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Barbara Plagg
Veröffentlicht
am 24.03.2021
MeinungKommentar zur Gewalt gegen Frauen

Eine von uns

Veröffentlicht
am 24.03.2021
Eine Frau wird niedergestochen und überlebt. Sie muss sich nun verstecken, der Täter läuft frei herum. Schützen Gerichte und Gesetze die Opfer – oder liefern sie sie aus?
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Stellen Sie sich vor: Da schlendert ein Vater mit seinem kleinen Kind im Kinderwagen durch die Stadt, kommt plötzlich seine Frau und sticht ihn auf offener Straße nieder. Er kämpft schwerverletzt um sein Leben und überlebt wie durch ein Wunder. Die Täterin kommt in Untersuchungshaft, aber dann wieder raus, damit sie wieder arbeiten gehen kann. Nun, alte Bauernregel: Läuft die Täterin frei herum, ist das Opfer nicht sicher, weswegen sich der verletzte Vater außerhalb des Landes fern von Familie und Freund*innen verstecken muss. Das finden Familie und Freund*innen vom Opfer ziemlich schockierend und stellen sich schweigend am Prozesstag vor das Gerichtsgebäude. Woraufhin der Anwalt der Täterin eine Anfrage an das Kassationsgericht stellt, das prüfen soll, ob man bitte erstens Richter wechseln und zweitens das Verfahren nicht vielleicht nach Triest, weit weg von den nervigen Freund*innen in Bozen jedenfalls, verlegen könnte. Als Grund wird angegeben, dass sich der Richter möglicherweise von den stillen Demonstrant*innen in seinem Urteil beeinflussen lässt, aber vor allem soll sich die Täterin doch bitte „serena“ im Gerichtssaal fühlen.

Schrecklich und kafkaesk, nicht wahr, aber ich kann Sie beruhigen — so hat es sich nicht zugetragen und so würde es sich vermutlich auch nicht zutragen. Außer natürlich Sie verändern ein entscheidenes Detail in der Geschichte und tauschen die Geschlechter von Opfer und Täter: Dann ist es die Geschichte von M.C., die sich genau so auf den Straßen von Südtirol und im Bozner Gericht zugetragen hat. Und M.C. ist nicht die Einzige, der es so ergeht.

Nun ist vor dem Gesetz theoretisch bekanntlich jede*r gleich, aber weil wir Menschen, die das Gesetz praktisch umsetzen, immer auch das Produkt unserer Kulturgeschichte und Sozialisation sind, sind einige gleicher. Das Differenzierungsverbot besagt zwar, dass Geschlecht und auch solche Dinge wie Herkunft, Sprache usw. für die Rechtssprechung irrelevant sind, aber der Weg hin zum Urteil ist eben nicht frei von Vorurteil. Paola Di Nicola, eine italienische Richterin, merkt dazu an, dass wir gleichzeitig Opfer und Täter der Stereotypen sind, die uns von Kindheit an prägen und die wir natürlich auch in den Gerichtssälen reproduzieren.

Zugespitzt endet das dann wie neulich in Mailand, wo der Täter, der die Frau misshandelte, mildernde Umstände bekam, weil die Frau mehrere Beziehungen zu anderen Männern unterhielt. In Neu-Delhi hingegen befand ein Gericht, dass ein Vergewaltigungsopfer nicht laut genug „NEIN“ gerufen hat, in Kanada wurde das Opfer vor Gericht gefragt, warum es denn während der Vergewaltigung nicht einfach die Beine geschlossen hätte, in Spanien befand man 2016 ebenso, dass ein junges Mädchen während einer Vergewaltigung durch 5 Männer zu „tatenlos“ geblieben war, und tagtäglich wird Frauen, die Gewalt anzeigen, erstmal nicht geglaubt. Weil, wie die Richterin Di Nicola feststellt, Gewalt gegen Frauen ein jahrtausendealtes Phänomen ist, das zu unserer Kultur gehört wie Pizza und Pasta, finden wir immer noch zahlreiche Gründe, sie geschickt zu rechtfertigen.

Wollen wir wetten, dass dieselben Menschen, die finden, dass ein alkoholisiertes Opfer selbst schuld ist, einen betrunkenen Täter entschuldigen?

