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Die eindeutigen Verlierer des Verfassungsreferendums am 20. und 21. September zur Reduzierung der Anzahl der Parlamentarier*innen stehen bereits vor dem Wahlgang fest. Das Gewürge der Parteien zwischen Ja, Nein, Jein und Schweigen ist angesichts der vorangegangenen parlamentarischen Abstimmungen schizophren.
Seit 40 Jahren wird in Italien darüber diskutiert, die Anzahl der Parlamentarier*innen zu reduzieren. Vier parlamentarische Kommissionen haben seit 1983 erfolglos daran gearbeitet. 2019 schien man in der Zielgeraden zu sein, um die Kammer von 630 auf 400 Abgeordnete, den Senat von 315 auf 200 Senator*innen zu verkleinern.
Von den 5 Stelle initiiert, haben letztendlich so gut wie alle relevanten Parteien im Parlament für die Reform gestimmt. Bei der letzten Abstimmung dazu haben in der Kammer bei zwei Enthaltungen nur 14 dagegen gestimmt. Wird in Italien ein Verfassungsgesetz, das viermal durch Kammer und Senat muss, in den letzten beiden Durchgängen mit absoluter, nicht aber mit Zweidrittelmehrheit verabschiedet, haben ein Fünftel der Mitglieder von Kammer oder Senat, 500.000 Wähler oder fünf Regionalräte die Möglichkeit, ein Verfassungsreferendum zu beantragen, das an kein Quorum der Wahlbeteiligung gebunden ist. Bei der vierten Abstimmung in der Kammer stimmten 88% dafür, dieselben Parteien hatten im Senat aber nur eine absolute Mehrheit zustande gebracht. Also bestand die Möglichkeit eines Referendums, wie viele insgeheim hofften. Der Antrag dazu kam dann prompt parteiübergreifend aus dem Senat, mehrheitlich von Forza Italia-Abgeordneten, die um ihre Mandate bangen. Nur die Partei Fratelli d’Italia und die Autonomiegruppe beteiligten sich nicht an dieser Initiative.
Seit 40 Jahren wird in Italien darüber diskutiert, die Anzahl der Parlamentarier*innen zu reduzieren.
Und dann begann das Gewürge. 5 Stelle und Fratelli d’Italia standen zu ihrer Abstimmung im Parlament. Die Parteispitzen von Lega, Forza Italia (FI) und Partito Democratico (PD) sprechen sich (halbherzig) für die Reduzierung aus, große Teile der Parteifunktionäre sind aber dagegen. Wobei das parteipolitische Spiel zum Greifen ist. 5 Stelle und Lega, bis zum Sommer 2019 gemeinsam an der Regierung, hatten mit Überzeugung für die Verkleinerung des Parlaments gestimmt. Der PD als größte Oppositionspartei hatte bereits dreimal dagegen gestimmt. Dann ersetzte der PD die Lega an der Regierung und brachte als Morgengabe für die neuen Koalitionspartner*innen der 5 Stelle ihre Zustimmung zur Reform ein, wenn auch mit der Forderung, dass die Reduzierung der Mandate mit begleitenden Reformen gekoppelt werden müsste, vor allem mit der Verabschiedung eines neuen Wahlsystems. Diese Zusatzreformen sind bislang allerdings ausgeblieben.
Die Befürworter*innen der Reform werben vor allem mit zwei Argumenten: Mit Einsparungen und mit der Steigerung der Effizienz. Eingespart würden rund 500 Millionen pro Legislaturperiode. Immerhin etwas, aber keine exorbitante Summe. Die Zentrierung auf dieses Argument geht eher in Richtung Populismus. Die Effizienz, so die Befürworter*innen, ist eine direkte Folge der Reduzierung der Mandate, da weniger aufgeblähte Gremien schneller und gezielter arbeiten könnten.
Die Gegner, vor allem die vielen zivilgesellschaftlichen Komitees für das Nein, weisen auf die geringere Repräsentativität mit einer Reihe von Konsequenzen hin. Es werden weniger politische Kräfte ins Parlament ziehen, politische Minderheiten ausgesperrt bleiben, einige Regionen im Parlament unterrepräsentiert sein. Die hohen Kosten, wird nachgerechnet, gehen zu 42% auf die Rentenzahlungen und die hohen Ausgaben für das Personal zurück. Die Einsparungen seien deshalb kaum relevant.
Es gibt keine ideale Anzahl von Parlamentarier*innen.
Die Argumente sind durchaus nachvollziehbar, aber nicht immer stichhaltig. Es gibt keine ideale Anzahl von Parlamentarier*innen. Das betrifft auch die Repräsentativität. In Zukunft wird ein*e Abgeordnete*r 151.000 Einwohner*innen (derzeit 96.000), ein*e Senator*in 302.000 vertreten (derzeit 192.000). Italien, so die Gegner, würde zu den Spitzenreitern der mangelnden Vertretung aufsteigen. Aber wie soll man dann die 100 Senator*innen der USA einordnen oder den Umstand, dass in Indien bei 550 Abgeordneten einer davon 1,7 Millionen Inder vertritt? Außerdem darf man nicht vergessen, dass die immer wieder beschworene direkte Verbindung zwischen Wähler*innen und Gewählten in den letzten Jahrzehnten längst dem Erosionsprozess der Parteien zum Opfer gefallen sind. Die Verbindung läuft heute erfolgreich über die (neuen) Medien.
Natürlich hat die Reduzierung der Parlamentarier*innen Auswirkungen auf die interne Organisation des Parlaments (Kommissionen, Fraktionen), auf die Rechte der Opposition, auf die Wahl des Staatspräsidenten mit einem plötzlich größeren Gewicht der Regionen (weniger Parlamentarier*innen, während die Regionalvertreter*innen gleich bleiben), auf die Wahl der Verfassungsrichter*innen und anderes mehr. Vor allem fehlt ein Wahlsystem mit der Neueinteilung der Wahlkreise. Es wäre übrigens die 6. Wahlreform seit 2005. Am ehesten scheint derzeit ein Verhältniswahlsystem mit einer Fünf-Prozent-Klausel mehrheitsfähig zu sein. Aber der Weg dorthin ist noch weit.
Dies alles lässt sich aber lösen. Das parlamentarische Reglement wird logischerweise nach der Reduzierung der Parlamentarier*innen ausverhandelt, nicht vor der Abstimmung. Damit zusammen hängt die Entrümpelung von Kommissionen. Wie sollten denn sonst andere Parlamente mit weniger als 615 bzw. 315 Parlamentarier*innen arbeiten? Und davon gibt es eine ganze Menge. Dasselbe gilt für das Wahlsystem. Die Frage der politischen Vertretung von politischen Minderheiten, Regionen mit geographisch ausgeglichener politischer Repräsentanz kann problemlos nach dem Verfassungsreferendum erfolgen.
Es besteht deshalb kein Grund zur Panik. Laut Umfragen gewinnt das Ja. Es ist keine Tragödie. Es passiert auch nichts, wenn das Nein gewinnt. Es wäre jedenfalls nicht das erste Mal, dass es in Italien eines ersten, selbst mangelhaften Anstoßes bedarf, um den Reformstau zu überwinden. Der anfängliche Triumph des Populismus könnte letztlich in einen seriösen Reformprozess münden.
Gastbeitrag von Günther Pallaver (Politikwissenschaftler und Historiker)
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