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Veröffentlicht
am 24.05.2023
LabernKommentar

„Ich lasse mich nicht mehr von ihr vereinnahmen“

Veröffentlicht
am 24.05.2023
Unser Autor landete aufgrund seiner bipolaren Störung vier Mal in einem Jahr in der Psychiatrie. Dennoch schaffte er den Weg zurück ins Leben. BARFUSS bringt den zweiten Teil seiner Erfahrungen und Gedanken.
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Depression und Größenwahn: Im ersten Teil seines Erfahrungsberichts schildert unser Autor*, wie die bipolare Störung sein Leben zu prägen begann und er schließlich in der Psychiatrie landete.

Rund eine Woche nach meiner Entlassung aus der geschlossenen Abteilung geriet ich in einen Gegenpol meiner Emotionen. Mein Gehirn schaltete in den Selbstfahrmodus und meine Gedanken schienen gelähmt. Dieser neue Zustand kommt schleichend, du bemerkst ihn nicht. Dir fällt auf, dass deine Gedanken nicht mehr rasen und sich nur mehr in Zeitlupe im Karussell drehen. Dein Ich sagt dir aber, dass das nur temporär ist und dein manischer Zustand wieder zurückkommen wird. Ehe du dich versiehst, bist du  stark depressiv und nicht mehr in der Lage irgendetwas zu tun, außer zu schlafen.

In dieser heftigen Depression war ich nicht in der Lage auch nur einen Satz zu lesen. Ich hätte ihn ohnehin nicht verstanden. Auch das Sprechen in ganzen Sätzen war eine Herausforderung, mein Gehirn war einfach derart müde und langsam, dass es nicht die richtigen Worte finden konnte. Die Wohnung zu verlassen war eine schier unmögliche Aufgabe, die ich nicht mehr bewältigen konnte. Nach weiteren zwei Monaten pendelten sich meine Emotionen ein und ich fühlte mich „geheilt“. Meine Stimmung war erträglich und ich konnte mein Studium wieder aufnehmen. Das war ein schwieriger Prozess für mich. Ich hatte Angst: Angst davor, in der Welt der „Normalen“ zu versagen, keinen Platz zu finden und mit meiner Krankheit dahinzuvegetieren.

Ich hatte Angst: Angst davor, in der Welt der „Normalen“ zu versagen, keinen Platz zu finden und mit meiner Krankheit dahinzuvegetieren.

Ich biss die Zähne zusammen und hielt durch. Die Situation besserte sich und im Sommer – also fünf Monate nach „Ausbruch“ der Krankheit – ging es mir wieder prächtig. Ich hatte eine leichte Hypomanie, eine Vorstufe zur Manie. Ich begann daran zu zweifeln, dass ich psychisch krank sei. Warum denn auch, ich fühlte mich prächtig. Die Medikamente wollte ich in den Wind schießen, doch auf Drängen meiner Mutter und meiner Freundin nahm ich sie für eine kurze Zeit weiterhin ein. Die Entscheidung sie abzusetzen, hatte ich insgeheim aber schon getroffen, denn die Medikamente waren die Barriere zum frei und glücklich sein, dachte ich. Zu Beginn des Wintersemesters verzichtete ich auf sie. Einer der größten Fehler meines Lebens, obwohl er sich erst ein halbes Jahr später als solcher herausstellte.

Es herrschte Stillstand, durch und durch. Das wirkte sich auf meine Beziehung aus und so begann meine Freundin daran zu zweifeln, ob ich jemals in der in der Lage sein würde, mein Leben eigenverantwortlich zu meistern. Schließlich gipfelte mein Zustand in eine Verwirrtheit, höchstwahrscheinlich war ich in einer sogenannten Mischphase, wo Depression und Manie gemeinsam auftreten, und ich hatte eine verzerrte Sicht auf die Wirklichkeit. Daraufhin kam ich zum zweiten Mal in die Psychiatrie und mir wurde ein Antipsychotikum sowie ein Stimmungsstabilisierer verschrieben.