Wenn Sie jetzt glauben, das ist doch alles Käse von gestern, dann dürfen Sie sich hier an einem aktuellen Urteil aus dem Jahr 2021 aus Frankreich „erfreuen“, wo eine Frau ernsthaft schuldig gesprochen wurde, weil sie ihrem gewalttätigen Mann Sex verweigert hatte. Ein nicht geringer Prozentsatz von Leser*innen wird in den hier aufgezählten Urteilen allerdings kein Problem erkennen können: Laut einer ISTAT-Umfrage sind 24 Prozent der Befragten der Meinung, Frauen würden durch ihren Kleidungsstil einen sexuellen Übergriff provozieren*, 15 Prozent geben den misshandelten Frauen eine Mitschuld, wenn diese bei der Tat betrunken waren. Wollen wir wetten, dass dieselben Menschen, die finden, dass das Opfer selbst schuld ist, wenn es alkoholisiert ist, einen betrunkenen Täter entschuldigen, weil der im alkoholisierten Zustand nicht wusste, was er tat? Doppelmoral ist bekanntlich so würdelos wie stupide.

Nun hat Gewalt gegen Frauen ja viele Gesichter und nur manchmal trägt sie ein für alle gut sichtbares blaues Auge. In ihrer perfidesten Form steht sie schön frisiert und gut dressiert in Anzug und Krawatte in den Gerichtssälen, Führungsetagen und Entscheidungspositionen dieser Welt, wo sie den Frauen freundlich lächelnd Recht, Schutz und Gleichstellung abspricht und gleichzeitig irgendwas von „Gerechtigkeit“ und „Norm“ faselt. Und gerade das macht die Gewalt so stark und beständig: Dass sie als subtile Form der Diskriminierung alle Bereiche — und auch die Gerichtssäle — als akzeptabler gesellschaftlicher Konsens unterwandert und uns glauben lässt, es sei „normal“ und mehr noch: richtig und gerecht.

Arthur Schnitzler hat mal gesagt, wenn der Haß feige wird, geht er maskiert in Gesellschaft und nennt sich Gerechtigkeit. Und solange das Patriarchat um Erhalt bemüht ist, tut es das auch. Weil „Kultur“ nicht deckungsgleich mit „Gerechtigkeit“ ist, wurden im Laufe der Geschichte je nach kultureller Auslegung im Namen der Gerechtigkeit bekanntlich munter die abscheulichsten Verbrechen begangen. Und die Gesetzeslage, die uns bis heute erfolgreich glauben lässt, es sei gerecht, wenn ein Opfer sich verstecken muss, ist vor allem eines: ein überheblich gewordenes System, das sich seiner Geschlechterschieflage so sicher fühlt, dass es sich noch nichtmal ernsthaft um Maskierung bemühen muss. Ist die Diskriminierung inhärenter Teil des Systems und wird von seinen Mitgliedern als Norm empfunden, ist das Aufbrechen schwer — denn die Norm richtet sich bekanntlich nicht selbst.

Solange es als normal empfunden wird, dass ein Opfer sich verstecken muss und wir insgeheim überzeugt davon sind, dass es vielleicht auch ein bisschen mitschuldig ist, sollten wir jedenfalls ehrlicherweise Hannah Arendts Aussage „Keiner hat das Recht zu gehorchen“, mit der wir aktuell das faschistische Relief am Bozner Gericht überstrahlen, mit einem anderen Arendt-Zitat ersetzen: „Wo alle schuld sind, ist es keiner.“ Einzig tröstlich bleibt die Tatsache, dass es immer mehr Frauen in Richter- und Anwaltspositionen gibt — Positionen, die unseren Urgroßmüttern übrigens noch verboten waren —, die Justitia die Binde von den Augen nehmen, damit alle sehen, welchen Humbug die Kultur der Stereotypen uns in den Waagschalen des Gerichts serviert.

Kein Gericht kann der niedergestochenen Frau die Gewalt ersparen, die sie erleiden musste — aber es kann den würdevollen Rahmen einer kompromisslosen Aufarbeitung und des maximalen Schutzes bieten.

Letztlich, was ist schon gerecht? Kein weltliches Gericht kann Barbara wieder zurückbringen, kann den schrecklichen Tod von Fatimas ungeborenen Kind verhindern oder Agitu ersparen, dass sie – ich schaffe es kaum, die Worte zu tippen – sterbend vergewaltigt wurde. Kein weltliches Gericht kann diese Täter je richten. Es hat wenig mit Gerechtigkeit zu tun, die Fälle der zig toten, vergewaltigten und missbrauchten Frauen tagtäglich durch die juristische Standardwalze durchzujubeln, das Ganze mit der Standardberichterstattung („Einzeltäter“, „Familientragödie“) zu garnieren und ein paar Anzugträger mit Standardfloskeln („unzurechnungsfähig“, „Affekt“, „reumütig“) vor Kameras zu stellen, ohne dass sich ernsthaft etwas ändert. Nein, kein Gericht kann der niedergestochenen Frau die Gewalt ersparen, die sie erleiden musste — aber es könnte, nein, es MÜSSTE ihr den würdevollen Rahmen einer kompromisslosen Aufarbeitung und des maximalen Schutzes bieten. Es wäre das Allermindeste und eine deutliche Botschaft an alle Frauen in Italien: Euer Schutz ist wichtig und wird ernstgenommen.

