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Für die beiden Südtiroler war das „Fahndlstehlen“ vielleicht ein lustiges Spiel, das sie aus ihrer Kindheit kennen und im Zeltlager geübt haben. Doch das harmlose Spiel kann ganz schnell zum diplomatischen Debakel werden, wenn es sich um die nationale Fahne in einem fremden Land handelt. Das mussten die zwei jungen Männer, die mit ihren 18 und 20 Jahren eigentlich längst über das Kindesalter hinaus sind, nun in Thailand erfahren. Übermäßiger Alkoholkonsum hat sie dazu veranlasst, Nationalfahnen von ihrem Platz zu reißen und Blumentöpfe zu beschädigen. Zum Fahndlstehlen kamen durch den Alkohol also auch andere infantile Verhaltensweisen wie die Zerstörungslust dazu. Nichts besonders Überraschendes, wenn man ehrlich ist. Dass jemand im Suff – besonders, wenn er/sie jung ist – mal ein Glas zerstört, eine Blume zertritt oder ein Verkehrsschild entwendet, das dann als „Trophäe“ mit nach Hause genommen wird, passiert immer wieder. Die Hauptakteure solcher Ausschweifungen bleiben meistens unerkannt, die Konsequenzen bestehen in der Regel darin, dass sie am nächsten Tag einen üblen Kater ausstehen und mit einigen Schamgefühlen fertig werden müssen.
Nicht so bei den beiden Burschen aus Naturns. Sie hatten das Pech, von Sicherheitskameras aufgenommen und infolgedessen aufgespürt und verhaftet zu werden. Eine Haftstrafe von bis zu zwei Jahren wegen Verunglimpfung der Nationalfahne drohte. Doch bereits gestern folgte der Urteilsspruch des Gerichts: Die beiden Nachtschwärmer müssen ein Bußgeld entrichten und werden des Landes verwiesen. Ihre Familien dürfen sich also auf ein baldiges Wiedersehen freuen. Das ist eine erfreuliche Nachricht. Andererseits kann sie nicht das Bedauern mindern, das entsteht, wenn man sich gewisse Reaktionen und Kommentare ansieht, die hierzulande auf die ganze Geschichte folgten. Nicht wenige Hüter des Anstands und der Nüchternheit hätten sich offenbar gefreut, zwei junge Landsleute, die es mit dem Alkohol etwas übertrieben haben, hinter thailändischen Gittern zu sehen.
„Recht geschieht ihnen.“ – „Strafe muss sein“ – „Das Gefängnis wird ihnen guttun“. In den Reaktionen entlädt sich allerhand Schadenfreude und Zuchtmentalität: Endlich werden zwei Säufer für ihre nächtlichen Eskapaden bestraft. Die hämischen Kommentatoren reichen von erbärmlichen Möchtegern-Politikern wie Alessandro Bertoldi von Forza Italia, der den Jungs einen „netten Aufenthalt in Thailand“ wünscht, bis zu den üblichen Xenophoben, die den Staat Thailand dazu beglückwünschen, mit „respektlosen und undankbaren Ausländern“ hart ins Gericht zu gehen.
Das Ideal, das von Pseudomoralisten hochgehalten wird, heißt Anstand. Der billige Ersatz für eigenständiges Moralbewusstsein und Urteilsvermögen.
Eines ist klar: Ein Rauschzustand kann keine Straftaten entschuldigen. Und jeder, der trinkt oder andere bewusstseinsverändernde Substanzen einnimmt, muss dennoch Verantwortung für sein Handeln übernehmen können. Das gilt insbesondere für solche Menschen, die unter Alkoholeinfluss zu Grapschern werden oder ans Steuer gehen. Aber wenn zwei junge Männer, die ein paar Fahnen entwenden und Blumentöpfe beschädigen, zwei Jahre Knast in Thailand riskieren und man nichts Besseres dazu zu sagen weiß als „Peggio per loro“, dann geht es um etwas anderes. Solche Kommentare entspringen dem Rachegefühl von Pseudomoralisten, die es niemandem vergönnen wollen, über die Stränge zu schlagen. Das Ideal, das von solchen Pseudomoralisten hochgehalten wird, heißt Anstand: der billige Ersatz für wahres, eigenständiges Moralbewusstsein und Urteilsvermögen.
Genauso gerne greift man aufs Diktum zurück: Gesetz ist Gesetz. Auch im Kontext der Fahnenschändung vertraten einige diese Meinung. Wenn das thailändische Gesetz so aussieht, dann sei es richtig, dass die beiden Südtiroler danach bestraft werden. Schließlich fordere auch das italienische Gesetz für „vilipendio alla bandiera“ ein Bußgeld und bis zu zwei Jahre Haft. Dass dieses Gesetz das obsolete Überbleibsel eines überholten Nationalismus sein könnte, während andere Länder wie die USA, Kanada oder Belgien sogar das Verbrennen der Nationalfahne als eine freie Meinungsäußerung erlauben, fällt diesen Verfechtern von Law and Order nicht ein. Gesetz ist nunmal Gesetz? Nein, sondern eher: Summum ius, summa iniuria. Je genauer das Gesetz zuweilen befolgt wird, desto größeres Unrecht kann dadurch angerichtet werden.