Dieses Mal dauerte mein Aufenthalt einen Monat und unterschied sich komplett von meiner ersten Psychiatrieerfahrung. Durch meine existenzielle Krise gepaart mit der Krankheit verfiel ich in Selbstmitleid – die Zukunftsaussichten waren düster. Wie sollte ich mit so einer schweren Krankheit ein „gutes“ Leben führen können? Ich verfiel in eine Opferrolle. Das wichtigste Merkmal dabei ist, dass man die Lebensentscheidungen anderen überlässt – man selbst kann eh nichts machen. Jedenfalls sah ich kein Licht am Ende des Tunnels und da ich mir die Welt einfach nicht mehr erklären konnte, waren meine Eltern der Ursprung allen Übels.

Jedenfalls sah ich kein Licht am Ende des Tunnels und da ich mir die Welt einfach nicht mehr erklären konnte, waren meine Eltern der Ursprung allen Übels.

Für meine prekäre und aussichtslose Situation konnte ich nichts, ich war das Opfer und die Welt sollte mich in irgendeiner Weise dafür entschädigen. Ich war überzeugt, dass nun eine höhere Macht – aufgrund meines Leidens, mir ein „gutes“ Leben in den Schoß legen sollte. Ich selbst war dabei passiv, das Einzige was ich aktiv betrieb, waren Schuldzuweisungen an meine Eltern. Sobald sie sich dessen bewusst werden würden, würden sie alles tun, um mich zu retten bzw. alles wieder geradebiegen, dachte bzw. erhoffte ich mir. Ein Beispiel dafür wie stark eine solche Krankheit durch Irrationalität gekennzeichnet ist. Für eine Genesung muss sich der Betroffene der eigenen Irrationalität bewusst werden und sich von ihr distanzieren, also der Devise „Wille zur Rationalität“ verschreiben.

Das Irrationale machte mir und meinem Umfeld gehörig Angst. Leider dauerte es viel zu lange, bis ich wieder auf den Boden der Tatsachen ankam. Die Irrationalität und „Schuldfixierung“ fand auch nach meiner Entlassung kein Ende. Ich weiß nicht, ob dies wirklich der Krankheit oder meinem Charakter geschuldet war. Ich gab mein Studium auf, denn ein „Manisch-Depressiver“ war sowieso nicht im Stande eine Karriere anzustreben und nahm eine Supplenzstelle als Grundschullehrer an. Bevor ich diese antreten sollte, geriet ich wieder in eine Manie.

Dieses Mal wollte ich einen Dokumentarfilm drehen und zwar über meinen Großvater als damaligen Schützen der deutschen Rechten und den Großvater eines Freundes, der überzeugter Faschist und Mitglied des „circolo dei ex combattenti“ und der italienischen Rechten war. Unsere Großväter waren Feinde und jetzt, zwei Generationen später, sind ihre Enkel beste Freunde. Ich war dermaßen überwältigt von diesem Einfall, dass ich wieder alle Hebel in Bewegung setzte, diese bahnbrechende Idee in die Tat umzusetzen. Alle möglichen Dokumentarfilmer wurden kontaktiert und mit der Filmidee konfrontiert, der Filmtitel sollte „Main Sudtirolo“ lauten. Nach wenigen Tagen wurde ich aber wieder paranoid und fühlte mich bedroht, denn dieser Film würde ja eine Wahrheit enthüllen, die die Situation vieler mächtiger Personen bedrohen, ja gar die politische Ordnung auf dem Kopf stellen würde.

Mit 23 Jahren saß ich auf den Trümmern meines Lebens. In nur einem Jahr verlor ich alles: mein Studium, meine Arbeit und mit meiner Freundin den Anker in meinem Leben.

Innerhalb von zwei Monate kam ich wieder in die Psychiatrie. Fakt ist, dass psychische Extremsituationen dem Gehirn und dem Verlauf der Krankheit schaden. Natürlich waren wieder meine Eltern an allem Schuld und ich war in keinster Weise bereit, Verantwortung für irgendetwas zu übernehmen. Da es eine leichte Manie war, wurde ich nach einer Woche entlassen und nahm meine Unterrichtstätigkeit wieder auf. Ich strengte mich zwar an, doch ich muss ein schlechter Lehrer gewesen sein. Dennoch übte ich fünf Monate diesen Beruf aus, ehe ich wieder manisch wurde und zum vierten Mal in einem Jahr in die Psychiatrie musste.