112 Frauen sind 2020 ermordet worden, viele mit ihren Kindern. In Italien haben offiziell sechsmillionensiebenhundertachtundachtzigtausend Frauen Zeit ihres Lebens sexuelle oder physische Gewalt erlebt. Es sind kaum drei Monate in diesem neuen Jahr vergangen und Frauen und Kinder wurden wieder getötet, unzählige verletzt. Die Täter all dieser Vergehen sitzen irgendwo in den Gefängnissen oder laufen draußen frei rum, bei guter Führung und geschickter Verhandlung sitzt man schon mal für saftige Steuervergehen länger. Für Frauen in Gewaltsituationen ist es schwer genug, einen Ausweg zu finden. Noch schwerer wird es, wenn Justitias blinde Botschaft ist: Wir können eigentlich nicht viel für dich tun und außerdem bist du vielleicht auch selbst ein bisschen mitschuldig.

Gerade im letzten Jahr hat mit der Pandemie auch die Gewalt zugenommen, und die Selbstmorde von Frauen haben laut dem Sozialforschungsinstitut Eures um unfassbare 90,3 Prozent zugenommen. Aus der Vergangenheit wissen wir, dass dem Großteil (81 Prozent) aller weiblichen Suizidfälle Missbrauchs- und Gewalterfahrungen vorausgehen. Aber während Frauen täglich vergewaltigt und missbraucht werden, wird nur ein kleiner Prozentsatz aller Vergehen angezeigt — allein, wen wundert’s? Sich während oder nach der Gewalt der Willkür eines (Rechts)systems auszusetzen, bei dem man nicht nur Geld, sondern auch Glück haben muss, weil man auch ganz schön Pech haben kann, ist im Individualfall kein zwingend logischer Schluss für die Opfer und übersteigt oft einfach die eigenen Kräfte.

Alles in allem sollte die Gesellschaft langsam aber sicher froh sein, dass die Frauen „nur“ Gerechtigkeit und nicht Rache wollen. Grund genug hätten sie dazu jedenfalls. Und man muss sich fragen, wo bleibt der kollektive Aufschrei? Wo bleibt die gesellschaftliche Wut, wenn die Gerichte unseres Staates den Täter schützen und das Opfer bestrafen und dabei unverschämt von Gerechtigkeit schwafeln?

Es kann nicht sein, dass ein Opfer sich verstecken und die Zivilgesellschaft schweigen muss, damit ein Täter entspannt (“sereno”) vor Gericht sitzen kann. Denn wissen Sie, was wirklich unentspannt ist? Niedergestochen zu werden. Zehn mal ein Messer in den Bauch, den Brustkorb und den Hals gestochen zu bekommen, geführt von einer Männerhand voller Hass. Und zusammenbrechend nicht zu wissen, ob er das Leben des kleinen Kindes, das neben einem im Kinderwagen sitzt, auch noch auslöschen wird. Und jetzt läuft er hier frei herum — ohne sich irgendwo melden zu müssen, ohne kontrolliert zu werden — und die Frau muss sich verstecken. Das ist inakzeptabel. Und mit jedem Versuch, den Widerstand der Zivilgesellschaft zum Schweigen zu bringen, werden wir lauter. Denn wir machen das ab jetzt so: Nehmt ihr uns eine, antworten wir alle. Und zwar jedes. verdammte. Mal.

Aufruf von GEA – Centro d’Ascolto Antiviolenza / Kontaktstelle gegen Gewalt Casa delle donne / Frauenhaus Bozen:

Am 25. März um 15 Uhr erheben wir auf dem Gerichtsplatz in Bozen unsere Stimmen, um von der Justiz eine Antwort zu fordern. Wir verlangen, dass ein greifbares Zeichen gegen männliche Gewalt an Frauen gesetzt wird, für M.C. und alle anderen Frauen, die von Gewalt betroffenen sind. Zwei Jahre nach dem versuchten Mord soll nun endlich und ohne weitere Aufschiebung ein Urteil gefällt werden. Es ist an der Zeit, dass der verdrehten Welt in der M.C., das Opfer, abgeschieden und versteckt leben muss und der Täter hingegen seine Freiheit genießt, ein Ende gesetzt wird. Wir laden alle ein, am Donnerstag, den 25. März 2021 um 14:45 Uhr am Gerichtsplatz mit uns gemeinsam in einer unparteiischen Demonstration für die Gerechtigkeit teilzunehmen.

Für Infos: Verein GEA – 0471 513399

info@casadelledonnebz.it

* Frauen werden übrigens in jeder Klamotte vergewaltigt, im Pyjama und in der Trainerhose ebenso wie in Bikini und Burka.

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