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Ich muss gleich am Anfang ein Geständnis machen: Auch ich besitze einen Mondkalender. Jeden Morgen reiße ich brav ein Blatt ab und schaue, ob ich mir heute die Haare waschen oder meine Zimmerpflanzen gießen soll. Am 6. Juni zum Beispiel (Neumond) sollte ich wuchernde Pflanzen radikal zurückschneiden, einen Kuchen backen (wird locker) und Ananassaft trinken.
Jeden Morgen muss ich schmunzeln – mit den vielen Kalendertipps zu Operationen, Garten, Stall oder Hausarbeit gehöre ich offensichtlich nicht zum Zielpublikum. Wie ich stressfrei mit dem Zug zur Arbeit komme, ob die Kolleg:innen grantig sind oder Warnungen, dass das Internet heute nicht funktionieren wird, verrät mir der Mondkalender nicht. Aber nichtsdestotrotz, ich habe am 6. Juni tatsächlich einen wuchernden Oreganostrauch in meinem Garten zurückgeschnitten und getrocknet. Genau hier liegt das Geheimnis der Wirkung des Mondkalenders. Es hat aber leider rein gar nichts mit dem Mond zu tun.
Muster überall
Unser Gehirn ist darauf trainiert, Muster zu erkennen. Dieses assoziative Lernen ist essentiell für den Erfolg der Menschheit. Wir leben nämlich in einer zyklischen Welt. Die Jahreszeiten, der Vogelzug, Tag und Nacht, die Mondphasen sind nur einige der Zykeln, die unser Leben bestimmen. Wer diese Zyklen voraussagen kann, hat einen evolutionären Vorteil und so hat sich unser Gehirn im Laufe der Jahre darauf spezialisiert, in der Natur Muster zu erkennen. Der Nachteil ist, dass dieses System manchmal zu gut funktioniert und wir Muster erkennen, wo keine sind. In der Psychologie nennt man das Phänomen Apophänie oder „Patternicity“. In unserer Evolution war das richtige Erkennen von Mustern so erfolgreich, dass dadurch der Nachteil, der durch die Falscherkennung entsteht, nicht so sehr ins Gewicht fällt. Als Nebenprodukt führt das zu Abergläubigkeit und auch zum Glauben an die Macht des Mondes.
Unser Gehirn sieht die Wirkung des Mondes und versucht intuitiv, davon auch auf andere Phänomene zu schließen und sie dadurch zu erklären.
Die Mondphasen sind tatsächlich eines der stärksten Muster, die unsere Natur bestimmen. Bei Vollmond gibt es auch in der Nacht Licht, wodurch mehr Tiere aktiv sind. Ebbe und Flut werden vom Mond bestimmt. Der weibliche Zyklus dauert im Durchschnitt genau eine Mondphase und ist unter gewissen Umständen mit den Mondphasen synchronisiert. Alles Effekte, die klar beobachtbar und wissenschaftlich erklärbar sind. Unser Gehirn sieht also die Wirkung des Mondes und versucht intuitiv, davon auch auf andere Phänomene zu schließen und sie dadurch zu erklären; und schon landet man beim Tipp, an Neumond wuchernde Büsche zu beschneiden.
„Confirmation Bias“ – die selbsterfüllende Prophezeiung
Wenn wir einmal ein Muster erkannt haben, ist es außerdem schwierig, es zu „verlernen“. Alle Ereignisse, die das Muster bestätigen, brennen sich in unser Gedächtnis ein und alle, die dem Muster zuwiderlaufen, werden entweder ignoriert oder durch alternative Erklärungen wegrationalisiert. Dieses Phänomen nennt sich Confirmation Bias. Wenn ich also meinen Oregano wachsen und gedeihen sehe, sage ich mir, dass der Mond dafür verantwortlich sein muss und nicht etwa, weil das Wetter so schön war. Umgekehrt würde ich – hätte sich der Strauch vom Radikalschnitt nicht gut erholt – eine andere Erklärung gefunden. So halten sich durch den Confirmation Bias auch hartnäckige Mythen über den Mond, die leicht zu widerlegen sind,
Achtsamkeit
Durch den Confirmation Bias schaffen wir uns, ohne es selbst zu merken, den Beweis für die Richtigkeit einer Annahme. Aber es gibt noch einen zweiten Grund, warum ein Leben im Einklang mit dem Mond zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung wird. Wenn sich Menschen nach den Ratschlägen des Mondes richten, werden die Tätigkeiten mit einem höheren Sinn beladen und dadurch automatisch mit mehr Sorgfalt und Achtsamkeit gemacht. „Natürlich beobachten sie dann alles weitere besonders genau und kümmern sich besser um ihre Gemüsebeete, die dadurch gut gedeihen”, sagt der Soziologe Edgar Wunder, der den Einfluss des Mondes wissenschaftlich untersucht hat.
