnisse der anderen gerade stehen muss.
Das Publikum verkörpert die Hochzeitsgesellschaft. Rückblickend erlebt es „Die 7 Tage von Mariahaim“, sieben Tage, die alles im Dorf verändern – und mit ihm seine Bewohner:innen.

Man kann das, was geschehen ist, nicht rückgängig machen, aber man kann versuchen zu verstehen.

Das Ensemble
Beim Stück kann es durchaus passieren, dass einem die Hand abgeleckt wird. Richtig gelesen: Das immersive Theaterensemble Nesterval aus Wien rund um Martin Finnland (künstlerische Leitung, Regie) und Teresa Löfberg (Dramaturgie, Buch) versteht sich als queeres Volkstheater, das mit seinen Inszenierungen theatrale Erlebnisräume schafft und das Publikum in die Performance mit einbezieht. So fragt ein nackter, im Bett liegender Mann die Besucher:innen, wie er am besten seine Angebetete verführen soll, trinkt man gemeinsam einen Schnaps oder leckt der Hofhund einem schon mal die Finger ab. Man hilft mit, den Oberkörper eines Darstellenden zu waschen, das Silber zu polieren oder muss für Spiele herhalten, die, na sagen wir mal, menschlich manchmal mehr, manchmal weniger okay sind.

Bei der Theaterperformance wird empfohlen, möglichst lange einem der Charaktere zu folgen, um tief genug in die Geschichte einzutauchen. Es finden insgesamt also mehrere Szenen statt, die sich gleichzeitig abspielen, aber man muss sich entscheiden, bei welcher man dabei sein möchte. Ich bin einige Zeit mit Mescht Hauser unterwegs – großartig gespielt vom Südtiroler Schauspieler Julian Pichler. Mescht ist Dorfoberhaupt und hat einigen Dreck am Stecken. Geschickt versteckt er seine homosexuelle Neigung, seine nicht ganz legale Schnapsbrennerei und seine mehr oder weniger absichtlichen Morde hinter seiner charmanten und gleichzeitig äußerst aggressiven Art, mit der er sich Furcht und Respekt von den Mitbewohner:innen einholt. Tiefer eintauchen kann ich auch in die Figur seiner Tante Cilli, verkörpert von Ela Lankes, die ihre Rolle unheimlich authentisch rüberbringt. Ich erlebe sie an Tag sechs und an Tag zwei und kann deutlich ihre Veränderung spüren. Die Verletzlichkeit hinter einer sehr ernsten und unnahbaren Fassade, die in Verbitterung, Kälte und Hass umschlägt, während sie schimpfend den Gästen Schnaps ausschenkt und eine Kaminwurz – die gute für die eigenen, die grobe für die anderen Leute – aufschneidet.

Das Theater des Kollektivs Nesterval gilt in Österreich und Deutschland als Garant für mutige Kult-Aufführungen, die binnen Minuten ausverkauft sind.

Rudolf Frey (Intendant der Vereinigten Bühnen Bozen)

Das Erlebnis
Das Publikum durchlebt mehrere Gefühlsebenen – durch das expressive Spiel des Ensembles, die für die Story perfekte Location (das herrschaftliche Gemeinschaftszentrum Mariaheim in Bozen-Gries), das gut durchdachte und doch schlichte Setting und nicht zuletzt durch die Unwissenheit und Neugier auf das, was geschehen ist. Das Spannende dabei: Das Publikum ist mittendrin, statt nur betrachtend, wird in Gespräche mit eingebunden. Zwischendurch hatte ich sogar das Gefühl, Teil dieser surrealen Wirklichkeit geworden zu sein. Als wären die Mariahaimer tatsächlich Menschen, denen ich begegne. Als säße ich wirklich in Cillis Stube und nicht nur in einem Bühnensetting. Das lag zum einen sicherlich am fabelhaften Schauspiel, zum anderen aber auch am Dialekt, der das Ganze nochmal nahbarer für die Gäste macht, wobei der Wechsel zwischen dem Wiener und dem Südtiroler Dialekt zwischendurch auch etwas irritierend ist, zumal ja eigentlich alle aus dem gleichen Dorf stammen.
Zwischendurch war ich neugierig, welche Szenen bei anderen Charakteren gerade passieren und hatte Angst, vielleicht irgendetwas zu verpassen. Aber vielleicht ist dieses Unabgeschlossene ja auch Teil dieser immersiven Erfahrung.

Julian Pichler als Mescht Hauser

Die Zuschauenden begeben sich – als Teil der Inszenierung – auf die Suche nach Antworten, die sie manchmal, aber nicht immer bekommen: Warum macht das Fremde Angst? Wie ist es zur Gewalt im Dorf gekommen? Welchen Stellenwert hat die Liebe? Wer trägt wirklich Schuld? Und wer ist trotz Fehler ein guter Mensch? Stück für Stück erfährt das Publikum, was geschehen ist, was dem großen Drama zu Beginn, in das es so abrupt hineingeworfen wird, vorausgegangen ist. 

Das Theaterstück kann Triggermomente auslösen: durch Gewaltszenen, das Thema Tod und Suizid, aber auch durch die große Gefühlspalette, denen man als Zuschauende:r durchaus ausgesetzt ist. Hier müssen die Besucher:innen schon mal damit rechnen, dass sie angeschrien oder mit einem furchteinflößenden Blick mehrere Minuten lang fixiert werden. Vielleicht sollte man also neben warmer Kleidung und gemütlichem Schuhwerk – denn das Theater wechselt zwischen Drinnen und Draußen – auch noch eine etwas dickere Haut mitbringen.

Die Perspektiven der einzelnen Rollen erfordern eine noch tiefere Auseinandersetzung mit ihrer persönlichen Geschichte und Wahrnehmung.

Das Resümee
„Die 7 Tage von Mariahaim“ ist eine für die Vereinigten Bühnen Bozen und das Transart Festival adaptierte Version des Stücks „Das Dorf“, das 2019 für den Nestroy-Preis nominiert wurde. Ich kann mir kaum vorstellen, wie groß der Aufwand für ein solches immersives Theaterstück tatsächlich ist. Die Perspektiven der einzelnen Rollen erfordern eine noch tiefere Auseinandersetzung mit ihrer persönlichen Geschichte und Wahrnehmung, was ich an dieser besonderen Art des Theaters sehr lobenswert finde, da es den Wert für das Publikum nochmal um einiges erhöht.

Ungewöhnlich, eindrucksvoll und düster: „Die 7 Tage von Mariahaim“ ist vielleicht nicht für alle etwas, aber auf jeden Fall für all jene empfehlenswert, die offen und neugierig sind – und die eine Geschichte nicht nur gemütlich im Theatersaal vom Sitzplatz aus sehen, sondern von Kopf bis Fuß eintauchen möchten. Das Stück ist eine Theaterexperience der etwas anderen Art, die einem auf jeden Fall sehr lange in Erinnerung bleiben wird. Ein spannendes Erlebnis, das man anschließend erst mal sacken lassen muss.

Mehr Infos gibt es hier: https://www.theater-bozen.it/production/die-7-tage-von-mariahaim/

Wichtige Infos für die Besucher:innen der Vorstellung:: https://www.theater-bozen.it/wp-content/uploads/2024/09/Wichtige-Infos-fuer-den-Besuch-der-Vorstellung-Mariahaim_NEU.pdf

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