Die moralischen Fragen, die man sich jenseits des Anstands stellen müsste, sind vielmehr folgende: Haben die beiden Südtiroler im Rausch jemanden verletzt oder in ernste Gefahr gebracht? Haben sie jemandem die Zähne ausgeschlagen? Frauen belästigt? Sind sie alkoholisiert am Steuer gesessen und haben jemanden überfahren? Letztere Straftat wird übrigens besonders in Thailand sehr häufig begangen. Das Land ist für seine kriminelle Verkehrssituation bekannt. Dafür winken allerdings zum Teil mildere Strafen als für das Entwenden einer Fahne. Was aber viele hier in Südtirol, die das maximale Strafmaß nach thailändischem Gesetz unterstützt hätten, wirklich stört, ist wohl weniger das Herunterzupfen einer Fahne. Sondern, dass mal wieder jemand über die Stränge schlägt, sich einem unanständigen Rausch hingibt. Dafür will man die beiden Naturnser bestraft sehen.
Ja, wir haben in Südtirol ein Problem mit dem Trinken. Oder vielleicht weniger mit dem Trinken an sich als mit einer ganz spezifischen Saufkultur. Das heißt, wer sich beim Ausgehen nicht am Trinken beteiligt, der wird ausgeschlossen oder schief angeschaut. Diese primitive Sozialdynamik ist auch unter dem Stichwort „Gruppenzwang“ bekannt. Man wird verurteilt, wenn man nicht trinkt. Auf der anderen Seite gibt es die Moralapostel, die umgekehrt jene gnadenlos verurteilen, die sich von Zeit zu Zeit gerne einen Rausch gönnen und dabei auch mal eine dumme Aktion starten. Genau betrachtet erliegen aber beide Seiten demselben menschenfeindlichen Denkmuster: Wer nicht dem eigenen Lebensstil folgt, wird abgeurteilt und ausgegrenzt.
Diesmal waren die nüchternen Anstandsapostel am Zug. Die jungen Säufer, die in Thailand randalierten, stellte man öffentlich an den Pranger. Gewisse Medien fanden es sogar wichtig, die Burschen bei Vor- und Nachnamen zu nennen. Die Tatsache aber, dass unter den Verteidigern von Gesetz und Ordnung sicherlich auch Leute dabei sind, die gerne in Van-Gogh-Ausstellungen gehen, Bücher von Erich Kästner lesen oder Musik von Mozart hören, ist von einer nahezu herzerwärmenden Ironie. Ein jeder von diesen Genies wusste einen ausgiebigen Tropfen Alkohol zu schätzen, oft auch bis zum autodestruktiven Exzess. Sie wussten um die Etymologie des Wortes „Eskapade“. Es bedeutet: Ausflucht. Ausbruch. Von einer Welt in die andere.
Faszinierend ist dabei die Vielfalt an Bewusstseinszuständen, zu denen unser Gehirn fähig ist. In der Regel benötigt es dazu gewisse Stimulanzien. Ob es „nur” durch die Hormone der Verliebtheit geschieht, durch das Serotonin vor dem Anblick eines mediterranen Sonnenuntergangs oder durch den Alkohol beziehungsweise durch das THC aus einem Joint: Jeder Eintritt in einen Rauschzustand ist zugleich eine Befreiung. Woraus das Individuum manchmal auszubrechen sich sehnt, ist seine eigene Angelegenheit. Manchmal wird ein künstlich alterierter Bewusstseinszustand sogar medizinisch verordnet, zum Beispiel bei psychisch angegriffenen Menschen. Ist das dann auch unmoralisch? Unanständig?
Es muss einem nur klar sein: Rausch- oder erweiterte Bewusstseinszustände haben hin und wieder Nebenwirkungen. Schwachsinnige Aktionen zum Beispiel. Die jungen Männer aus Naturns müssen nun ein Bußgeld zahlen und das ist richtig so. Noch richtiger als die Strafe des Bußgelds wäre allerdings simpler Schadensersatz. Denn jeder muss für den Schaden aufkommen, den er verursacht. Der Rauschzustand, in dem sie handelten, spielt dabei keine Rolle. Lieber sollte man nun über die Abänderung gewisser lächerlicher Gesetze und die Bedeutung von Fahnen reden. Und was die zahlreichen Pseudomoralisten in dieser Affäre angeht, will ich diesen Text mit einigen Worten von Charles Baudelaire schließen:
„Man muß immer trunken sein. Das ist alles: die einzige Lösung. Um nicht das furchtbare Joch der Zeit zu fühlen, das eure Schultern zerbricht und euch zur Erde beugt, müsst ihr euch berauschen, zügellos.
Doch womit? Mit Wein, mit Poesie oder mit Tugend, womit ihr wollt. Aber berauscht euch.”
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