Die Themen blieben dieselben. Meine Freundin trennte sich in dieser Zeit von mir, da sie aufgrund der vielen Krisen keine gemeinsame Zukunft sehen konnte. Nach nur einer Woche wurde ich entlassen, da keine medizinische Notwendigkeit bestand, mich stationär zu behandeln. Auch die Manie klang rasch ab. Mit 23 Jahren saß ich auf den Trümmern meines Lebens. In nur einem Jahr verlor ich alles: mein Studium, meine Arbeit und mit meiner Freundin den Anker in meinem Leben. Ich hatte auch zu meinen Eltern kein Vertrauensverhältnis und somit verbrachte ich meine Zeit damit, die Wände anzustarren. Es dauerte nicht lange und ich entwickelte starke Suizidgedanken. Ein Suizidversuch misslang, ich landete im Krankenhaus.

Ein gelangweilter Psychiater suchte mein Bett auf. Er las distanziert einen Fragebogen herunter mit einer ganz besonders interessanten Frage: „Wollten Sie Suizid begehen?“ Natürlich verneinte ich und meinte, es sei ein Unfall gewesen. Nach zwei Tagen wurde ich in die Psychiatrie verlegt. Da ich weder manisch noch depressiv war, wurde ich auch dort rasch entlassen und meiner Misere überlassen. Der Wunsch zu sterben war omnipräsent. Ich nahm widerwillig die Medikamente, obwohl sie keine Abhilfe brachten, denn sie können höchstens Symptome lindern doch keinesfalls ein Leben maßgeblich verändern. Nach Monaten des Stillstands setzte ich sie wieder ab. Zu meiner Überraschung passierte kein Rückfall. Ich fuhr ins Ausland und wollte auch nicht wieder zurückkommen. Wie der Hauptdarsteller im Film „Leaving Las Vegas“ wollte ich mich mehr oder weniger zu Tode trinken.

Doch obwohl ich mich erfolgreich in den Alkoholkonsum stürzte, verspürte ich überraschenderweise einen Drang zu leben. Ich wollte ein besseres Leben und der Wunsch, alles dafür zu tun, bekam die Oberhand. Es war quasi eine Hymne für das Leben oder schlicht und einfach ein manischer Schub. Klar waren noch die negativen Gedanken im Hinterkopf, doch es begann ein Kampf für und nicht gegen das Leben. Mein psychischer Zustand verschlechterte sich zwar, doch diese leichte Manie motivierte mich unheimlich. Nach meiner Rückkehr kam ich das letzte Mal in die Psychiatrie. Die suizidalen Gedanken waren aber nicht mehr das Übergewicht und ich weiß noch genau meine ersten Sätze, die ich den Ärzten sagte: „Ich brauche nur noch eine Chance. Ich würde sogar die Straßen reinigen, aber ermöglicht mir nur eine weitere Chance.“

„Ich brauche nur noch eine Chance.”

Diese Chance sollte ich auch bekommen und nach zwei Monaten – mein längster stationärer Aufenthalt – wurde ich pharmakologisch gut eingestellt in die Freiheit entlassen. Die letzten zwei Jahre hinterließen natürlich Spuren und ich war definitiv nicht arbeitsfähig. Ich nahm an einem einjährigen Wiedereingliederungsprogramm teil, wo soziale und berufliche Kompetenzen gestärkt werden sollten. Eine Gruppe junger Erwachsene – alle an psychischen Krankheiten leidend – verbrachte zusammen ein Jahr und erfuhren sozusagen eine soziale Remission, auch mit drei Arbeitspraktika. Das Engagement des Psychologen, der zudem verantwortlicher Leiter war, bewegte etwas in mir, sodass ich mit kleinen Schritten immer „lebensmotivierter“ wurde. Folgendes wurde mir bewusst: „Das Leben ist ein Geschenk und ein einmaliges Spektakel. Vielleicht werden meine kognitiven Fähigkeiten im Vergleich zur Zeit vor Krankheitsausbruch nicht dieselben sein, ich werde deutlich mehr schlafen, Stimmungsschwankungen unterliegen, doch ich werde dieses Leben mit hoher Lebensqualität meistern.“