Es gibt keinen überprüfbaren Effekt des Mondes, weder auf das
Mond-Experimente
Was die selbsterfüllende Prophezeiung noch wahrscheinlicher macht, ist der fehlende Vergleich. Wir überprüfen nämlich unsere Handlungen nicht systematisch mit Experimenten, sondern verlassen uns meist auf unser Gefühl. Um etwa den den Einfluss des Mondes auf meinen Oreganostrauch wissenschaftlich zu testen, bräuchte ich mehrere Pflanzen, die ich unter gleichen Bedingungen an verschiedenen Tagen schneide und dann die Ergebnisse genau messe. Ich müsste das Experiment dann mit anderen Pflanzen so oft wiederholen, bis ich die Ergebnisse statistisch auswerten kann.
Zum Glück haben sich seriöse Wissenschaftler:innen genau diese Mühe gemacht – und sie fanden dabei … nichts. Es gibt keinen überprüfbaren Effekt des Mondes, weder auf das Pflanzenwachstum noch auf Geburten und Operationen. Studien, die das Gegenteil behaupten, sind meistens methodisch unsauber und etwa nicht im Doppelblindverfahren durchgeführt. Das Fazit aus den wissenschaftlichen Studien bis jetzt ist klar: Ich hätte meinen Oreganostrauch ruhig einen Tag später schneiden können.
Soll ich meinen Mondkalender wegschmeißen?
Wenn also der Mond keinen Einfluss hat und lediglich mein Gehirn im Nachhinein Muster erkennt und Verbindungen herstellt, ist der Mondkalender dann nicht überflüssig? Ich finde, er hat trotzdem eine Daseinsberechtigung. Er erinnert mich an ganz alltägliche Dinge, die ich im Stress sonst oft vergesse. Ich hätte am 6. Juni wahrscheinlich den Oreganostrauch nicht gestutzt und mich nicht so intensiv um meinen Garten gekümmert, wenn ich es nicht auf dem Kalenderblatt gelesen hätte. Es stimmt zwar nicht, dass die Triebe bei Neumond langsamer nachwachsen, aber etwas mit Achtsamkeit zu machen funktioniert auch ohne den Glauben an eine höhere Macht. Im Grunde lasse ich mich von meinen Instinkten betrügen, was zugegebenermaßen nicht sehr wissenschaftlich ist. Wenn mir aber die Mechanismen dahinter wie Confirmation Bias und Mustererkennung klar sind und ich verstehe, warum der Mondkalender so gut „funktioniert“, kann ich die Vorteile genießen, ohne mich von falschen Heilsversprechungen einlullen zu lassen. Ich glaube, die meisten Menschen, die einen Mondkalender im Haus hängen haben, sehen das auch so. Gefährlich wird es erst, wenn jemand zum Beispiel eine lebensnotwendige Operation aufschiebt oder wichtige Projekte liegen lässt, weil die Mondphase nicht stimmt. Mit dem Mond ist es also genau so wie mit anderen Aberglauben: Er hat genau so viel Macht über uns, wie wir ihm zugestehen.
Deep Dive:
In diesem Artikel werden einige Mondmythen genauer unter die Lupe genommen.
Der Mond hat uns schon immer fasziniert. Einer der ersten Kurzfilme, die je gedreht wurden, handelt von einer Reise zum Mond. In dieser Version vertont von der wunderbaren Band Air.
Die nächste totale Mondfinsternis bei uns ist am 7. September 2025.
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