In diesem Kurs erlebte ich Empowerment und Recovery, zwei zentrale Begriffe im Genesungsprozess, wie ich lernte. Nur wer eigenmächtig Verantwortung für sein Leben übernimmt – so schwer es auch ist – kann einen Sinn darin finden. Wer das nicht tut, ist auf verlorenem Posten. Dieser Kurs vermittelte genau diese Einstellung. Der Betroffene ist aufgefordert aktiv zu werden, denn die Opferrolle trägt niemals Früchte, sondern stellt einen unfruchtbaren Boden dar, der vollkommen nutzlos ist. Nach diesem Jahr war ich ein anderer Mensch und vor allem ein anderer Betroffener. Ich schämte mich nicht mehr und war selbstbewusster. Ich begann zwar jeden Tag an meine Krankheit zu denken, doch dies brachte positive Ergebnisse. Seitdem versuche ich meine Stimmungsschwankungen zu überwachen. Ich betreibe Selbstmonitoring, um meine neugewonnene Lebensqualität zu bewahren. Es sind vor allem meine Gedanken und Gefühle, die ich dechiffriere.

Die bipolare Störung macht mir zwar Angst, doch ich lasse mich nicht von ihr vereinnahmen. Sie hat etwas Gutes, denn dadurch bin ich vorsichtig geworden.

Mit der Zeit wurde ich zu einem Experte. In der Manie hat man meist positive Gedanken und Gefühle, während sie in der Depression ausschließlich negativ sind. Ich halte in solchen Momenten immer fest, dass beide Pole vergänglich sind. Sie ändern sich auch wieder, denn in den Zeiten des Hochs will man diesen Zustand unter allen Umständen bewahren, während in der Depression man ihn schleunigst loswerden will. Zu wissen, dass er vergehen wird, führt zu mehr Entscheidungsspielraum. Die bipolare Störung macht mir zwar Angst, doch ich lasse mich nicht von ihr vereinnahmen. Sie hat etwas Gutes, denn dadurch bin ich vorsichtig geworden.

Seit 13 Jahren bin ich nun stabil, habe ein Studium abgeschlossen, bin verheiratet und habe eine Arbeit. Trotz starker Stimmungsschwankungen bin ich glücklich und dankbar eine zweite Chance erhalten zu haben. Was ich anderen Betroffenen raten würde: Hört niemals auf das Gute im Leben zu suchen. Kämpft immer weiter, denn dem Kämpfer und der Kämpferin werden sich Chancen bieten. Auf eurem Weg werden auch Blumen sein, die gilt es zu pflücken. Die Steine aber müssen gesehen werden, um nicht zu stolpern oder gar hinzufallen. Das Glück ist eine aktive Angelegenheit, vergesst das nie.

* Unser Autor möchte anonym bleiben

Hol dir Hilfe, wenn du gerade eine schwierige Phase oder eine Krise durchlebst. „Es reicht das Gefühl, dass man Hilfe braucht”, sagt Psychologin und Psychotherapeutin Sabine Cagol in einem Interview mit BARFUSS auf die Frage, wann man eine psychologische Anlaufstelle kontaktieren sollte. Adressen und Kontakte findest du auf der Website dubistnichtallein.it.

Wichtige Adressen im akuten Notfall:
→ Notruf 112
→ An den Notaufnahmen eines Krankenhauses
→ Beim Hausarzt
→ Caritas Telefonseelsorge täglich rund um die Uhr erreichbar: T. +39 0471 052 052, www.telefonseelsorge-online.bz.it
→ Young+Direct vertrauliche und kostenlose Beratung für junge Menschen: T. 0471 155 155 1, Whatsapp +39 345 081 70 56 (Montag–Freitag: 14:30–19:30 Uhr), online@young-direct.it

www.suizid-praevention.it

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